Kiesel / Lutz | Religion und Politik | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 468 Seiten

Kiesel / Lutz Religion und Politik

Analysen, Kontroversen, Fragen

E-Book, Deutsch, 468 Seiten

ISBN: 978-3-593-43033-1
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark



War Religion lange Zeit eine eher randständige Kategorie in der Politik, so erscheint spätestens seit dem 11. September 2001 das Verhältnis von Religion und Politik in einem veränderten Licht: Ist Religion ein Aspekt der Politik, wird sie gar für politische Zwecke instrumentalisiert oder führt die Säkularisierung zur 'Verbannung' der Religion in den privaten Bereich?

Mit Beiträgen von: Christoph Bultmann, Birgit Heller, Geert Hendrich, Anja Hennig, Hans G. Kippenberg, Jörg Rüpke, Ariane Sadjed, Nikolaus Schneider, Wolf Wagner, Michael Wermke, Christian Wiese u.a.
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Inhalt

Einführung11
Ronald Lutz/Doron Kiesel

Zugänge

Religion und Politik - Umrisse und Grundfragen19
Wolf Wagner

Religion als Sinnstifter und Wertevermittler in der Moderne41
Geert Hendrich

Religion und Politik in Europa: Eine Geschichte von Konflikt und Kooperation54
Anja Hennig

Religion als Hoffnung71
Ronald Lutz

Kontexte

Könige, Priester, Propheten, Gotteskrieger: Bilder religiöserAutoritäten in der Bibel103
Christoph Bultmann

Religion und Politik - Prägungen durch die Reformationszeit, geschichtliche Transformationen und Impulse126
Gury Schneider-Ludorff

Unheilige Allianz von Religion und Politik138
Walter Fleischmann-Bisten

Revolution und Kirche in der DDR: Politischer Wandel in kirchlicher Perspektive155
Christian Dietrich

Reformation und Politik: Vom Segen der Subsidiarität - Das Verhältnis von Religion und Politik als bleibende Gestaltungsaufgabe 184
Nikolaus Schneider

Juden und Politik197
Stephan J. Kramer

Zur politischen Dimension des Theologischen: Kontinuität und Diskontinuität von christlichem Antijudaismus und politischem Antisemitismus207
Christian Wiese/Doron Kiesel

Lebenswelten

Chancen der Vielfalt: Perspektiven zur Ausgestaltung der Rechtsverhältnisse zwischen Staat und Religionsgesellschaften257
Friso Ross

Öffentliche Festkultur und Ritual267
Jörg Rüpke

Religiöse Bildung in der postsäkularen Gesellschaft287
Michael Wermke

"Beste Freunde"? Religionen, Politik und Geschlechterordnung 303
Birgit Heller

Religion und Medien - Religion als explizites und implizites Thema in Kinder- und Jugendmedien317
Sandra Fleischer/Peter Kroker

Interreligiöse Dialog-Initiativen: Zur auswärtigen Kulturpolitik islamischer Staaten331
Sabine Riedel

Brennpunkte

Ritus, Religion und Konflikt - am Beispiel der Beschneidungsdebatte359
Thomas Eppenstein

Religion und Revolution: Hypothese eines beidseitigen Einflusses377
Annamarie Bindenagel Sehovic/Ulrike Niens

Brasilien: Wirtschaft - Politik - Religion: Aufbruch und Krise eines Schwellenlandes393
Erhard S. Gerstenberger

Der Islamische Staat und die Säkularisierung: Die iranische Erfahrung407
Katajun Amirpur

Islam und (Ir-)Rationalitäten westlicher Governance423
Ariane Sadjed

Entgrenzung kampfbereiter Gemeinschaftsreligiosität: Ermittlung eines Typus religiöser Gewalt438
Hans G. Kippenberg

"Islamischer Staat": Vom Terror zum Kalifat - Wie der asymmetrische Krieg wieder symmetrisch wird457
Bernd Rheinberg

