E-Book, Deutsch, Band 2, 609 Seiten
Reihe: Victorian Hearts
Kinsale Victorian Hearts 2 - Ein Gentleman zum Verlieben
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96655-676-7
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, Band 2, 609 Seiten
Reihe: Victorian Hearts
ISBN: 978-3-96655-676-7
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Nach ihrem Masterabschluss an der University of Texas war Laura Kinsale als Geologin tätig, bis sie begann, Romane zu schreiben. Ihre Bücher standen mehrfach auf der Auswahlliste für den besten amerikanischen Liebesroman des Jahres und stürmten immer wieder die Bestsellerlisten der New York Times. Die Autorin lebt mit ihrem Mann David abwechselnd in Santa Fé/New Mexico und Texas. Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre historischen Liebesromane »Eine eigensinnige Lady« (auch in einem Sammelband enthalten), »Die Liebe des Dukes«, »In den Fängen des Piraten«, die zusammen in einem Sammelband erschienen sind, und die beiden Romane »Victorian Hearts - Der Kuss des Marquess« und »Victorian Hearts - Ein Gentleman zum Verlieben«, die auch im Sammelband »Ashford - Wie küsst man einen Lord?« enthalten sind.
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Kapitel 1
London 1887
Mitten in der Nacht schreckte Leda plötzlich aus dem Schlaf hoch. Sie hatte von Kirschen geträumt. Ihr Körper vollzog den jähen Schritt vom Schlafen zum Wachen – ein unerfreulicher Schock, der ihre Lungen zum Bersten mit Luft füllte, ihre Muskeln zucken und ihr Herz hämmern ließ. Sie starrte in die Dunkelheit und versuchte, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen – und den Unterschied zwischen Schlaf und Wirklichkeit zu begreifen.
Kirschen … und Pflaumen, nicht wahr? Fruchtpastete? Pudding? Ein Likörrezept? Nein … ah, nein … die Haube. Sie schloß die Augen. Ihre Gedanken umkreisten träumerisch die Frage, ob sie wohl Kirschen oder Pflaumen wählen sollte, um das hübsche, spitz zulaufende Olivia-Häubchen herauszuputzen. Gleich Ende der Woche, sobald Madame Elise sie für ihr Tagewerk entlohnt hatte, wollte sie es kaufen.
Instinktiv hatte sie das Gefühl, daß das Häubchen ein viel ungefährlicheres und erfreulicheres Thema war als das, mit dem sie sich im Augenblick eigentlich hätte beschäftigen müssen – nämlich ihr dunkles Zimmer, seine verschiedenen noch dunkleren Ecken und die Frage, was sie wohl aus ihrem tiefen und so dringend benötigten Schlaf gerissen hatte.
Es herrschte die fast vollkommene Stille der Nacht. Nur das Ticken ihrer Uhr war zu hören und die sanfte Brise, die durch das Fenster in ihre Dachstube hereinwehte. Ausnahmsweise war ihr Zimmer vom Duft der Themse erfüllt statt von den gewohnten Gerüchen nach Essig und Branntwein. Königinnenwetter nannten die Leute diesen Frühsommer. Leda spürte ihn wie eine sanfte Liebkosung auf ihrer Wange. Wegen der Feiern zum Jubiläum Ihrer Majestät herrschte auf den Straßen noch größere Betriebsamkeit als sonst. Ungeheure Menschenmengen waren unterwegs, und aus jedem Winkel von Gottes Erde strömten die exotischsten Fremden herbei; sie trugen Turbane und Juwelen und sahen so aus, als seien sie gerade erst von ihren Elefanten gestiegen.
Aber jetzt war die Nacht völlig still. Durch das offene Flügelfenster drang genügend Licht herein, so daß Leda die Umrisse ihrer Geranie sehen konnte und auf dem Tisch daneben das duftige Gebilde aus rosa-farbener Seide, mit dem sie erst um zwei Uhr morgens fertiggeworden war. Das Ballkleid sollte um acht geliefert werden, und vorher mußte man es noch raffen und rüschen und die Stickerei in der Schleppe fertigstellen. Leda selbst mußte bis halb sieben angekleidet sein und an Madame Elises Hintertür stehen. Sie sollte das Gewand in einen Weidenkorb packen und in die Werkstatt bringen, damit die Mädchen dort es anprobieren und auf Mängel untersuchen konnten. Erst dann würde der Laufbursche es an seinen Bestimmungsort bringen.
