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E-Book

E-Book, Deutsch, 280 Seiten

Kirchhoff Eros und Asche

Ein Freundschaftsroman

E-Book, Deutsch, 280 Seiten

ISBN: 978-3-627-01143-7
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark



Was ist ein Freund, was bedeutet es, einen Freund zu haben seit Schultagen, einen besten Freund, mit dem man Reisen plant, träumt, sich über Bücher austauscht, die ersten Liebeserfahrungen teilt, später Pläne fürs Leben schmiedet, den man dann im Erwachsenwerden immer mehr aus den Augen verliert, mit dem man nur dann und wann telefoniert, ein Freund aus alten Tagen, der irgendwann seine Arbeit aufgibt, dann schließlich auch seine bürgerliche Existenz, der immer melancholischer wird, krank, und unversehens, gerade 58-jährig stirbt? Bodo Kirchhoff erzählt in Eros und Asche von seiner lebenslangen Freundschaft zu einem tragisch Begabten, der es am Ende vorzog, sich mit all seinem Wissen und all seiner Anziehung einzuschließen. Er erzählt von frühen Höhepunkten und Krisen, die bis in die Gegenwart reichen, und dem Sterben des Freundes zu einem Zeitpunkt, als die alte Intensität noch einmal Auftrieb bekam, inmitten einer eigenen intensiven Phase. Und so wurde aus einer Chronik der laufenden Erinnerungen auch eine Chronik des laufenden Geschehens, mit dem Ergebnis eines großen Freundschaftsromans, der zwei Leben ebenso bewegend verbindet, wie zwei Zeiten.
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Mehrmals in der Woche jetzt mein Trommeln mit den Fäusten gegen die Schlafzimmerwand, die auch Schlafzimmerwand der Nachbarwohnung ist, seit einigen Monaten von einem Unternehmen für Sprachreisen im Haus für ausländische Schüler und Schülerinnen angemietet, mit der Folge nächtlicher Feiern bei jeder Gelegenheit. Gut ein Dutzend junge Leute, Mexikanerinnen, Spanier, Koreaner und das Lauteste, was Italien zu bieten hat, amüsieren sich nebenan nach Kräften, bis ich trommle oder in den Flur trete und in drei Sprachen erst um Ruhe bitte, dann um Ruhe brülle und einer von ihnen den Kopf zur Tür hinausstreckt, um den Alten im Hausmantel zu beruhigen; und heute Nacht ist es besonders schlimm, dazu noch ohne jede Möglichkeit, M. davon zu erzählen. Seit unserer räumlichen Trennung, jeder noch das Leben vor sich, gab es mehr Telefonate als Begegnungen, aber nicht sehr viel mehr. Es konnte auch vorkommen, dass wir ein Jahr nichts voneinander hörten, bis völlig unerwartet ein Anruf kam. Zwischen Berlin und Frankfurt lagen Welten, die Welten zwischen dem Schlaflosen eines gewollten Exils und dem Wachhaltenden eines Schreiblebens mit Familie im Hintergrund; und für M.s Gefährtin blieb der Frankfurter Freund ein Phantom, dem sie die Todesnachricht, weil sie ihn anders nicht erreicht hatte, auf die Mailbox sprach. Schon das weiße Papier blendet, die Augen lassen den Benutzer zusehends im Stich. Als Spätfolge der Netzhautablösung ergab sich, um Jahre verfrüht, ein grauer Star, und der Eingriff (Katarakt-Operation) war nicht das versprochene Kinderspiel. Das Gewebe erwies sich als sehr weich, der Linsensack wurde schließlich mit einer gewissen Ungeduld, da andere vor der OP-Schleuse bereits auf den Eingriff warteten, herausgerissen, ausländische Schwestern – Korea, Balkan, lebensfrohe Stimmen – gaben der Operateurin Empfehlungen für das Annähen der Kunstlinse, und eine Anästhesistin spritzte ein so beruhigendes Mittel, dass es schon wieder beunruhigend war. Ein grünlicher Raum voller Frauen, alle bemüht um das Augenlicht des abgedeckten männlichen Patienten. Und das vorläufige Resultat: einer, der nicht mehr vor dem Bildschirm arbeiten kann. Daher der Rückgriff auf die Handschrift und ein Notizbuch, wie sonst nur beim Unterwegssein, erstmals erprobt auf einer der wenigen Reisen mit M. – mehr waren es nur in Träumen, da haben wir alle möglichen Orte