Autorinnen und Autoren466


Einleitung
Ronald Lutz, Doron Kiesel
Religion war in der öffentlichen Wahrnehmung über einen längeren Zeitraum eine eher randständige Kategorie der politischen Praxis. Doch spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 wird das Verhältnis von Religion und Politik neu betrachtet und erscheint inzwischen in einem veränderten Licht. Aktuell scheinen sich Religionen wieder verstärkt im Leben der Menschen auszubreiten und Einfluss auf Politik zu nehmen, wie es die Vielfalt der Publikationen zeigen, die als Sensor einer neuen Aufmerksamkeit zu sehen sind.
Die erkennbare Breite reicht vom wachsenden Fundamentalismus der Weltreligionen, über die weltweite Ausbreitung von Pfingstkirchen und evangelikalen Strömungen bis hin zu neuen religiösen Bewegungen und sogenannten Migrationskirchen. Dabei scheint auch die Einflussnahme auf Politik ein neuerliches Thema der Aufmerksamkeit zu werden, es ist nicht nur der aktuelle Papst Franziskus, der politisch herausfordernde Reden hält und von der Politik als ein Moment der Beunruhigung wahrgenommen wird. Vielleicht war das ja auch nie anders und wird jetzt lediglich neu beleuchtet, aber: "Weltweit nehmen sowohl traditionelle Kirchen wie neue religiöse Bewegungen Einfluss auf die Politik, ein Trend, der sich schon jahrzehntelang angedeutet hat oder vielleicht nie aufgehört hatte" (Riesebrodt: 2007, 252).
Allerdings geschieht dies in unterschiedlicher Intensität und in völlig heterogenen Kontexten und Bezügen, es sind vor allem Legitimitätsverluste politischer Regime (Riesebrodt: 2007, 256) und Folgen von Modernisierungsprozessen (Schmidt: 2013), die das Wachstum und die neuerliche Politisierung der Religionen befördern. Eine vehement und kontrovers geführte Diskussion zum Verhältnis von Moderne und Religion hat völlig neue Themen aufgeworfen (Willems u.a.: 2013). Darin wird vor allem auch die Frage diskutiert, ob Prozesse der Säkularisierung, von Weber einstmals als "Entzauberung" begriffen, tatsächlich zu einem Ver-schwinden der Religion beziehungsweise zu deren "Verbannung" als Zivilreligion in den privaten Bereich beigetragen haben (Beck: 2008; Hinsch: 2013; Pollack: 2013).
Inzwischen gibt es eine Fülle an Positionen, die von dem vielfach diagnostizierten Trend der Moderne zur Säkularisierung abrücken. Religion ist offenkundig noch immer als Idee und Praxis präsent, und das weltweit: "Die erwartete Säkularisierung hat nicht stattgefunden, zumindest hat sie nicht so stattgefunden, wie es weltweit erwartet wurde" (Riesebrodt 2007, 11). Riesebrodt will zwar nicht behaupten, dass Religion ein absolut notwendiger Bestandteil menschlicher Existenz sei, doch ihr Verschwinden sei äußerst unwahrscheinlich (Riesebrodt: 2007, 239).
Schon 2000, und das war noch vor dem 11.09.2001, sprach er angesichts eines wachsenden Fundamentalismus in den Religionen von einer "Rückkehr der Religionen" (Riesebrodt: 2000): Überrascht wären wir, nicht auf eine Revitalisierung vorbereitet, entscheidend sei aber, dass weder eine Entscheidung für noch eine gegen Säkularisierung weiter helfe; vielmehr wäre zu hinterfragen warum beide Prozesse, Säkularisierung und die Persistenz beziehungsweise Verstärkung von Religiosität, gleichzeitig stattfänden und wie sie zusammenhängen könnten.
In der scheinbaren Rückkehr der Religionen bleibt einiges ziemlich unklar: Führte Religion wirklich nur ein Schattendasein und kommt sie nun in ihrer Bedeutsamkeit wieder oder war sie nie "abgetaucht" und wurde lediglich nicht diskursiv in den Blick genommen, da die Säkularisierungsthese dominierte? Und was könnten "Gründe" für die neuerliche Verstärkung der Präsenz von Religion und deren Thematisierung sein? Es soll hier nicht darüber entschieden werden, aber diese Spannung prägt die vorliegenden Diskurse in essenzieller Weise, vor allem hinsichtlich der ungeheuerlichen Herausforderung des Denkens, wie die vielfältigen Prozesse miteinander verflochten sein könnten - gemeint ist eine verstehende Thematisierung der Zusammenhänge, die schon Riesebrodt einforderte.
