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E-Book, Deutsch, 496 Seiten
King Allein auf See
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-86648-850-2
Verlag: mareverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die Geschichte des Einhandsegelns
E-Book, Deutsch, 496 Seiten
ISBN: 978-3-86648-850-2
Verlag: mareverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Richard J. King promovierte an der Universität von St. Andrews mit einem Schwerpunkt in Meeresliteratur und Kreativem Schreiben. Derzeit ist er als Professor für Maritime Geschichte und Literatur an der SEA Education Association in Woods Hole, Massachusetts, beschäftigt. Seit 30 Jahren segelt er auf dem Pazifik und dem Atlantik, letzteren überquerte er 2007 alleine auf einem 8,7 Meter langen Segelboot.
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1.
Ann Davison und der Sinn des Lebens
Ann Davison war Pilotin, hatte kleine Flugzeuge geflogen und auf einer kleinen Insel in einem See gelebt. Dann kaufte sie gemeinsam mit ihrem Mann Frank ein altes Boot, mit dem sie um die Welt reisen wollten. Nachdem sie es zwei Jahre lang zwar mit großem Einsatz, aber bei Weitem nicht vollständig restauriert hatten, verließen sie im Mai 1949 mit dem Boot ihre Heimat England, um so ihren Gläubigern zu entkommen. Es folgte ein zwei Wochen währender Albtraum mit schlaflosen Tagen und Nächten, Motorpannen, ungünstigem Wind und fehlerhafter Navigation. Das Boot strandete auf den Felsen von Portland Bill, einer Landzunge im Englischen Kanal, an der tückische Strömungen herrschen. Ann und ihr Mann mussten es mitten in der Nacht verlassen und versuchen, sich an Land zu retten. Die Tide zog sie jedoch aufs Meer hinaus, und um sich in der tosenden See zu verständigen, mussten sie sich anbrüllen. Ihr Rettungsfloß – ein offenes Carley-Schlauchboot, dessen Außenhaut aus Segeltuch bestand und von Leinen zusammengehaltenwurde–schlugmehrfachum. Diebeidenüberstanden die Nacht und den nächsten Morgen. Dann legten die Wellen an Höhe noch zu und trugen sie weiter aufs Meer hinaus. Kälte und eine besonders starke Welle setzten Frank so sehr zu, dass er ertrank. Ann trieb benommen weiter, bis schließlich die kenternde Tide und eine Winddrehung ihr Gelegenheit gaben, das Rettungsfloß mit einem provisorischen Paddel so nah ans Land zu bringen, dass sie den Rest schwimmen und sich in Sicherheit bringen konnte. Sie schaffte es, auf die Felsen zu klettern, wo sie Hilfe fand. Allen Schrecken und aller Erschöpfung zum Trotz war ihr noch in diesem Moment klar, dass sie wieder hinaus aufs Meer musste. Ihre Beziehung zur Hochsee, so schrieb sie, konnte und durfte so nicht enden.
Einige Jahre später kaufte Davison ein hölzernes Segelboot, das – war es Zufall oder Schicksal? – den Namen Felicity Ann trug. Sie wollte die erste Frau werden, die den Versuch wagt, allein über einen der großen Ozeane zu segeln. Frank hatte auf dem Sankt-Lorenz-Golf Erfahrungen als Einhandsegler gesammelt, aber das war, bevor Ann ihn kennengelernt hatte. Ann verfolgte mit ihrem Plan weder das Ziel, ihn zu übertrumpfen, noch wollte sie damit irgendetwas beweisen oder ein wie auch immer geartetes Zeichen setzen. Sie wollte nichts Geringeres, als ihrem Leben einen neuen Sinn verleihen.
Immerhin muss sie eine gewisse Ausstrahlung gehabt haben, denn bei ihrem Versuch, die Felicity Ann zu erwerben und auszurüsten, wurde ihr vielfältige und enthusiastische Hilfe zuteil. Sie trieb ihr Vorhaben zielstrebig über mehrere Monate voran, bis sie mit 38 Jahren am 18. Mai 1952 den Hafen von Plymouth verließ, drei Jahre und einen Tag nachdem sie gemeinsam mit Frank aufgebrochen war.
