E-Book, Deutsch, 287 Seiten
Kinast Mensch, Kaiser!
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7517-4996-1
Verlag: Lübbe Life
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Franz Beckenbauer: Lichtgestalt mit Schattenseiten
E-Book, Deutsch, 287 Seiten
ISBN: 978-3-7517-4996-1
Verlag: Lübbe Life
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Florian Kinast, 1969 in München geboren, ist Autor und freier Sportjournalist. Als Korrespondent des SPIEGEL berichtet er über den FC Bayern München, zudem schreibt er Reportagen und Porträts für die Münchner ABENDZEITUNG, SPORTS ILLUSTRATED und viele andere Medien. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter eine Biografie über Biathletin Magdalena Neuner. 2022 erschien DIE KÖNIGE DER WELT über die Historie der Fußball-Weltmeisterschaften.
Autoren/Hrsg.
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KAPITEL 1
Als Eierkopf bei den Bowazus –
mit dem Traum von Sechzig und Amerika:
Kindheit und Jugend in Obergiesing
Sommer 1945, Nachkriegs-München. Eine Stadt in Trümmern, Ruinenlandschaft. Nach insgesamt 73 verheerenden Luftangriffen sind rund 21000 Gebäude komplett zerstört oder schwer beschädigt, darunter mehr als 100 Kirchen, knapp 300 Kulturbauten. Museen, Kinos, Theater, die Ludwig-Maximilians-Universität. 66 Schulen liegen in Schutt, 23 Krankenhäuser. Mehr als 6600 Menschen haben in den Bombennächten ihr Leben verloren, gut 300000 ihr Zuhause. Mit dem Einmarsch der US-Amerikaner Ende April endet der Irrsinn, und schon bald kehrt ganz sachte ein Hauch von alter Normalität zurück. Im Juni haben bereits 50 Gaststätten wieder geöffnet, sind zwölf Trambahnlinien im Einsatz. Die Linie 15 etwa zur Großhesseloher Brücke oder auch die Linie 10 zum Isartalbahnhof. Die Neunzehner nach Steinhausen. Anfang Juli folgt der erste Auftritt der Münchner Philharmoniker. Im restlos ausverkauften Prinzregententheater, mit Werken von Tschaikowsky, Mozart, Mendelssohn. In drei Kinos laufen wieder Filme, im Regina in der Dachauer Straße, im Preysing-Palast in der Pilgersheimer Straße, im Kapitol in Pasing. Kleines Alltagsglück zur Ablenkung, nach dem Trauma des Kriegs. Und auch die seit September 1939 angeordnete Verdunkelung auf den Straßen, an Wohnungen, Geschäften, Häusern, ist seit Mitte Mai aufgehoben. Selbst die Nächte werden wieder heller. München fängt langsam wieder an zu leuchten. Vier Monate nach Kriegsende. Am 8. September kehrt das Volkstheater mit der Hammelkomödie von Hans Hiller auf die Bühne zurück. Am 9. September ordnet die amerikanische Militärregierung eine Gebäudezählung an. Am 10. September startet Radio München seine neue Sendereihe. Englisch macht Spaß, ein Sprachkurs, zweimal eine Viertelstunde am Tag. Am 11. September setzen bei Antonie Beckenbauer die Wehen ein. Mit wem die 32-jährige Hausfrau von Obergiesing aus aufbricht, und wie sie die fünf Kilometer entfernte Entbindungsklinik in der Maxvorstadt erreicht, darüber wird sie selbst in späteren Jahren unterschiedliche Versionen erzählen. Mal ist sie mit ihrer Schwester Leni unterwegs, mal ganz allein. Mal geht sie zu Fuß und fährt mit der Tram, mal chauffiert sie ein amerikanischer Militärjeep in die Klinik. Bezeichnend, dass das Leben von Franz Beckenbauer schon vor der Geburt mit Widersprüchen beginnt. Am späten Abend bringt Antonie Beckenbauer ihr zweites Kind zur Welt. Einen Franz. »Er hat sich so auf die Welt geschwindelt«, wird sie einmal sagen. Viele Jahrzehnte später wird auch Walter Beckenbauer, der 1941 geborene ältere Bruder, in einem Gespräch mit der Abendzeitung von der ersten Begegnung mit dem kleinen Franzl erzählen. Entsetzt sei er gewesen, als er ihn das erste Mal gesehen habe, so habe es ihm seine Mutter immer wieder berichtet. Und: »Dass sie ihn aus dem Krankenhaus heimgeschleppt hat, die Treppe hoch in den vierten Stock, und ich, als ich in die Tragetasche reingeschaut hab, gesagt habe: so ein Eierkopf.