Sie versuchte, noch ein wenig kostbaren Schlaf zu ergattern. Aber ihr Körper lag stocksteif da, und ihr Herz raste. War das ein Geräusch? Sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich etwas gehört hatte oder ob es nur der schwere Schlag ihres eigenen Herzens war. Sofort schlug ihr Herz um so schneller, und der Gedanke, daß noch jemand in dem kleinen Raum sein könne, wurde plötzlich übermächtig.
Das Gefühl des Entsetzens, das Leda angesichts dieser Möglichkeit empfand, hätte Miss Myrtle nur ein verächtliches Schnauben entlockt. Miss Myrtle war eine beherzte Natur gewesen. Miss Myrtle hätte stocksteif und nicht mit hämmerndem Herzen in ihrem Bett gelegen. Miss Myrtle wäre aufgesprungen und hätte nach dem Schürhaken gegriffen. Der hatte bei ihr immer direkt in Reichweite neben dem Kissen gelegen, denn Miss Myrtle hatte natürlich für einen Notfall wie einen unerwünschten Besucher, der sich des Nachts in ihr Zimmer schlich, vorausgeplant.
Leda jedoch war aus anderem Holz geschnitzt. In dieser Hinsicht war sie wohl eine Enttäuschung für Miss Myrtle gewesen. Zwar besaß sie einen Schürhaken, hatte aber vergessen, ihn griffbereit zurechtzulegen, bevor sie ins Bett ging. Sie war einfach zu müde gewesen – und außerdem eben die Tochter einer frivolen Französin.
Unbewaffnet, wie sie nun einmal war, blieb ihr keine andere Wahl, als sich an die Logik zu klammern und sich klarzumachen, daß sich mit allergrößter Wahrscheinlichkeit niemand außer ihr in ihrem Zimmer befand. Ganz bestimmt nicht sogar. Sie konnte den größten Teil des Raumes vom Bett aus übersehen, und der Schatten an der Wand war nichts Unheimlicheres als ihr Mantel und ihr Schirm. Die Sachen hingen an dem gleichen Haken, an den sie selbst sie vor einem Monat, nach dem letzten kühlen Maitag, gehängt hatte. Neben ihrer gemieteten Nähmaschine besaß sie noch einen Tisch und einen Stuhl sowie einen Waschständer mitsamt Schüssel und Krug. Die Umrisse der Schneiderpuppe neben dem Kaminsims jagten ihr einen flüchtigen Schrekken ein, aber als sie die Augen zusammenkniff und näher hinsah, konnte sie direkt durch das grobe Korbgeflecht des Torsos hindurchschauen und die quadratische Form des Kamingitters erkennen. All diese Dinge waren sogar im Dunkeln zu sehen; ihr Bett stand an der Wand ihrer kleinen Dachstube, so daß sie wirklich allein sein mußte, es sei denn, der Eindringling hinge wie eine Fledermaus vom Dachbalken.
Sie schloß die Augen.
Und öffnete sie wieder. Hatte dieser Schatten da drüben sich bewegt? War er nicht etwas zu lang für ihren Mantel, wie er da dicht überm Boden mit dem dunklen Holz zu verschmelzen schien? Hatte dieser finstere Fleck da nicht genau die Umrisse eines Männerfußes?
Unfug. Ihre Augen schmerzten vor Erschöpfung. Sie schloß sie wieder und holte tief Luft.
Dann riß sie die Augen wieder auf, starrte den Schatten ihres Mantels an, warf die Decke zurück, setzte sich hastig auf und rief: »Wer ist da?«
Nichts als tiefe Stille antwortete auf ihre Frage. Sie stand mit nackten Füßen auf dem kühlen, rauhen Holz und kam sich sehr töricht vor.
Mit einer kreisenden Bewegung ihrer Zehenspitzen suchte sie den dunklen Schatten unter ihrem Mantel ab. Dann machte sie vier Schritte zurück in Richtung Kamin und tastete nach dem Schürhaken. Mit diesem schweren Eisengerät in der Hand kam sie sich schon eher als Herrin der Lage vor. Sie ging auf ihren Mantel zu und stocherte mit dem Schürhaken in dem Stoff herum, bevor sie in jeder dunklen Ecke des Raumes – und schließlich sogar unterm Bett – damit herumfuhrwerkte.