Im Trubel der Abfahrt kollidierte sie um ein Haar mit einem der Begleitboote, aber schließlich blieb der Konvoi aus Presseleuten und Freunden zurück. Die Sonne ging unter. Ann versuchte, sich zu entspannen, und hielt Ausschau nach anderen Schiffen. Im Cockpit sitzend, suchte sie nach einer bequemen Stellung beim Steuern. Zum zweiten Mal ging ihre Fahrt Richtung Westen, und sie befand sich in denselben Gewässern, auf denen sie mit dem Rettungsfloß getrieben war, dieses Mal jedoch allein, auf einem eigenen Boot und mit dem festen Vorsatz, auf direktem Wege zur Insel Madeira zu segeln, eine Fahrt von etwa 1200 Seemeilen. (In Seemeilen werde ich alle Entfernungen auf See angeben, wobei eine Seemeile 1,852 Kilometer entspricht.)
Ann Davison verlässt mit der Felicity Ann den Hafen von Plymouth, 1952
Davison war sich schmerzlich bewusst, dass sie so gut wie nichts über den Motor wusste, der an Bord war, und noch weniger über das Segeln. Sie hatte eine kurze Einführung in die astronomische Navigation erhalten, die sie nach eigener Aussage ziemlich verwirrt hatte, aber da sie zu Selbstironie neigte, muss man ihr das nicht glauben. Aus ihrer Erfahrung als Pilotin kleiner Flugzeuge war sie mit dem Lesen von Karten (auch von Seekarten für die Navigation), mit Kompasspeilung und Koppelnavigation (bei der mittels Bootsgeschwindigkeit und Kurs der Standort bestimmt wird) vertraut. Sie hatte ein Radio an Bord, konnte also BBC hören und anhand der Zeitzeichen die Borduhr stellen. Selbst Kontakt mit anderen aufnehmen konnte sie hingegen nicht, auch nicht zu Schiffen, die sich in der Nähe befanden. Funkgeräte mit bidirektionaler Übertragung, Radargeräte, auf denen Schiffe und der Verlauf der Küste erkennbar werden, sowie Echolote zur Tiefenmessung steckten noch in den Kinderschuhen und standen den wenigsten Seglern zur Verfügung. Vor allem aber hatte Davison weder eine elektrische noch eine mechanische Vorrichtung an Bord, mit der die Felicity Ann sich hätte selbst steuern können. Stunde um Stunde und Tag um Tag saß sie an der Pinne. Wenn die Bedingungen es zuließen, konnte sie die Pinne fixieren oder mithilfe von Abspannleinen mit der Segelstellung kombinieren und das Boot für eine kurze Zeit sich selbst überlassen. Meistens aber musste sie, um in Ruhe essen oder schlafen zu können, beidrehen, die Segel also so einstellen, dass das Boot stabil im Wasser lag, ohne Fahrt voraus zu machen. Oder sie barg die Segel. So oder so kam sie in dieser Zeit ihrem Ziel nicht näher, wenn sie sich nicht gar von ihm entfernte.
Da die Felicity Ann ein Holzboot war, nahm sie zumindest zu Beginn einer Reise immer etwas Wasser, selbst wenn die Planken bereits gequollen waren. Nun passte sich das Holz an die Bewegungen auf dem offenen Meer an. Am fünften Tag ihrer Reise waren die Bilgepumpen verstopft, weil sie Sägemehl und andere Rückstände der Arbeiten auf der Werft aufgenommen hatten. Ann fühlte sich nicht in der Lage, die Pumpen wieder gängig zu machen. Sie war »zu stumpf vor lauter Müdigkeit«, wie sie selbst es nannte.1 Weil ihr Boot tief im Wasser lag, ließ sie sich von französischen Fischern in den Hafen von Douarnenez an der Atlantikküste der Bretagne schleppen. Anschließend setzte sie die Reise auf ungeplante Weise fort: Sie hangelte sich an der Küste entlang, zunächst bis Vigo, dann nach Gibraltar und schließlich bis nach Casablanca. Diese Taktik erwies sich als goldrichtig, denn sie ermöglichte es Davison, unterwegs Erfahrungen zu sammeln, herauszufinden, welche Vorräte sie benötigte und welche nicht, und Fehler zu machen, die ihr auf dem offenen Meer nicht hätten passieren dürfen.
