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E-Book, Deutsch, 136 Seiten

Kinder Der Weg allen Fleisches

Erzählung
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-86337-083-1
Verlag: weissbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählung

E-Book, Deutsch, 136 Seiten

ISBN: 978-3-86337-083-1
Verlag: weissbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Sterben mag ich nicht - das ist das Letzte, was ich tun werde.' Mit diesem Satz von Roberto Benigni endet dieses Buch, endet eine bewegende, ja erschütternde Geschichte. Hermann Kinder erzählt, wie ihn, den sportlichen, kräftigen Mann, eines Tages eine Krankheit heimsucht und ihn bald immer vehementer überwältigt. Doch er nimmt den Kampf an und behauptet das Leben - mit einer Mischung aus Trotz, List und radikaler Offenheit. Entstanden ist eine Erzählung, in die der Autor ihn bedrängende Träume und farbige Zeichnungen einstreut, ein Buch, 'luzid und buchstäblich Atem beraubend.' (Klaus Merz).

Hermann Kinder, geboren 1944 in Thorn, lebt in Köln und Konstanz. Vielfach für sein literarisches Werk ausgezeichnet, erhielt er zuletzt den Literaturpreis der Stadt Stuttgart. Er ist Autor der Romane 'Der Schleiftrog' (1977), 'Kina, Kina' (1988) und 'Mein melaten' (2006).
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Im Amt sprang er, was er, wenn er unbeobachtet war, zwanzig Jahre lang getan hatte, nicht mehr über den breiten Fußabstreifer hinter der Eingangstür; nahm nie mehr zwei Stufen auf einmal. Es kam schlimmer: Als der Aufzug im Amt defekt war, schlief er in seinem Dienstzimmer und hoffte, anderntags werde der Aufzug ihn wieder vor den Treppen retten. Die Todesvarianten beim Lungenemphysem sind, las er im Netz, Herzinfarkt oder Ersticken. Der einzige Kollege, dem er davon erzählte, antwortete: Ich habe einen Nachbar, der steht immer am Fenster und sagt: Ich habe ein Lungenemphysem und warte auf das Ende. Ging er mit anderen die Amtstreppen hinauf, ließ er sich, damit es nicht so auffiel, dass er beim Gehen, erst recht atemlosen Steigen nicht mehr reden konnte, eine Frage einfallen, die die Kollegen über die Stockwerke hin in einen Monolog riss. Auf den Treppenkehren legte er den Kollegen die Hand auf den Arm und fragte so intensiv, dass sie stehen blieben und er wieder zu Luft kam. Sein Atemluftstoßmessgerät stagnierte bei der Lungenleistung eines 83-Jährigen.

Langsam war er geworden. Das hatte Vorteile. Er brauchte nicht mehr zu hetzen. Schlief länger. Er saß nun am liebsten auf Bänken, die mit Bus und Bahn zu erreichen waren, und beobachtete die eiligen Menschen an Bahnhöfen und Haltestellen. Er war’s zufrieden. Aber dann begannen die Beine, die Gelenke an Händen und Armen zu schmerzen, als hätte er Rheuma oder einen gehörigen Muskelkater. Wovon jedoch Muskelkater? Die Rheumadiagnose war negativ. Immer ein kleines Fieber. Statt mit dem Rad auf Schleichwegen, die nur ältere Kollegen benutzten, fuhr er nun mit dem Bus ins Amt und lernte Kollegen kennen, die einen Herzinfarkt erlitten, eine Chemotherapie überstanden hatten oder die von einer unbegreiflichen Autoimmunerkrankung geplagt wurden. Seine Ärzte konnten sich seine Schmerzen nicht erklären.