Neben dem Heilsversprechen der Religionen, das vor allem in Krisen aktiviert werden kann, erfährt die Kategorie des Sinns eine neue und vor allem religiöse Bedeutung. Jürgen Habermas hat in seinem Essay "Zwischen Naturalismus und Religion" darauf hingewiesen, dass religiösen Überlieferungen die Artikulation eines Bewusstseins ermöglichen, dass etwas im Leben fehle; Religionen sei eine "Sensibilität für Versagtes" eingeschrieben, dies bringe ein Potenzial an die Oberfläche, das eine "inspirierende Kraft" entfalten könne (Habermas: 2005).
Wenn etwas inspirieren soll, dann scheint tatsächlich etwas zu fehlen. Folgt man den aktuellen Zeitdiagnosen, deren Protagonisten hier nicht alle zitiert werden können, dann ist genau dieser Sinn beziehungsweise diese bedeutsame Sinnproduktion und Sinnvermittlung fraglich geworden, da im "postmo-dernen Allerlei" oder in der "zivilisatorischen Monokultur" die Bedeutung der Erfahrung und der Tradition abnehmen und sich in einer "Diktatur der Wirklichkeit" und einer radikalen Beschleunigung keine Klarheiten mehr einstellen (Gronemeyer: 2012; Rosa: 2005, 2013).
In einer "ausgedehnten Gegenwart" (Gummert: 2010) hat der "Himmel" als Metapher für eine "über" den Menschen und ihren Kulturen liegende Halt und Gewissheit gebende Transzendenz, Tradition und Dauerhaf-tigkeit ausgedient, da er sich in Konzepten moderner Naturwissen-schaften und vor allem als Objekt der Astrophysik auflöse, seine kulturerhaltende und stabilisierende Kraft würden in der globalen Modernisierung nachhaltig in Frage gestellt (Gronemeyer: 2012).
Vielfältige Beobachtungen belegen immer wieder, dass gerade die Frage nach dem Sinn, die Erfahrung eines Lebenssinns, der durchhaltbar ist, den Menschen sehr wichtig war und ist. Norbert Bolz hat uns darauf hingewiesen, dass in jedem Menschen ein Metaphysiker stecke, da das Streben nach Sinn konstitutiv zum Menschen gehöre (Bolz: 2008, 87). In dieser Sinnproduktion scheint menschlicher Lebensführung eine wesentliche und wissenschaftlich nur schwer zu beantwortende Frage zu liegen, die sich in Mo-dernisierungsprozessen offenkundig noch verschärft, insbesondere wenn diese als Bedrohung beziehungsweise als koloniale Hegemonie des Westens begriffen werden. Wenn der Sinn aber zur Disposition steht und mit Mitteln einer wissenschaftlichen Moderne nicht geliefert werden kann, dann haben Religionen einen gewissen Vorteil.
Deshalb ist es letztlich wenig bedeutsam, ob es eine Zunahme an Religionen gibt. Wesentlicher scheint, dass vor allem Suchbewegungen nach überschaubaren Sinnprovinzen sowie damit verknüpfte Hoffnungen auf soziale Integration, auf soziale und ökonomische Sicherheit, aber auch Belebungen der Traditionen und der normativen Rahmungen alltäglicher Handlungsmuster in der "Rückkehr der Religionen" auftauchen. Eingelagert sind dabei allerdings auch Bilder einer Zukunft, die sich durch Gottgefälligkeit als paradiesische Welt zeichnen lassen und mitunter voller Erlösungsphantasien scheinen. Manche dieser Bilder und Phantasien sind als Praxis extrem gewalttätig, wie der Islamische Staat, andere verlaufen eher unspektakulär wie die Migrationskirchen.
Es mehren sich die Diskurse darüber, dass insbesondere radikale Modernisierungsprozesse in einer sich globalisierenden Welt Religion zu einer neuen Bedeutung verhelfen, die sich insbesondere auch in Bereichen der internationalen Politik zeigen. Noch ist in diesen Entwicklungen nicht klar erkennbar, ob es sich dabei nur um eine Instrumentalisierung von Religion für politische Zwecke handelt oder ob wir es mit einer genuinen Renaissance des Religiösen zu tun haben. Wenn der Islam und das Christentum schon immer einen allumfassenden Anspruch erhoben haben, so erscheint dieser im Zeitalter der Globalisierung zumindest in einem neuen Licht.
Im editorial der Zeitschrift peripherie, die sich in einer Doppelausgabe mit "Religionen in Bewegung" beschäftigt, wird genau das zugespitzt und als ein neues Spannungsfeld dargestellt: "Die neu entfachte Debatte um die öffentliche Präsenz von Religionen, Forderungen nach Mitsprache und Repräsentation organisierter Religionen in den Staatsapparaten ließ Grenzziehungen zwischen säkularem Staat, ziviler Öffentlichkeit und Privatsphäre, die noch vor kurzer Zeit als gefestigt und abgesichert galten, ins Wanken geraten".
Aus diesen grundsätzlichen Überlegungen lassen sich fünf Thesen der Herausgeber als "Zwischenstand" formulieren:

