E-Book, Deutsch, 512 Seiten
ISBN: 978-3-627-01138-3
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
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An einem heißen Januartag gegen Ende dieses Jahrhunderts drehte der Wind über einer kleinen Küstenstadt; zwei Wolkenmassen trieben aufeinander zu, und bald lag nur noch die Umgebung einer Kirche in der Sonne. Auf den Stufen der Kirche saß ein Priester und schaute über einen sandigen Platz, menschenleer und voller Wahlplakate. In seinen Armen ruhte eine Pekinesenhündin. Hinter seinem Rücken, im Dunkel des Eingangs, flüsterten Kinder. »Der mit dem Hündchen«, drang es nach draußen, »der mit dem Hündchen ist Father McEllis.« Ein Taxi fuhr auf den Platz. Es wirbelte Staub hoch und puderte die Gesichter der Kandidaten, wurde langsamer und fuhr wieder an, schrammte eins der Plakate und hielt. Ein Fahrgast mit Gepäck stieg aus. Er streckte die Beine und griff sich ins Kreuz, er klopfte sich sauber – für einen Einheimischen war er zu groß, auch etwas zu ungeniert. Der Priester besaß einen Blick für Menschen und Wolken; dieser Mann hatte etwa seine Größe und käme gleich in einen kurzen, aber sintflutartigen Guß. McEllis setzte die Hündin ab und erhob sich. Eine Schwester aus der fremden Gemeinde half ihm in die Soutane, und er dachte an die Hände, die er gewohnt war. Wie sie ihm Kragen und Faltenwurf richteten, den Stoff über seinen Schultern glattstrichen und verlorene Härchen entfernten, einmal im Monat, zwölfmal im Jahr. Das Taxi fuhr weiter. Die ersten Tropfen platzten in den Sand. Der Mann, der kein Einheimischer war, drehte sich um. Er trug dunkle Kleidung, hatte helle Haut – und ein gutes Gesicht, auch dafür besaß der alte Missionar einen Blick. Dann fiel der Regen wie ein Vorhang, während die Kindergemeinde zu singen begann. McEllis ging zum Altar. Nachdem er still gebetet hatte, sah er den Reisenden eintreten, durchnäßt wie ein Schiffbrüchiger und ebenso bestaunt. Einige Kinder rückten. Der Mann setzte sich an den Rand einer Bank, schob sein nasses Haar aus der Stirn und sah auf eine Leinwand, die neben der Kanzel von einem Querbalken hing. Alle Strophen des Liedes standen dort angeschrieben, fett wie ein Reklametext und in englischer Sprache. Es waren einfache Worte über die Liebe zu Jesus, es war auch eine einfache Melodie. McEllis hatte einen Moment lang den Eindruck, der Durchnäßte sei von ihren Klängen gerührt. Aber das lag an den Regentropfen, die über seine Wangen liefen. Das Lied ging zu Ende, der Priester las aus der Bibel. Er kannte die Stelle auswendig und konnte in Ruhe verfolgen, wie der Mann einen Aufkleber von seinem Gepäck zog und unter der Bank verschwinden ließ. Nur die Routine bewahrte McEllis vor einer Entgleisung – ohne auf die Gemeindeschwestern mit ihren Gitarren zu achten, setzte er seine Lesung im richtigen Augenblick fort, ohne an Gott den Schöpfer zu denken, sprach er ein schönes Gebet, ja, er hielt sogar eine Predigt, bei der die Buben und Mädchen immer langsamer mit klappenden Schulheften gegen die Hitze anfächelten. Eine einzige Frage beschäftigte ihn: Hatte dieser Reisende hier ein Ziel, oder war er nichts weiter als ein verirrter Tourist auf einer Insel mit Mord