Als er, um die Vorbereitungen zur Feier seines 60. Geburtstages zu besprechen, zu einer noch heimlichen Besenwirtschaft, zu der er oft gewandert war, von Berlingen hinauf, über den Weißen Sandsteinfelsen, an dem verschliffene Namenskritzeleien zu sehen waren, von dem er hinab geschaut hatte über den von blauen Vogelschutznetzen verfärbten Weinberg, hinübergeschaut hatte zum See, zur Höri, zum Schienerberg, bevor er hinab gesprungen war, den Wiesenpfad neben dem Weinberg, in dem Karbidböller krachten und Raubvögel aus den Lautsprechern schrien, um dann, nach einigem Most, zwischen Schafen und Apfelbäumen hinab nach Steckborn zu wandern, mit leichten Füßen zum sich nähernden See – als er nun zum Jochental hinauf wollte, wurde ihm fieberheiß, ihn schwindelte, die Füße ließen sich nicht heben und stolperten über einen Kiesel. Nach 30 Metern verließen ihn Atem und Kraft. Er rutschte an einem Apfelbaumstamm, an dem er sich hatte erholen wollen, ab und kam nicht mehr aus der Hocke. Er gab auf. Sie fuhr ihn anderntags zur Wirtschaft hinauf. Der Arzt war ratlos. Eine Bekannte erinnerten seine Symptome an die Symptome, die eine Bekannte von ihr gehabt hatte, die an einem Morbus litt. Der Arzt schickte ihn zum Radiologen, der keinen Hinweis auf irgendeinen Morbus fand.

Am Tag vor seinem 60. Geburtstag zerrten, drückten Schmerzen so seine Brust, dass er nicht mehr hoffen konnte, es auszuhalten bis zum ausgemachten Nachmittagstermin bei seinem ratlosen Arzt, dass er sich von einem Taxi, sich krümmend auf dem Sitz, zur Notaufnahme des Klinikums fahren ließ. Er schrie, ganz wider Willen, und kam sofort auf den Schragen und an Schläuche. Als er aufwachte, lag er in einem abgedunkelten Saal mit frischen Bypass-Patienten, denen die Brust aufgesägt und auseinander geklemmt worden war. Sie war die Nacht über her gereist, war vor Schrecken bleich. Ihm war nur ein Stent gelegt worden. Zum ersten Mal musste er eine an seinem Bett hängende Urinflasche benutzen. Am Zustand der Urinflaschen, an ihren rostenden Halterungen, an billigeren und platzenden Urinbeuteln lernte er später Kliniken zu unterscheiden. Die Ärzte gratulierten ihm zu seinem 2. Geburtstag, der zufällig auch sein 60. war: Glück gehabt. Er lebe noch. Als er ein Jahr später auf einer österreichischen Autobahn fast tödlich verunglückt wäre, hätte er seinen dritten Geburtstag feiern können. Der Stent war ihm gelegt worden im Herzzentrum, das in Schweizer Hand war; zwei Tage danach wurde er, auf seinem Schoß eine von seinen Kleidern breite Plastiktüte mit der Aufschrift »Eigentum des Patienten«, im Rollstuhl unterirdisch 100 Meter weiter ins Klinikum überführt. Sie sagten: »nach Konstanz«. Im Kellertunnel standen Geschirrcontainer. Und hier, vermutete er, würden auch die Toten, die so tun, als seien sie nur Scheintote, und scheinbar furzen und stöhnen, wenn ihr Leichengas austritt, auf Bahren entlang gerappelt und in die Bestattungswagen entsorgt. Seinen Herzinfarkt fand er glimpflich und überwindbar. In der dritten Nacht nach der Operation zog er die Schläuche ab und ging aufs Zimmerklo. Schriller Alarm. Die Nachtschwester riss die Türe auf und schrie. Eigentlich hätte er, meinte er, sofort wieder nach Hause können. Es wurden aber sechs Klinikwochen. Seine Zimmerkameraden wechselten. Er blieb und lernte, dass es im Krankenzimmer das Wichtigste war, wer die Hoheit über das Fenster, die Tür, das Bad und das Schnarchen gewann und behielt. Es war seine Art, den Kampf nicht anzutreten.

Der Herzinfarkt erklärte nicht die durch seinen Körper vagabundierenden Schmerzen. Richtig krank fühlte er sich nicht; war er aber doch wohl. Medikamente und Infusionen hatten die Schmerzen gedämpft. Ein gefährlich unklares Blutbild. Er brachte wieder den Morbus, von dem ihm die Bekannte erzählt hatte, ins Spiel. Die Ärzte notierten sich das und schickten sein Blut nach Nord und Süd, bis eindeutig war: Er litt am Morbus Wegener, einer Autoimmunkrankheit, die zuerst die kleinen Blutgefäße zerstört und dann vielleicht, Organ nach Organ, den ganzen Menschen. Vielleicht waren seine sich rapide beschleunigenden Krankheiten, auch die, die er jetzt aber noch nicht alle ahnte, eine Folge des Morbus. Aber sicher war das nicht. Medizinische Diagnosen waren keine richtigen oder falschen Rechnungen. Cortison in hohen Dosen, dazu in der Krebstherapie und bei Organtransplantationen bewährte Chemopillen, Immunsupressiva gegen den Morbus bekam er und würde er bis zum nicht mehr ganz unabsehbaren Ende seiner Tage einnehmen müssen. Na denn, sagte er sich. Sie sprach, so oft sie kam, mit den Ärzten und war viel besorgter als er.

