E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Kilimnik Sommer in Odessa
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-0369-9621-9
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-0369-9621-9
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Irina Kilimnik wurde 1978 in Odessa (Ukraine) geboren und kam mit fünfzehn Jahren nach Deutschland, wo sie später Humanmedizin und Mediapublishing studierte. Sie ist die Autorin zahlreicher Essays, Buchrezensionen und Kurzgeschichten, war Teilnehmerin am 18. Klagenfurter Literaturkurs und wurde beim MDR-Literaturwettbewerb mit zwei Preisen ausgezeichnet. Für ihren Debütroman 'Sommer in Odessa' wurde sie mit dem Franz-Tumler-Publikumspreis ausgezeichnet. Sie lebt in Berlin.
Autoren/Hrsg.
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I
Ich bin mir immer noch nicht sicher, wer von uns weniger Lust aufs Medizinstudium hat, Rajdesh oder ich. Aber ich bin überzeugt, dass wir, falls wir tatsächlich mal Ärzte werden sollten, beide gleich miserabel sein werden. Rajdesh, ein schmächtiger Inder mit großen dunklen Augen, hat panische Angst vor Krankheiten und bildet sich dauernd ein, er hätte sich was eingefangen. Und ich fühle mich hier sowieso fehl am Platz. Vielleicht hängen wir auch deswegen ständig zusammen herum, wie zwei Loser, die sich in einer fremden Welt gegenseitig den Rücken stärken. Nun sitzen wir nebeneinander im Hörsaal, und während unser Professor die Symptome einer weiteren Krankheit aufzählt, zeichnet Rajdesh kleine Äffchen. Das kann Radj, wie ich ihn nenne, richtig gut. Ich kann nicht mal das und fühle mich von der Langeweile fast erschlagen.
Um ehrlich zu sein, hat der Tag schon übel angefangen. Geweckt wurde ich vom Raucherhusten meines Großvaters, dessen Zimmer an meines grenzt. Das pfeifend-bellende Geräusch rettete mich zwar aus meinem Albtraum, in dem ich mich in einem Aufzug befand, der, anstatt im gewünschten Stockwerk zu halten, immer weiterfuhr, dennoch war es nicht die schönste Art aufzuwachen. Ich riss die Vorhänge auf, öffnete das Fenster und ließ die viel zu milde Luft ins Zimmer. Odessa schlief noch. Nur ihre Lichter flackerten in der Ferne und erzeugten die Illusion einer Normalität, die einen heißen Sommer versprach, gefüllt mit gebratenem Fisch und Auberginen, vielen Strandausflügen und dem Gefühl, vom Studium aufatmen zu können. Kam allerdings ein leichter Wind auf und löschte kurzzeitig dieses Flackern, entstand für eine Sekunde eine allumfassende Dunkelheit, die mir die Luft raubte.
Als ich wenig später unsere Küche betrat, schlug meine Tante Ludmila bereits eine Unmenge an Eiweiß mit einem Schneebesen zu einem steifen Gebilde und tupfte sich dabei dauernd den Schweiß von der Stirn. Rechts von ihr saß mein Großvater und gab den Takt an. Er trug eines dieser alten Hemden, die schon lange nicht mehr hergestellt werden, mit zwei Brusttaschen und einer Seitentasche, und aus allen drei quollen Notizzettelchen heraus. Diese ersetzten ihm seit jeher ein Rezeptbuch und enthielten ein nur für ihn nachvollziehbares System aus Mengenangaben und Zutaten, zusammenhangslos und nie vollständig.
»Schneller«, motzte Opa Ludmila an, »sonst fällt das Eiweiß wieder in sich zusammen.« Er schüttelte missbilligend den Kopf, und ich las dem Gesicht meiner Tante den sehnlichen Wunsch ab, das Eiweiß aus dem Fenster zu schleudern.
