E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Kincaid Das Script-Girl
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-641-24260-2
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-641-24260-2
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Patrick Kincaid wurde als Sohn einer Engländerin und eines Amerikaners in Texas geboren. Als Kind zog er mit seiner Familie nach Großbritannien, vor er nach seinem Schulabschluss Englische Literatur studierte, promovierte und als Lehrer tätig war. Das Script-Girl ist sein erster Roman.
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London, 2013
Davids Hand liegt schon wieder auf Gemmas Oberschenkel. In seinen Brillengläsern spiegelt sich das Licht des Projektors, aber das ist alles, was sie von ihm erkennen kann. Es ist fast, als wäre er gleichzeitig Holmes und Watson in der Szene, über die gerade geredet wird: beim Ballett. Er ist gelangweilt und geil zugleich. Und er macht ihre willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit zunichte, reißt sie heraus aus dem Schottland der viktorianischen Zeit, das auf der Leinwand zu sehen ist, und holt sie zurück nach Islington, in ein Kino des 21. Jahrhunderts. Das kann sie nicht zulassen. Sie gibt dem Fünffingertier eins auf die Knöchel, es zieht sich von dem schwarzen Nylonstoff zurück und verkriecht sich wieder in seiner dunklen Höhle.
denkt sie. Jetzt steht Holmes am Fußende des Himmelbetts, und Madame Valladon unter ihrer Decke schaut mit vor Furcht geweiteten Augen zu ihm auf.
»Also, zwei Sachen weiß eigentlich jeder über von Billy Wilder.«
Sie sitzen im King’s Head, viel zu nah an der Tür, weil es an diesem Donnerstagsabend voll ist und alle anderen Tische bereits besetzt waren. Als Belohnung dafür, dass er den Film über sich hat ergehen lassen, hat Gemma David ein Craft-Bier bestellt. Ihr Glas Merlot hat sie schon halb geleert, um sich auf das Verkünden der großen Neuigkeit einzustimmen.
»Zwei Sachen, die weiß?« Seine Augenbrauen schauen über den Brillenrand und stoßen oben fast an seine blonde Tolle. »Über den Film weiß doch niemand irgendwas. Bevor ich dich kennengelernt habe, wusste ich nicht mal, dass es ihn überhaupt gibt.«
Sein Midwestern-Akzent durchschneidet das britische Geplapper wie ein U-Boot ein trübes Gewässer. Dabei ist er kein Angeber, er hat nur eine laute Stimme. Gemma hat eine Weile gebraucht, um das zu merken. »Okay, es gibt zwei Dinge, die vom besessene Dozentinnen der Filmwissenschaft darüber wissen.«
Er nickt zufrieden. »Und die wären?«
Sie nimmt noch einen Schluck Merlot. »Erstens waren die Dreharbeiten verdammt schwierig. Die Schauspieler, die Wilders Stil nicht kannten, kamen nicht damit klar, wie viele Takes er von ihnen verlangte und dass er Betonungen und Bewegungen so penibel vorgab. Für Christopher Lee, der 1969 bereits viel Erfahrung vor der Kamera hatte, war das schon schlimm genug – für andere, die vom Theater kamen, war es ein Albtraum. Am schlimmsten hat es den armen Robert Stephens erwischt. Er hatte ja gehofft, es wäre sein Ticket nach Hollywood, wenn er Sherlock Holmes in einem Billy-Wilder-Film spielt. Stattdessen haben die endlosen Takes und Regieanweisungen seinem Selbstbewusstsein einen Riesenknacks versetzt. Am Ende hat er sich eine Überdosis verpasst, was eine Megaverzögerung verursacht und die Produzenten richtig Geld gekostet hat. Und dann war da noch das Fiasko mit dem Ungeheuer von Loch Ness …«
»Fiasko?«, sagt David. »Das war doch die beste Stelle im ganzen Film.«
Gemma verdreht die Augen. »Der Film hatte ein fettes Budget – zehn Millionen Dollar –, und davon haben sie sich erst mal ein ebenso fettes Baker-Street-Set geleistet. Außerdem ein funktionstüchtiges Modell des Ungeheuers aus der Werkstatt von Wally Veevers, der mit berühmt geworden war, zum Einsatz im echten Loch Ness. Aber gleich beim ersten Test im Wasser ist es ihnen komplett abgesoffen und bis auf den Grund gesunken. Keine Chance auf Bergung.«
»Und was haben wir dann eben im Film gesehen?«
»Sie haben noch eins gebaut und die Szene in einem Becken in Elstree gedreht.«
David bläst die Backen auf und lässt sie platzen. »Und so was kostet Zeit und Geld!«
Gemma nickt. Langsam kapiert er’s.