Vor den Küsten Spaniens und Portugals mussten sich die Felicity Ann und ihre Skipperin von den Routen der Großschifffahrt fernhalten, die in die vielen Häfen führten, und vor dem Portugalstrom in Acht nehmen. Im dichten Nebel vor Finisterre schlug Davison notgedrungen auf eine Bratpfanne ein, weil sie vergessen hatte, ein Nebelhorn mitzunehmen. Auf dem Weg nach Gibraltar wurde sie mitten in der Nacht um ein Haar von einem Handelsschiff gerammt.
»Die Seen waren wild«, schrieb sie über sich und ihr Boot, »und wir lagen ohne einen Fetzen Segel beigedreht, als plötzlich ein Dampfer auf dem Kamm einer Woge auftauchte. Ein Dreieck aus Lichtern, dem roten Backbordlicht, dem grünen Steuerbordlicht und dem weißen Dampferlicht, kam direkt auf uns zu.«2
Davison blieb keine Zeit, ein Segel zu setzen und das Weite zu suchen. Also ging sie unter Deck, um den Motor zu starten. Solche eingebauten Schiffsmotoren für kleine Boote gab es bereits einige Jahrzehnte, aber der fünf Pferdestärken leistende Diesel musste noch von Hand gestartet werden. Davison kniete sich vor den Motor und drehte – »von meiner Angst beflügelt« – an der Kurbel, bis der Motor zum Leben erwachte.3 Dann kehrte sie ins Cockpit zurück und legte den Gang ein. Der Propeller begann sich zu drehen. Im letzten Moment gelang es ihr, dem Frachter auszuweichen. Der hatte sie vermutlich nicht einmal wahrgenommen.
»Nach diesem Ereignis gab es für mich keinen Schlaf mehr«, so Davison.4
Ann Davisons Bericht über ihre Atlantiküberquerung trägt den Titel … und mein Schiff ist so klein und gehört nach meinem Dafürhalten zu den kunstreichsten, sorgfältigsten, unterhaltsamsten und poetischsten Büchern, die je ein Einhandsegler nach der Rückkehr verfasst hat.
Diese Art von Literatur reicht zurück bis zum Freibeuter und Entdecker William Dampier und dessen Buch Neue Reise um die Welt von 1697. In der ersten Person erzählt, sind solche Geschichten über Seereisen bis heute meist ein krudes Durcheinander aus Seglerlatein und Navigation sowie Ausflügen in Anthropologie, Biologie und Geschichte, das zwischen Wunsch und Wirklichkeit kaum unterscheidet. Die Verfasser solcher Geschichten, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, legen meist einigen Wert darauf, dem Publikum zu erklären, wie viel kreative Anstrengung in das Buch eingeflossen ist; gleichzeitig erklären sie nicht ohne Stolz, dass ihnen jede künstlerische Ader abgeht, um das Erlebte zu beschreiben, wenn sie sich später hinsetzen und ihre Erlebnisse mit klammen Händen zu Papier bringen – nicht ohne den Eindruck zu erwecken, dass die Segeljacke, die hinter ihnen am Haken hängt, noch von Salzwasser trieft.
Zu segeln war früher und ist heute zu nicht geringen Teilen ein literarisches Unterfangen. Segler neigen dazu, viel zu lesen, sei es, um aus Fachbüchern Informationen zu beziehen, sei es, um sich mit Romanen die Zeit zu vertreiben. Und sie führen mindestens täglich, meist aber stündlich ein Logbuch, in das sie Wetterbeobachtungen und navigatorische Angaben eintragen. Oft führen sie zusätzlich auch ein persönliches...