« Während die Mitbewohner im Mietshaus Mama Antonie beglückwünscht hätten zu diesem ach so außerordentlich feschen Buben, so erzählt es Walter, habe er sich zurückgezogen. Aus Groll, aus Eifersucht, mit dem Gedanken: »Steigts mir doch alle auf den Hut.« Aber natürlich wächst zwischen dem Walter und dem Eierkopf bald eine innige, herzliche Beziehung heran. In bescheidenen Verhältnissen leben sie zu acht in einer Vier-Zimmer-Wohnung im vierten Stock, die damals laut Adresse noch am Bonifatiusplatz 2 liegt, später nach der Umbenennung in der Verlängerung der Zugspitzstraße. Mit im Haushalt wohnen neben Papa Franz und Mama Antonie, dem Walter und dem Franz auch Oma Katharina Beckenbauer, die Mutter von Franz senior – und dazu auch noch die im Krieg aus ihrer Wohnung rausgebombte Tante Frieda, die mit ihren beiden Söhnen bei ihrem Bruder Franz Zuflucht fand. Fließend Wasser gibt es nicht, die Toiletten sind draußen zwischen den einzelnen Etagen, zum Wäschewaschen geht Mama Antonie die zehn Fußminuten zu einer Waschstelle am Walchenseeplatz. Niemand jammert, man ist froh, überhaupt eine Bleibe zu haben. Wenn sie im strengen Winter hochgehen in die vierte Etage, steigen sie über Fremde, über Obdachlose, die im Treppenhaus wenigstens im Trockenen sitzen wollen und dort dann auch gleich nächtigen. Das Elend: Alltag. Umso heiliger sind dem Walter und dem Franzl vor allem die Abende, wenn sie wenigstens einmal in der Woche in einem Bottich mit heißem Wasser warm baden können und sie sich danach zusammen im Wohnzimmer um das Holzradio scharen, aus dem heraus Fred Rauch seit 1947 das Wunschkonzert moderiert. Glückliche Momente im Hause Beckenbauer. Lehrstunden in Dankbarkeit und Demut. Mit sechs kommt der Franz in die Volksschule an der St.-Martin-Straße, nach zwei Jahren wechselt er an die Silberhornschule beim Giesinger Berg. Als Schüler kommt er ganz gut durch, er ist wach und interessiert, gerade an Geografie. Die Eltern lassen ihn wie auch den Walter schon gewähren, wollen sich laut ihrem Credo ins Schulische erst einmischen, wenn es bei den Noten massiv bergab geht. Geht es aber nie. Der Franz tendiert zu vielen Zweiern, manchmal Einser, ab und zu Dreier. Vierer und schlechter: Raritäten. Mitteilsam im Unterricht ist er allerdings nicht, er beteiligt sich selten, meldet sich kaum zu Wort und hält es nicht für nötig, überall und immer seinen Senf dazugeben zu müssen. Das wird sich später ändern. Nur unruhig ist der Bub immer, einmal meldet sich die Lehrerin, die Frau Henzler, bei Mama Beckenbauer, weil der Sohn mitten während des Unterrichts so oft aufstehe und durchs Klassenzimmer renne, einfach so, völlig unmotiviert. Ein Zappelfranz. Abhilfe schafft Mutter Antonie, die ihrem Kind androht, sollte er damit nicht aufhören, werde er sicher zur Strafe bald den ganz strengen Lehrer bekommen, einen verbitterten Kriegsheimkehrer und ekelhaften Altnazi, der an der ganzen Schule berüchtigt ist, weil er als Choleriker die Kinder