und Totschlag. Der Regen ließ nach, und er kürzte die Predigt ab, aus Furcht, der Mann könnte die Kirche vor dem letzten Amen schon wieder verlassen. Kaum war das Schlußlied gesungen, erteilte er seinen Segen, und die Schulkinder strömten ins Freie. McEllis behielt den Fremden im Auge. Er hatte sich verschätzt. Ein langer Kerl schlenderte da auf den Platz, größer als er, einer, dem jede Hose stand, sogar eine nasse. Von der Soutane befreit, die Hündin auf dem Arm, eilte der Priester an den Bänken entlang und zählte. Nach der fünften Bank blieb er stehen, bückte sich, griff unter den Sitz und entfernte den Aufkleber vom Holz. Kurt, Raffles Hotel, Singapore war dort zu lesen. McEllis ließ das Tier herunter, zog eine Pfeife hervor und trat ins Freie; er trug jetzt abgewetzte blaue Hosen, dazu ein rotes Hemd mit aufgerollten Ärmeln. Ihm fehlte noch ein erstes Wort, ein natürlicher Anfang, als er sich schon hörbar die Pfeife ansteckte. Der Mann wandte sich um, und McEllis betrachtete ihn über das Streichholz hinweg. »Theologe?« Er verwirbelte den Rauch. »Oh, ich sah nur Ihre Kleidung«, fügte er hinzu und hielt den Aufkleber in die Höhe. »Das haben Sie unter Ihrem Sitz vergessen, Mister Kurt.« Der Mann zeigte ein leichtes, auf den Lippen schwebendes Lächeln, bat um Verzeihung für den Mißbrauch der Kirchenbank und winkte dem Tier zu. Offenbar hatte er keine Erfahrung mit Hunden. »Fassen Sie sie ruhig an, Mister Kurt, sie wartet darauf. Amerikaner? » »Deutscher. Und kein Theologe. Auch wenn ich bunte Stoffe vermeide.« »Ich bin Father McEllis. Und Sie, Tourist? Oder was verschlägt einen Menschen auf diese große unruhige Insel?« Er bekam keine Antwort und machte ein paar halbentschlossene Schritte. Nach und nach ging er über den Platz, mal etwas langsamer als der Deutsche, mal etwas schneller. Kurz vor der Straße fragte er ihn, warum er gerade an diesem Ort aus dem Taxi gestiegen sei. »Der Fahrer wollte mich zu einem bestimmten Hotel bringen. Aber ich suche mir meine Hotels selbst. Außerdem schien hier noch die Sonne.« McEllis klopfte die Pfeife an einem der Plakate aus, von dem der Präsident durch eine feine Schlammschicht sah. Ein Deutscher also. Er hatte nichts gegen dieses ferne, fast schon arktische Land. Im Gegenteil. Ein früherer Mitbruder hatte nur Wissenswertes berichtet, von Fasnachtsbräuchen und philosophischen Zirkeln im Schwarzwald, auch vom sagenumwobenen Rhein. »Es heißt, die Menschen in Ihrem Land seien romantisch.« »Das weiß ich nicht. Ich lebe in Rom.« McEllis griff an seinen fein gestutzten weißen Schnurrbart und blieb stehen. Die Höflichkeit verbot ihm weitere Fragen, und er entschloß sich zu einem der plumpesten Mittel, ein Gespräch zu beleben. Er nannte den Namen der Hündin – West-Virginia – und hatte Erfolg. Der Deutsche erkundigte sich nach Rasse und Alter, fragte ihn, woher er komme, wollte wissen, was ein amerikanischer Geistlicher hier mache, war überrascht, daß es noch Missionare gab, und stellte sich plötzlich mit Lukas vor. »Mister Lukas Kurt?« »Mister Kurt Lukas.« »Dann stand auf dem Aufkleber Ihr Vorname.« »Jemand hat sich geirrt. Wie Sie.