»Du hast gesagt, es gibt Dinge, die Billy-Wilder-Nerds über wissen …?«
»Genau.« Sie nimmt noch einen Schluck Wein. »Das Zweite ist, dass der fertige Film auf Anweisung des Studios gnadenlos zusammengeschnitten wurde, und das hat Billy Wilder das Herz gebrochen.«
Ein feuchtkalter Luftzug weht durchs Pub. Gerade sind ein paar Frauen in bunten seidigen Outfits und hochhackigen Riemchensandalen hereingekommen. Das ist zwar komplett unpassend für eine Dezembernacht – selbst wenn sie noch so mild ist –, aber auch nicht meilenweit entfernt von dem Aufzug, den Gemma noch vor fünf, sechs Jahren an einem solchen Abend gewählt hätte. Sicher wollen sie hier mit ein paar billigeren Drinks vorglühen, ehe sie zum Klub weiterziehen. David mustert die Neuankömmlinge ausgiebig – das Pub ist voll von ihresgleichen –, dann aber grinst er Gemma verlegen an.
»Du bist unverbesserlich«, sagt sie und zieht ihren Cardigan vor dem Bauch zusammen.
Er zuckt mit den Schultern, als wollte er sagen:
»Jedenfalls war es den Produzenten komplett egal, dass ihnen Wilder mit dem zehn Jahre vorher alle möglichen Oscars beschert hatte«, fährt sie fort. »Sie hatten einfach Schiss, dass sie den Film, den er abgeliefert hatte, nicht verkaufen können. Wilder schwebte ein Monumentalfilm vor – ein Drei-Stunden-Epos wie . Doch dieses Format war in der Filmindustrie längst tot. Schon ein paar Jahre vorher hatte keiner sehen wollen, und der schien vergleichbar, weil auch er auf einer alten literarischen Vorlage basiert. Also haben die Produzenten den Film um ein Drittel kürzen lassen, und ganze Sequenzen wurden gestrichen – endgültig, wie es aussah. Das hat ihn aber auch nicht gerettet. Die Leute blieben trotzdem weg, und die Kritiker haben ihn ignoriert. Der arme Robert Stephens ist also nie ein Hollywoodstar geworden.«
»Und was ist jetzt die Neuigkeit?« Er legt den Kopf schief und mustert sie. »Irgendwas ist doch passiert, sonst würdest du mir das alles nicht erzählen, als wäre es interessant für mich.«
Sie strahlt ihn an. »Ein verdammtes Wunder«, sagt sie, »das ist passiert.«
Sie fischt ihr iPhone aus der Handtasche und loggt sich auf ihrem Uni-Account ein. »Hier«, sagt sie und rückt mit ihrem Stuhl herum, sodass sie beide aufs Display schauen können. »Das hat mir John Letterer vom British Film Institute letzten Donnerstag geschrieben.«
Der Betreff lautet einfach: »DPLDSH«.
MGM
»Ach, so einfach ist das?«, fragt David.
»So einfach«, sagt Gemma. Sie scrollt runter.
DVD
LFF
David lacht – wie immer ein Bild für die Götter. Die Lachfalten in seinem langen Gesicht sind genau an den richtigen Stellen.
»Gut, oder?«, sagt Gemma.
»Und was bekommt man da zu sehen, was wir heute Abend nicht gesehen haben?«
Gemma sprudelt fast über, so viel wird es zu entdecken geben. »Der Film war immer als eine Art Fallbuch gedacht. Voller beispielhafter Fälle, die Dr. Watson dem viktorianischen Publikum noch nicht zumuten wollte. Mit anderen Worten: reichlich Sex und Drogen.« Sie legt ihr iPhone zur Seite und zählt an den Fingern ab: »Es gibt einen Prolog mit Watsons kanadischem Enkel. Dann ›Die schreckliche Sache mit den nackten Hochzeitsreisenden‹ …«
»Da sagt der Titel ja schon alles, oder?«
»So ziemlich. Dann ist da der ›Kuriose Fall des...