Kirchhoff | Widerfahrnis | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Kirchhoff Widerfahrnis


6. Auflage 2016
ISBN: 978-3-627-02238-9
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-627-02238-9
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Deutscher Buchpreis 2016!

"Eines der schönsten Bücher des Herbstes: Bodo Kirchhoffs meisterhaft komponierte Novelle ›Widerfahrnis‹, ein poetologisches Kunststück." (Andreas Platthaus, FAZ)

Reither, bis vor kurzem Kleinverleger in einer Großstadt, nun in einem idyllischen Tal am Alpenrand, hat in der dortigen Bibliothek ein Buch ohne Titel entdeckt, auf dem Umschlag nur der Name der Autorin, und als ihn das noch beschäftigt, klingelt es abends bei ihm. Und bereits in derselben Nacht beginnt sein Widerfahrnis und führt ihn binnen drei Tagen bis nach Sizilien. Die, die ihn an die Hand nimmt, ist Leonie Palm, zuletzt Besitzerin eines Hutgeschäfts; sie hat ihren Laden geschlossen, weil es der Zeit an Hutgesichtern fehlt, und er seinen Verlag dichtgemacht, weil es zunehmend mehr Schreibende als Lesende gibt. Aber noch stärker verbindet die beiden, dass sie nicht mehr auf die große Liebe vorbereitet zu sein scheinen. Als dann nach drei Tagen im Auto am Mittelmeer das Glück über sie hereinbricht, schließt sich ihnen ein Mädchen an, das kein Wort redet, nur da ist …

Kirchhoff erzählt in seiner großartigen Novelle von der Möglichkeit einer Liebe sowie die Parabel von einem doppelten Sturz: in die Liebe, ohne ausreichend lieben zu können, und in das Mitmenschliche, ohne ausreichend gut zu sein. "Aber wo wären wir ohne etwas Selbstüberschätzung", sagt der Protagonist Reither, um sich Mut zu machen für den ersten Kuss mit Leonie Palm, "jeder wäre nur in seinem Gehäuse, ein Flüchtling vor dem Leben."