besucht, Pamplona, wenn sie dort die Stiere loslassen, oder Segesta, wo wir allein zwischen den Säulen saßen, um uns die verbrannte Erde Siziliens; wir waren auf dem Ätna und sind durch Tanger gelaufen, wir haben in Bolivien Che Guevara gesehen, in Träumen, die nach M.s Tod einfach ausblieben. Und eine der wenigen Reisen, die nichts mit meinem Schlaf zu tun hatten, verdient diesen Namen eigentlich gar nicht und war doch eine Reise, als hätten wir unerforschte Regionen durchquert. Nach dem Abitur verbrachten wir im Spätsommer achtundsechzig einen Monat auf Teneriffa und unternahmen in dieser Zeit auch eine wirkliche Bergbesteigung, nämlich die des Pico del Teide, der sogar dem unerschrockenen Humboldt einiges abverlangt hatte. Fast ohne Proviant waren wir in leichtester Kleidung und nur mit Turnschuhen an den Füßen in Höhe der Lavafelder aufgebrochen und hatten uns, nach kurzer Rast in einer Hütte, morgens um drei bei Dunkelheit und Kälte einer spanischen Gruppe angeschlossen. Wir stolperten mehr bergauf, als dass wir gingen oder gar marschierten, bald abgeschlagen von den Spaniern, immer nur einem gewaltigen schwarzen Dreieck im Meer der Sterne entgegen, der Bergkuppe. Wir verfluchten einander und stießen uns gegenseitig Meter für Meter vorwärts, jeder sah im anderen den Anstifter zu diesem Ausflug, den wir dennoch zusammen bestehen wollten. Die letzten zweihundert Höhenmeter, einen Sandkegel hinauf, haben wir uns gegenseitig gezogen, in eisiger und schon etwas dünner Luft, und schließlich hat M. den Sonnenaufgang über dem Meer fotografiert, und wir rauchten noch eine (nur physikalisch waren es zwei), bevor es wieder hinunter ging, ein schweigsamer Abstieg. Erst abends im Hotelzimmer machte er mir eine Szene, weil ihm alles wehtat und die Nase lief, und ich konterte mit Husten und Schüttelfrost und gab die Vorwürfe zurück, worauf wir zwei ganze Tage im Bett verbrachten, jeder mit seinen Büchern, ohne ein Wort zu reden. »Wir schweigen mal wieder«, steht im Notizbuch dieser Reise unter dem Datum achter September. »Er liest seinen Trotzki und ein Buch von Jünger, Afrikanische Spiele, und unterstreicht dauernd was, ich lese meinen Genet, Tagebuch eines Diebes. Sein Schnupfen ist längst in Ordnung, aber er bleibt im Bett, raucht und blättert und sagt kein Wort.« Und der zehnte September beginnt mit den Sätzen: »Blauer Himmel, und schon beim Frühstück nähern sich zwei Pfauen. M. nennt den schöneren Marcello und fordert mich auf, dem anderen auch einen Namen zu geben, und ich nenne ihn James. Wir reden wieder.« Unser Hotel hieß Taoro und lag in einem Park mit exotischen Tieren, ein feines altes Haus, längst abgerissen. M.s wohlhabender Vater hatte die Reise für zwei Personen gebucht – die eine Person bekam alles geschenkt, die andere musste sich das Geld dafür auf dem Bau verdienen. Oft war es der Anblick von etwas Schönem, der uns wieder reden ließ, oder auch nur ein Wort, das dafür stand und M. aus der Reserve holte; und manchmal kam beides zusammen, wie in dem Namen Ravello, der schon bei unserer ersten Zigarette gefallen war. Diese Ortschaft, hoch und steil über der Küste von Amalfi, eine Reihe alter Villen und kleiner Hotels mit Sicht auf das Meer wie auf einen herabgeholten Himmel, zählt bekanntlich zum Schönsten, was das an Schönheit reiche Italien zu bieten hat; Ehepaare, die sich noch bei der Fahrt auf gewundener Straße angeschrien haben, sitzen nach der Ankunft stumm auf ihrer Terrasse, überwältigt von etwas Drittem. Und die zwei Schulfreunde saßen einige Jahre nach Teneriffa nachts auf dem Dach einer Pension und wagten es nur flüsternd, einen Streit, der sie schon seit Tagen beschäftigte, fortzusetzen. Der eine – der auf keinen Fall vorhatte, im Leben zu scheitern – sagte zum anderen – dem es letztlich nur ums Scheitern ging –, es sei idiotisch, Medizin zu studieren, wenn