gern sauber herwatscht, aber so was von. Ab da sitzt der Franz ganz brav und still – und bekommt den prügelnden Pädagogen dennoch als Lehrkraft. Brav und schüchtern wirkt er überhaupt in seinen ersten Jahren, manchmal auch ängstlich. Wenn ihm die Eltern auftragen, die Kohlen oder die Kartoffeln aus dem Keller zu holen, weigert er sich. Allein mag er nicht gehen, aus Furcht vor der Düsternis da unten. Nur wenn der Walter mitgehe. Franz baut sich seine eigene Welt, gern klebt er Bilder ins Sammelalbum der Margarinemarke Sanella, es sind Motive aus fernen Ländern und Kontinenten. Afrika, Australien, Amerika. »Mich hat das interessiert, wie schaut es dort aus«, sagt er später in einem Interview. »Die Sehnsüchte waren von klein auf da, Fernweh sagt man heute.« Anständig benimmt er sich auch als Ministrant in der Heilig-Kreuz-Kirche, ansonsten ist er viel in den Straßen Giesings unterwegs, einem Viertel, in dem sich die Kinder damals gut aufgehoben und geborgen fühlen – auch wegen der Präsenz der amerikanischen Soldaten, die 1945 ganz in der Nähe ihr Münchner Hauptquartier in der McGraw-Kaserne aufgeschlagen haben, in den Räumen der ehemaligen Reichszeugmeisterei, des einst landesweit größten Zentrallagers der Nazis für Uniformen, Fahrzeuge und Ausrüstung, für Aufmärsche und Parteitage. Freudig erwartet werden in jenen Nachkriegsjahren gerade die Tage in der Adventszeit, wenn die GIs mit ihren dunkelgrünen Army Buses ausrücken und sie die an bestimmten Sammelpunkten wartenden Kinder aus dem Viertel einsammeln, um ihnen in einem großen Saal ihrer Kaserne Weihnachtspakete zu überreichen, gefüllt mit Kaugummi, Zimtstangen, Wachsmalstiften. Oder wenn sie aus den Fenstern der Kaserne die beliebten Butterfinger runterwerfen, die pappsüßen Schokoriegel mit Krokant und Erdnusscreme. Festtage für Giesings Jugend. Zu den engsten Vertrauten vom Franz zählt in jener Zeit ein Schulfreund aus der Nachbarschaft, der Steiner Wolfi. Mit ihm kauft er sich für ein Fünferl manchmal eine Pit-Brause, und wenn sie mal ganz viel Taschengeld gespart haben, leisten sie sich auch einen Kinobesuch in den Wendelstein-Lichtspielen in der gleichnamigen Straße. Für stolze 65 Pfennig. Oft verstecken sie sich nach einer Vorstellung unter den Sitzen, um für den nächsten Film auch noch zu bleiben, beim Double Feature halbiert sich der Preis. Am liebsten aber spielen sie Fußball, gern auch in der Wohnung der Beckenbauers im Gang. Sehr zum Missfallen des Vaters. 2005, kurz vor dem 60. Geburtstag vom Franz, wird sich Wolfgang Steiner bei einem persönlichen Treffen mit dem Autor daran erinnern, wie das war, wenn der alte Beckenbauer von der Arbeit heimgekommen sei, und er immer fast einen Tobsuchtsanfall bekommen habe, weil die Burschen schon wieder nix Besseres zu tun gehabt hätten, als wild schreiend und verschwitzt durch den Flur zu toben. »Saubuam«, habe Vater Franz senior dann gebrüllt, »aus euch werd so nia wos. Schauts mich an, i bin wenigstens Postobersekretär worn.« Der Postobersekretär, der dafür verantwortlich ist, dass man den Franz später oft den Postlersohn aus Obergiesing nennt. Postobersekretär Franz Beckenbauer, geboren 1905, ein gelernter Maschinenschlosser, dann in seiner Anfangszeit bei der Post Briefsortierer. Später, nach dem Aufstieg auf der betriebsinternen Karriereleiter, verdient er nach dem Krieg immerhin ordentliche 600 D-Mark im Monat, gesundheitlich ist er aber recht angeschlagen, Magengeschwüre, die...