Es war ein ziemlich angenehmer Klinikaufenthalt. Nur das Schnarchen machte Unmut. In den ersten Nächten hatte er die Nachtschwester um ein anderes Zimmer gebeten, wenigstens um ein wirksames Schlafmittel, weil das mal kontinuierliche, mal aufbrüllende, mal absinkende Schnarchen des Mitkranken ihn keinen Schlaf finden ließ. Es war dann der Mitkranke, der sich beschwerte, dass er in dieser Nacht schon wieder den Mainauwald abgesägt habe. In den folgenden Jahren zahlte er, wenn es möglich war, ein Einzelzimmer, um dem Schnarchkrieg zu entgehen, obwohl er begierig war auf die Geschichten, die er von den Zimmergenossen erfragte. Ansonsten lag er behütet im Krankenhaus, betreut, versorgt. Nur das Abendbrot mit 1 Wurst und 1 Käse langweilte ihn. Pfefferminztee, der sie schüttelte, mochte er. Er wurde nicht entlassen. Den Herzinfarkt ignorierend, überschritt er die Bannmeile des Spitals, zog sich zivil an und probte seine verbliebene Kraft auf dem Weg zum Bismarckturm hinauf, langsam und immer wieder verschnaufend. Aber er kam hinauf. Sie hatte ihm ein Handy geschenkt und den Notdienst des Klinikums eingestellt für den Fall, dass er merke, dass er umzufallen drohe oder die Brustzerquetschung wieder einsetze. Er musste es nicht nutzen. Er schaute über die verwachsenen Städte Konstanz und Kreuzlingen hinauf zu den Schweizer Hügeln und hörte aus den Tiefen der Stadt das Malmen des Interregios, das sich langsam in Richtung Allensbach verlor. Den hatte er genommen, um im und über den Schwarzwald zu wandern, am liebsten, wenn der Nebel den See verschwinden ließ, in die Sonne von Villingen, hinauf und hinauf im tiefen Schnee nach Vöhrenbach durch einen fast unwegbaren Winterwald. Jetzt dachte er an sie, wenn er den Interregio hörte, den kommenden und gehenden, in dem sie sitzen könnte, um ihm frische Wäsche zu bringen oder um zu ihrer Arbeit zurück zu kehren.

Von der Chemotherapie gingen ihm höchstens drei Haare täglich aus. Siehst du, sagte sie, es tut sich immer wieder ein Türlein auf. Er hatte nicht geglaubt, dass das Cortison ihn fett machen, seine Muskeln in Fett umwandeln würde, zwei Wochen lang sah er unverändert aus. Ab der dritten quoll er im Spiegel auf zu einem Mondoder Pompidou-Gesicht. Seine Kraft nahm ab. Er wurde immer fetter. Er akzeptierte nun die Bannmeile des Klinikums und trug das Handy immer bei sich. Er beschränkte sich, im Bademantel, als erkennbarer Kranker, durch den Krankenhauspark zu gehen, wozu er sich antreiben musste, und geriet in ein seltsam stilles Haus durch die elektronisch gesteuerte Tür hinein, aber nicht wieder heraus, weil die Tür von innen mit einer Sperre gesichert war, damit die Dementen sich nicht im Freien verirrten. Im Eingangsbereich des Klinikums beobachtete er die unsicheren Besucher, die nur daran...


Hermann Kinder, geboren 1944 in Thorn, lebt in Köln und Konstanz. Vielfach für sein literarisches Werk ausgezeichnet, erhielt er zuletzt den Literaturpreis der Stadt Stuttgart.
Er ist Autor der Romane "Der Schleiftrog" (1977), "Kina, Kina" (1988) und "Mein melaten" (2006).



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