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1
Diese Geschichte, die ihm noch immer das Herz zerreißt, wie man sagt, auch wenn er es nicht sagen würde, nur hier ausnahmsweise, womit hätte er sie begonnen? Vielleicht mit den Schritten vor seiner Tür und den Zweifeln, ob das überhaupt Schritte waren oder nur wieder etwas aus einer Unruhe in ihm, seit er nicht mehr das Chaos von anderen verbesserte, bis daraus ein Buch wurde. Also: Waren das Schritte, abends nach neun, wenn hier im Tal schon die Lichter ausgingen, oder war da etwas mit ihm? Und dann käme die Zigarette, die er sich angesteckt hatte; wenn nämlich sein ewiges Metallfeuerzeug aufschnappte, beendete das Geräusch jeden Spuk, auch den von innen. Und mit der Zigarette im Mund holte Reither – genau an der Stelle hätte er den Namen eingeführt – eine Flasche von dem apulischen Roten aus einem Karton im Flur, die vorletzte. Der Wein um diese Stunde, das friedliche Laster, das einen entfernt von der Welt, all ihrem Elend, selbst was vor der eigenen Tür geschieht, muss man nicht wissen. Ja, das waren Schritte. Als würde dort wer, nachdenklich, auf und ab gehen. Reither holte noch seinen Korkenzieher und kniete sich damit im Wohnzimmer auf den Boden, weil dort erstens der Aschenbecher war und zweitens ein Buch lag, das er am frühen Abend entdeckt hatte. Aber eigentlich folgte er nur der Gewohnheit, Dinge, in die man sich hineinknien sollte, auch im Knien zu tun, wie noch im letzten Jahr in seinem Kleinstverlag, wenn er Entwürfe für neue Umschläge auf dem Parkett ausgebreitet hatte – auf einem Tisch bekam man keinen Blick für das Ganze, vom Bildschirm gar nicht zu reden. Und auch eins der wenigen Fotos von sich, die er gelten ließ, zeigt ihn kniend und mit Zigarette im Mund, beobachtet von einer Frau, wobei nur ihre Beine zu sehen sind. Alles an ihm ist zielgerichtet, der zu Boden gestreckte Arm, die im selben Winkel abwärtszeigende Zigarette, das von der Nase diktierte Profil unter noch dichtem Haar, der Blick auf das eigene Tun, mit dem Daumen etwas anzubringen an einem verrotteten Schild, das er als Umschlagmotiv gewählt hat und an das er noch letzte Hand anlegt, wie an jedes seiner Bücher in über dreißig Jahren, bis damit Schluss war. Vorigen Herbst hatte er den Reither-Verlag samt angeschlossener Miniaturbuchhandlung liquidiert und die Parterreetage in einem Frankfurter Altbau verkauft; mit dem Erlös konnte er Schulden bei Druckereien bezahlen, der Großstadt den Rücken kehren und in die Wohnung mit Blick auf Wiesen und Berge ziehen, auch wenn auf den Wiesen Ende April noch Schnee lag. Dafür war man hier, im oberen Weissachtal, der Welt des müden Lächelns entkommen: für alles, was einer wie er zweimal im Jahr gedruckt und gebunden zu bieten hatte. Reither drehte den Dorn in den Korken der Flasche. Als das eine Foto entstand – es lag gerahmt in der Küche, er konnte sich nicht entscheiden, es aufzuhängen –, hatte er noch in Gesellschaft getrunken; die ins Bild ragenden Beine gehörten einer Frau, die ihn kurz darauf verlassen sollte, ein mit Selbstauslöser gemachtes Foto, sozusagen glücklich verunglückt. Er zog jetzt am Korken, bis er blitzende Kringel sah, eine vergebliche Mühe; er war nicht bei der Sache, er war bei den Schritten vor seiner Tür. Da war jemand im Gang, eigentlich kein Aufenthaltsort, mit einer Wandfarbe, die nicht verriet, ob es Farbe an sich war oder nur der verblasste Rest einer geistlosen Farbidee. Kein Mensch ging dort grundlos auf und ab. Reither drückte die Zigarette aus und lehnte das entdeckte Buch an den bauchigen Aschenbecher – wer wollte da etwas von ihm? Und wollte er, dass jemand etwas von ihm wollte? Vielleicht; vielleicht aber auch nur, weil der Frühling ausblieb. Der Winter war nicht seine Zeit, zum vierundsechzigsten Mal schon, die paar Kleinkindwinter nicht mitgerechnet. Und der Wein gegen den Winter, der war übrig von einer Reise in seinem alten Toyota-Kombi bis nach Apulien, mit offenen Fenstern als Klimaanlage in der Augustglut. Und das Buch am Aschenbecher war nur ein Büchlein, kaum fünfzig Seiten, eindeutig selbst verlegt, die Gestaltung dafür recht ansprechend, deshalb war es ihm aufgefallen, aber auch, weil es keinen Titel hatte oder der Name auf dem Umschlag der Titel war, Ines Wolken – nie gehört und wohl erfunden. Derartige Einsendungen hatte er oft wochenlang liegen lassen, um dann die erste und letzte Seite zu überfliegen, in seiner Abneigung fast immer bestätigt. Er zog noch einmal, und nun kam der Korken mit einem fast menschlichen Laut, er füllte eins von zwei Gläsern. Das meiste Geschirr hatte er verschenkt, das übrige so unter Wert verkauft wie all seine Rechte und den alten Toyota. Mit dem Glas und dem Buch ging er zu seinem Lesesessel; den hatte er mitgenommen, auch einiges für die Küche, wenige Möbel, Kleidung für jede Jahreszeit und Bücher für jede Stimmung, da genügten hundert. Sie lagen auf dem Esstisch und waren auf dem Boden gestapelt, während alles, was er je verlegt hatte, im Jahr höchstens vier Romane, die diesen Namen verdienten, noch in einem Kellerraum lagerte. Und eigentlich wollte sich Reither jetzt setzen, aber er zog seine Schuhe aus und ging wieder in den Flur, das Glas und das Buch in Händen, er trat an die Tür. Da atmete wer auf der anderen Seite, ja räusperte sich leise, als wollte er gleich etwas sagen oder sagte es schon mit innerer Stimme, ich will gar nicht stören, nur ein paar Worte wechseln. Er holte Luft, die Luft für den ersten Schluck am Abend, wenn alles Denken in ein Schmecken mündet und die Welt für Momente auf eine Zunge passt, er nahm den Schluck, nur blieb die Wirkung aus – die Welt, das war das leise Räuspern auf der anderen Seite der Tür. Ein Blick durch den Spion, und er hätte Bescheid gewusst, sicher; aber er zog es vor, sich das Buch anzusehen. So ein Fund war nicht zu erwarten gewesen, als er an diesem Sonntag das sogenannte Kaminfoyer mit einer Wand voll hinterlassener Bücher besucht hatte, zur Zeit des Abendessens in den nahen Restaurants, um dort allein zu sein. Und zwischen begehrlich aufgemachten Liebesromanen, jeder Umschlag nur ein Leugnen, wie sehr das Begehren das Sein verbraucht, war er auf dieses Buch gestoßen und damit sofort in seine Wohnung gegangen, um keinem zu begegnen, schon gar nicht jemandem vom Lesekreis der Wallberg-Apartments, wie der ganze Komplex hieß; die treibende Kraft des Kreises, eine Frau vom Typ Floristin, kürzlich abgebildet in der Zeitung für das Tal, hatte ihm schon einmal von weitem zugenickt. Reither ging in die Küche, er holte sich etwas Bergkäse und gekochten Schinken, dazu Butter und frisches Brot; nicht dass er gern allein gegessen hätte, aber er aß auch nicht gern unter Beobachtung. Überhaupt hatte er von Anfang an keine Kontakte gesucht, nur mit zwei jungen Frauen vom Empfang unterhielt er sich bei Gelegenheit – Empfang, ein Wort aus der Eigentümerversammlung, als wohnte man in einem Hotel, und dabei ging es nur darum, dass nach Dienstschluss des Hausmeisters noch jemand ein Auge darauf hatte, wer die Anlage betrat oder verließ, was aber nicht viel kosten sollte, folglich saßen zwei am Empfang, die froh waren, überhaupt Arbeit zu haben. Beide kamen wie er aus zurückgelassenen Welten, die eine aus Bulgarien, Marina, die andere aus Eritrea, eine wahre Kinderbibelschönheit, Aster, der Stern; sie wechselten sich ab mit den Schichten, von vier Uhr nachmittags bis Mitternacht, die andere Schicht bis acht Uhr früh. Mit der blonden Bulgarin, immer eine Spur zu elegant für ihre Tätigkeit, sprach er über Prominente, die sie im Tal zu sehen geglaubt hatte, und bei der Eritreerin ging es um die Sprache selbst. Aster wollte in der fremden Sprache keine Fehler machen, während er sie ermunterte, grammatikalisch falsch, aber dafür ihrer leisen Art entsprechend zu reden. Leise drauflos, hieß sein Rat. Er begann mit dem Essen, einem Stück Käse, umwickelt mit Schinken. An Ostern, als man überall heuchlerische Verwandte sah, die irgendwen besuchten, hatte er die Abendmahlzeiten in einem der Restaurants der Anlage eingestellt; er war entweder in nahe Wirtshäuser gegangen oder hatte bei sich gegessen und nebenbei Mails an alte Weggefährten geschrieben, Freunde wäre zu viel gesagt, etwa an Buchhändler, die ihm lange die Treue gehalten hatten, solche, die manchmal noch abends an ihren früheren Läden vorbeigingen und sich über Smartphones im Schaufenster wunderten; und seiner langjährigen einzigen Mitarbeiterin schrieb er sogar einen Brief, aus dem sie leicht schließen konnte, dass es ihm an nichts fehlte im Weissachtal. Die Kressnitz, wie er sie immer noch für sich nannte, war gewissermaßen seine nächste Angehörige, nähere gab es nicht. Vor der Wohnungstür jetzt ein Geräusch wie unterdrücktes Niesen, einmal, zweimal – kein Wunder bei dem Wetter, ein Schlag aufs Gemüt und die Abwehr; die Kressnitz war auch in jedem April erkältet, in jedem, hatte aber selbst mit Schnupfen ihre Aufgabe erfüllt, die Talente zu trösten, wenn deren Wirrwarr noch zu groß war, um daraus ein Buch zu machen. Bis zuletzt hatte sie an all die Bedrückten, die sich mit Schreiben retten wollen, geglaubt, während er sie ohne Hoffnungen zum Italiener um die Ecke führte – irgendwann musste Schluss damit sein. Reither steckte sich eine neue Zigarette an, er ging wieder in den Flur. Natürlich hatten ihn viele bestärkt weiterzumachen, alle, die sein Alter für kein Alter hielten, weil sie selbst darauf zugingen, nur hatte er als Einziger dem Umstand ins Gesicht gesehen, dass es allmählich mehr Schreibende als Lesende gab. Er legte ein Ohr an die Tür. Entweder hielten jetzt zwei den Atem an, oder der Spuk war vorüber – schade eigentlich, er hatte lange keinen anderen Atem mehr gehört; also blieb ihm nur das entdeckte Buch, dem auch ein Klappentext fehlte und jeglicher...