Um diese Küchenidylle nicht zu stören, verzichtete ich auf meinen Kaffee und verschwand, bevor mich Opa einspannen konnte. Ich vernahm noch Ludmilas Rufe, ich solle heute nicht zu spät kommen, zog aber in dem Moment die Eingangstür zu und hoffte, damit aus dem Schneider zu sein – sicherlich das Beste, was ich in diesem Fall tun konnte. Die Putzaktion der letzten Tage steckte mir immer noch tief in den Knochen, und ich war nicht bereit, mich erneut Opas Launen auszusetzen.
Die überraschende Ansage meines Großvaters – der Grund für die unzähligen Überstunden in der Küche –, dieses Jahr seinen Geburtstag groß feiern zu wollen, geht heute in die entscheidende Runde und soll morgen im grandiosen Finale enden. Aus welchen Gründen auch immer er sich dazu entschlossen hat, eines ist definitiv: Es können keine konventionellen gewesen sein, denn normalerweise ignoriert er diesen Tag. Selbst die Glückwunschkarten lässt er sonst mindestens zwei, drei Monate liegen, bevor er sie überhaupt öffnet und den einen oder anderen bissigen Kommentar dazu abgibt. Welcher Teufel ihn diesmal geritten hat, weiß keiner, und wir warten nervös auf die große Enthüllung.
Ich muss schon wieder gähnen. Radj stößt mir leicht in die Rippen. Mittlerweile ist das Blatt mit lauter kleinen Äffchen übersät. Der Affenanführer ist an seinem halb ausgefahrenen Penis leicht zu erkennen, während bei den meisten Weibchen Säuglinge an den Brüsten nuckeln. Ich klopfe ihm anerkennend auf die Schulter, und er blättert um.
»Ich male jetzt was anderes«, flüstert er mir zu und gleitet in seine eigene Welt, weit weg von den sterilen OP-Räumen, den blutigen Eingeweiden und dem leicht säuerlichen Geruch von Desinfektionsmitteln, der uns überallhin verfolgt.
Radjs Familie lebt in der Hafenstadt Kochi im Süden Indiens. Die Stadt sei fast europäisch, meint er, wenn da nicht die Inder wären. Als jüngstes Kind und als langersehnter Junge wurde er von seinen drei älteren Schwestern und den Eltern total verzogen. Im Grunde ist er immer noch ein Milchgesicht, da hilft auch kein Dreitagebart. Radjs Familie träumt davon, dass er eines Tages ein hochangesehener Arzt wird. Radj selbst träumt davon, eine blonde Russin zu heiraten und mit ihr Söhne zu zeugen. Damit liegt er mir ständig in den Ohren. Finde mir eine Ehefrau, Olga, ich will heiraten, sagt er halb ernst und schaut mich dabei vielsagend an. Heirate doch eine Inderin, schlage ich ihm vor und meide seinen Blick, da weißt du wenigstens, was dich erwartet. Eben, sagt er, meine Eltern finden eine Frau, die eher ihren Vorstellungen als meinen Bedürfnissen entspricht, und mit der muss ich mich mein Leben lang herumquälen. Such dir erst mal eine Freundin, rate ich ihm, das genügt für deine Bedürfnisse. Er guckt mich dann mit glasigen Augen an und lacht blöde, denn Radj ist dauernd bekifft. Nicht völlig zugedröhnt, nur leicht, gerade mal so viel, dass er alles um sich herum wie durch einen luftigen Schleier wahrnimmt. Sonst ertrage er das Leben nicht, sagt er und nimmt noch einen Zug.
Meine Tante Ludmila meint, Radj sei so spindeldürr, weil er Vegetarier ist, und jedes Mal wenn er bei uns zum Essen bleibt, versucht sie, ihn zu bekehren. Seit sie Anschluss an eine etwas suspekte Glaubensgemeinde gefunden hat, sieht Ludmila überall Verschwörungen, besonders im Vegetarismus: Die – wer auch immer die sind – wollen wegen der drohenden Überbevölkerung die menschliche Rasse reduzieren, und Vegetarismus sei ihre Waffe. Wenn bei uns gekocht wird, befindet sich folglich immer etwas Fleischiges in den Töpfen und Pfannen. Radj lächelt freundlich und isst seine Beilagen. Das Fleisch schiebt er mit der Gabel an den Tellerrand und achtet darauf, dass es das Gemüse nicht berührt. »Schmeckt sehr gut«, sagt er, worauf Ludmila nur die Nase rümpft.