Die Schatten waren absolut harmlos. Kein verborgener Eindringling. Überhaupt nichts außer Dunkelheit und Stille.
Ihre Muskeln erschlafften vor Erleichterung. Sie legte eine Hand auf die Brust, sprach ein kleines Dankgebet und prüfte noch einmal nach, ob die Tür verschlossen war, bevor sie ins Bett zurückkehrte. Von dem offenen Fenster drohte ihr keine Gefahr, denn darunter lag der schlammige Kanal, so daß man es nur über das steile Dach erreichen konnte. Trotzdem legte sie den Schürhaken dicht neben sich auf den Fußboden.
Nachdem sie sich die schon so oft geflickte Decke bis zur Nase hochgezogen hatte, versank sie wieder in einen erfreulichen Traum, in dem ein ausgestopfter Fink eine wesentliche Rolle spielte; so hübsch und elegant war das kleine Tierchen, daß es als schmucker Putz für ein Olivia-Häubchen beinahe geeigneter schien als Pflaumen und Kirschen.
Das Jubiläum trieb Hinz und Kunz in aller Herrgottsfrühe aus den Federn. Es war gerade erst hell geworden, als Leda die Hintertreppe in der Regent Street hinauftrottete, doch die Mädchen aus der Werkstatt saßen bereits alle unter den Gaslampen über ihre Nadelarbeit gebeugt. Die meisten von ihnen sahen aus, als hätten sie die ganze Nacht dort zugebracht – was wahrscheinlich auch der Fall war. Jedes Jahr um diese Zeit herrschte Hochbetrieb, das brachte die ›Saison‹ so mit sich, aber in diesem Jahr war es noch schlimmer als sonst: All die hübschen Mädchen und eleganten Matronen versanken in einer Flut von Theatervorstellungen und Einladungen zu Bällen, Partys und Picknicks anläßlich des Jubiläums. Leda blinzelte mit müden Augen, als sie und die erste Näherin die üppige Woge rosafarbenen Stoffs aus dem Korb zogen. Sie war erschöpft – alle waren sie erschöpft –, aber die Aufregung und die freudige Erwartung rissen sie mit sich. Oh, so etwas tragen zu dürfen, ein so wunderschönes Kleid! Noch einmal schloß sie die Augen und trat einen Schritt von dem Ballkleid zurück, ein wenig schwindlig vor Hunger und Erregung.
»Geh und hol dir ein Brötchen«, meinte die erste Näherin. »Ich möchte wetten, du hast dieses Kleid allerfrühestens um zwei Uhr morgens fertigbekommen, hm? Laß dir auch Tee geben, wenn du möchtest, aber mach schnell. Wir haben einen frühen Termin. Für Punkt acht hat sich eine ausländische Delegation angesagt – du sollst die bunten Seidenstoffe bereithalten.«
»Ausländer?«
»Ostasiaten, glaube ich. Mit schwarzem Haar. Also denke dran, daß du auf keinen Fall die Blässe ihres Teints betonen darfst.«
Leda eilte ins Nebenzimmer, spülte ihr Brötchen schnell mit einer süßen Tasse Tee hinunter und lief dann hinauf ins nächste Stockwerk. Die dort beschäftigten Arbeiterinnen bedachte sie nur mit einem hastigen Grußwort, dann war sie schon an ihnen vorbeigehuscht. Im dritten Stock schlüpfte sie in ein kleines Zimmer, streifte ihren schlichten marineblauen Rock und ihre Baumwollbluse ab, wusch sich mit dem lauwarmen Wasser aus einem Zinneimer und einer Porzellanschale und lief schließlich, nur mit Mieder und Unterhose bekleidet, durch den Flur.
Eins der Lehrlingsmädchen kam ihr auf halbem Weg entgegen. »Sie haben sich für die maßgeschneiderten Kleider entschieden«, sagte das Mädchen. »Die schottisch karierte Seide – weil Ihre Majestät Balmoral doch so sehr mag.«
Leda stieß einen leisen Seufzer des Verdrusses aus. »Oh! Aber ich …« Sie konnte gerade noch rechtzeitig verhindern,...