Bodo Kirchhoff, geboren 1948, lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee. Nach seinen von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeierten Romanen "Die Liebe in groben Zügen" (FVA 2012) und "Verlangen und Melancholie" (FVA 2014) wurde Kirchhoff für seine Novelle "Widerfahrnis" (FVA 2016), die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, mit dem Deutschen Buchpreis für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres ausgezeichnet und erhielt in China den Preis für das beste ausländische Buch des Jahres 2017. Das Gesamtwerk Bodo Kirchhoffs erscheint in der Frankfurter Verlagsanstalt.

"Bodo Kirchhoff ist ein Meistererzähler; sein Widerfahrnis trifft uns alle." (Literarische WELT)

"›Widerfahrnis‹ ist schmaler, konzentrierter, vielleicht auch verspielter als die beiden Vorgängerbände ›Die Liebe in groben Zügen‹ und ›Verlangen und Melancholie‹, aber nicht weniger pathetisch in der Evokation großer Momente der Verzweiflung und des Glücks." (Süddeutsche Zeitung)

"Bei ›Widerfahrnis‹ handelt es sich um eine Liebesgeschichte, die nach nur wenigen Seiten an Fahrt gewinnt. Es ist eines der besten Bücher, die Bodo Kirchhoff je geschrieben hat." (Faust Kultur)

"Eines der schönsten Bücher des Herbstes: Bodo Kirchhoffs meisterhaft komponierte Novelle ›Widerfahrnis‹, ein poetologisches Kunststück." (FAZ)



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