Als Konsequenz kommt Radj immer seltener zu uns. Meine andere Tante Polina findet, es sei auch besser so, denn die Nachbarn würden sich bereits ihre Mäuler zerreißen, wir hätten Zimmer an Ausländer untervermietet. Mein Rajdesh scheine tatsächlich oft bei uns zu sein, sagt sie und guckt mich dabei mit diesem Blick an, bei dem die Augenbrauen nach oben rutschen und ihr Gesicht einen dämlichen Ausdruck bekommt. Ich versichere ihr zum zigsten Mal, er sei nicht mein Rajdesh und dass ich nicht vorhabe, ihn zu heiraten.
Meine Mutter pflichtet ebenfalls ihrer Schwester bei, ich solle nicht auf falsche Gedanken kommen: Erst das Studium zu Ende bringen, sagt sie, dann würden wir schon weiterschauen, wobei mich das »wir« erheblich mehr stört als das Studium, das bei ihr wie gewöhnlich an erster Stelle kommt. Ich entgegne ihr, dass es da nichts zu schauen gebe und dass sie sich alle wieder entspannen können.
Wenn es um meinen besten Freund geht, sind sich meine Mutter und ihre beiden Schwestern wenigstens mal einig.
Nach der Vorlesung fahre ich mit Radj ins Zentrum.
»Dieser Geburtstag ufert langsam aus. Die Vorbereitungen machen mich fertig«, beklage ich mich bei ihm, und er schaut mich prüfend an.
»Und trotzdem hast du noch Zeit für mich?«, fragt er.
»Lernen geht vor. Das ist die einzige Ausrede, die meine Familie gelten lässt«, sage ich und hoffe, er interpretiert nicht wieder etwas in die Antwort hinein.
»Ja, lernen …«, sagt er und zwinkert mir zu.
Die Sonne glüht beinahe ununterbrochen auf die Stadt herunter und heizt alles auf hochsommerliche Temperaturen auf. Auf der Deribasovskaja-Straße herrscht trotz der jüngsten Ereignisse eine ausgelassene Stimmung. Touristen mit Selfiestangen, Kaffeeterrassen, die mittlerweile fast den gesamten Bürgersteig in Anspruch nehmen und die Odessiter in Rage versetzen, eine Schlange vor der französischen Konditorei, die vor einem Jahr aufgemacht hat und bereits in jedem Reiseführer steht. Pferde, die weiße Kutschen hinter sich herziehen und mit ihren Hufen rhythmisch auf die Pflastersteine schlagen, Kinder, die an ihrem Eis lecken, sowie deren Großmütter mit einem Taschentuch in der Hand, immer bereit einzugreifen. Und die Sonne, die in jeden Winkel, jede Ecke dringt und gnadenlos die Frühlingsreste vertreibt. Ein idyllisches Bild, ein Bild, das jenes einer plötzlich besetzten Halbinsel, einer gespaltenen Gesellschaft überlagert, die gesamte Situation glättet, eine Normalität vortäuscht, die es vielleicht nicht mehr gibt.
Zielsicher marschiert Radj zu einem Kiosk und kauft seinen Lieblingssnack: Piroggen mit Kartoffeln, zwei für mich, vier für ihn. Wir biegen auf die Puschkin-Straße, dann nach links auf die Bunin-Straße, packen die ersten Piroggen aus und vertilgen sie im Schatten der Bäume des Schewtschenko-Parks. Es riecht nach Flieder und gelber Akazie.
»Zum Strand?«, fragt Radj nach einer Weile und steht auf.
Wir gehen fast immer zum Lanzheron, dem ältesten Strand im Zentrum von Odessa. Lanzheron war einst der Jugendstrand meiner Mutter und ihrer Schwestern, jetzt setzen sie keinen Fuß mehr darauf. Zu voll, sagen sie, zu laut, zu viel Getöse – man habe dort keine Ruhe....