« McEllis nickte sanft. Seine erstaunlich blauen Augen bewahrten ein Lächeln und schweiften dabei etwas ab, was sogar Gemeindeschwestern nervös machen konnte; Männer sprachen nur vom Vogelblick des Priesters. »Ihr Name fordert diesen Irrtum heraus, Mister Kurt, wenn ich bei meiner Anrede bleiben darf.« »Ich habe nichts dagegen.« »Wunderbar. Katholik?« »Protestant.« »Naß wurden Sie trotzdem.« Der Deutsche schulterte sein Gepäck, eine Reisetasche. »Also dann«, sagte er mit einer leichten Verbeugung. »Was heißt also dann – wir hatten das große Glück, uns zu begegnen; die Regenwolken waren schon am Abziehen, da sprang der Wind um.« »Wenn Sie es so sehen.« Der Deutsche nahm seine Tasche wieder in die Hand, und McEllis spitzte die Lippen; beide überquerten die Straße. Sie kamen an kleinen, über Mittag geschlossenen Läden vorbei, hielten sich im Schatten und schwiegen. Schaufenster und Wände waren mit Wahlplakaten bedeckt. Die Kandidaten glichen sich in ihrem Ausdruck, als hätten sie vor der Kamera alle an Christus den Erlöser gedacht. Dem einen stand es, dem anderen nicht. Am wenigsten stand es dem Präsidenten; sein Porträt klebte sogar an staubigen Palmen. »Eine Wahl, und das bei der Hitze«, sagte der Deutsche. »Ja, eine Wahl; die erste nach zwanzig Jahren. Und im übrigen wird die Hitze noch schlimmer. Auch die Verhältnisse. Oder kennen Sie sich etwas aus hier?« »Ich weiß nur, daß der Präsident reich ist und das Volk arm. Aber das könnte auch woanders spielen.« McEllis gab ihm recht. Er nahm die Hündin unter den Arm und fächelte ihr Luft zu. Aus der raschen Bewegung heraus deutete er landeinwärts. »Sehen Sie diese zerfetzten Säcke von Wolken, Mister Kurt? Solche Bilder gibt es nur hier.« Es waren die Wolken, aus denen der Regen gefallen war; sie hingen jetzt über bewaldetem Vorgebirge. »Ich kenne kein prächtigeres Schauspiel als den Himmel über dieser Insel. Besonders nachts. Aber vielleicht machen Sie sich nichts aus Sternen.« »Aus Sternen? Doch, doch.« »Es gibt bei uns Nächte, da nimmt einem das Himmelsgefunkel den Atem. Sie können mitkommen, wenn Sie wollen.« »Und wohin?« McEllis deutete wieder landeinwärts. »Dorthin, wo ich lebe. Ich habe hier nur für jemanden die Messe gelesen und ein paar Dinge erledigt.« »Woher wissen Sie, daß ich Zeit habe?« »Wenn nicht, hätten Sie gleich widersprochen.« »Und wenn ich jetzt noch widerspreche?« Der Priester forderte ihn mit einem Blick dazu auf, während er einen Fuß vor den anderen setzte. Fast unmerklich ging er voraus. »Warum sollten Sie widersprechen? Wer mit Gepäck in die Kirche kommt, der hat Zeit.« Das war kein logischer Gedanke, aber der Deutsche folgte McEllis, folgte ihm durch eine Nebentür in einen von dünnen Lichtpfeilen durchschossenen Laden, in dem es nach Jute und Erde roch, nach Gummi, Seife und Zwiebeln; eine Frau erhob sich vom Boden. Sie holte ein prall gefülltes Einkaufsnetz hinter Kanistern hervor und übergab es dem Priester. »Mitbringsel«, erklärte McEllis. »Hier zum Beispiel« – er zeigte auf einen länglichen Packen – »Leinenschuhe. Für Father Horgan. In Weiß. Oder finden Sie das unpassend für einen alten Mann?« Der Deutsche schien ihn nicht zu hören. »Woran denken Sie gerade, Mister Kurt?« »Ich vergleiche den heutigen Tag mit dem gestrigen.« Diese Antwort verwirrte McEllis....