man sich für andere Dinge weit mehr interessiere. Werde Journalist, flüsterte ich (in meiner Erinnerung), Fotoreporter in Vietnam oder Südamerika, mach gute Bilder, zeig das Leben, retten können es auch andere. Und M., mit Zigarette im Mund, ohne sie anzustecken, sah nur aufs schimmernde Meer hinunter und stieß in kleinen Schüben Luft aus der Nase, anstelle eines Lachens; und mehr denn je erschien er mir als einer, der auch ganz ohne Licht in jeder beliebigen Richtung seinen Schatten wirft. Heute, beim wöchentlichen Einkauf, landeten Zigaretten im Korb, die unveränderten Roth-Händle (unverändert bis auf den neuen Sterbehinweis), und nun riecht der Käufer an ihnen, um etwas vom Aroma dieser Jahre aufzunehmen; ich rauche noch keine, das hat Zeit, im Moment genügt der Tabakkrümel auf der Zunge und das Haften des Papiers an der Unterlippe, wenn man zu lange zögert mit dem Anzünden. M. hatte immer Reval geraucht, aber gelegentlich auch meine Roth-Händle, vor allem in der Zeit, als wir unsere Köpfe am dichtesten zusammengesteckt hatten: für das erste und einzige Exemplar einer Schülerzeitung mit dem Bildungsnamen Hermes (heute würde man wohl an Mode denken), ein dem Gott der Diebe gewidmetes Blatt, das sich immer noch sehen lassen könnte. M. hat sich dort, keine drei Jahre nach dem Mauerbau, für zwei deutsche, mit ihren verschiedenen Gesellschaftsformen wetteifernde Staaten ausgesprochen, für einen gegenseitigen Respekt, der die deutsche Wiedervereinigung überflüssig machte – ein Gedanke, den ihm die geflüchteten Ostlehrer an der Schule noch jahrelang heimgezahlt haben. Und der damals schon schreibende Freund hat sich in einem Artikel für die nicht bevormundete Liebe ins Zeug gelegt, ohne erfahren zu haben, was Liebe ist; diese Erfahrung kam erst nach den Worten, ebenfalls wetteifernd, und in jeder Phase begleitet von den Zigaretten, in deren Päckchen immer ein Zehnpfennigstück lag, um das Günstige des Preises hervorzuheben und damit auch irgendwie, wenn man ein Roth-Händle-Raucher war, das Erschwingliche der Liebe. Die beiden Freunde gingen in der Schülerzeitungszeit mit den Töchtern eines katholischen Apothekerpaars, das sich geweigert hat, die neue Pille zu verteilen, den Mädchen aber erlaubte, mit uns in den Osterferien nach Rom zu fahren, sofern wir dort in einem Kloster Quartier beziehen würden. Und so wohnten wir mit zwei weniger frommen Schwestern bei den ganz frommen Schwestern auf dem Gianicolo, Via Fratelli Bandiera dodici, und tauschten des Nachts, internatsgeschult, hinter dem Rücken der betenden Nonnen, die Kammern. Die Betten waren schmal, die Räume waren kalt, unsere Erfahrungen beschränkten sich auf Bücher und Berichte; die befleckten Laken versuchten wir eigenhändig zu waschen und brachten sie später, noch nass und in unsere Mäntel geschlagen, zu einer Wäscherei, wo man sie nicht annehmen wollte. Daraufhin kauften wir neue Laken, die aber den Klosterlaken nicht glichen, und nannten es den Nonnen gegenüber eine Spende, il dono. Wir dachten, damit seien alle Probleme erledigt, nur fingen sie ein paar Wochen später erst an, und unsere Bergbesteigung Nummer eins fand dann in der Ebene statt: als Canossafahrt zu dem Apothekerpaar, um die Schwangerschaft einer der Töchter zu gestehen, als hätten wir sie gemeinsam verursacht. Der Erzeuger hockte mit wippendem Knie da und rauchte, und sein Freund hatte schon damals die Worte zu finden, gegenüber einem Paar, das kerzengerade auf seinem Sofa saß, zu Füßen des Mannes ein Dackel. Ich hatte vorher nur kurz angerufen und...


Bodo Kirchhoff, geboren 1948, lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee. Zuletzt erschien in der Frankfurter Verlagsanstalt sein von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeierter Roman 'Die Liebe in groben Zügen' (FVA 2012).


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