1 Die Moderne ruht auf einem ungeheuerlichen Wissen der Religionen, das über Jahrtausende verdichtet wurde.
2 Zugleich hat sie diese als Praxis mit essenzieller politischer Bedeutung aus ihren zentralen Bereichen verdrängt.
3 Dennoch erleben wir eine politische Wiederkehr der Religion, darin stellt sich die Frage, ob Modernisierung zwangsläufig zur Säkularisierung führte oder ob diese nur eine Option unter mehreren darstellt.
4 Mit Säkularisierung und Modernisierung verbinden sich offenkundig Fallstricke und Bedrohungen, die es zu benennen gilt und deren Folgen analysiert werden müssen.
5 Die vielfach diagnostizierte "Wiederkehr der Religion", vor allem auch in politischen Kontexten, kann nicht verleugnen, dass es einen alten Bezug zwischen Religion und Politik gibt, aus dem heraus die neuerlichen Beziehungen erst zu erklären sind.
Resultierende Praxen, die ein neues Spannungsfeld zeigen, sollen im vorliegenden Buch erörtert werden. Dieses geht auf eine von der FH Erfurt und der Uni Erfurt im Wintersemester 2013/2014 veranstaltete Ringvorlesung zu Religion und Politik zurück. Der gewählte multiperspektivische Zugang führt Experten unterschiedlicher Fachrichtungen zusammen. Klar ist, dass es keine eindeutigen Antworten geben wird; insofern ist das Buch ein offenes Projekt. Es wird keine "neue Synthese" dieses "alten Verhältnis" versucht, dennoch folgen die Beiträge einem Schema.
Die ersten Beiträge führen in die Thematik ein und leuchten sie in ihren Konflikten und Konzepten aus. Die weiteren Aufsätzen orientieren sich an Fragen, die daraus resultieren: Mit einem neuen Blick auf Moderne und Religion sind auch die Grundfragen und Brennpunkte des Verhältnisses von Religion und Politik neu zu zeichnen, historisch und aktuell, in Bezug auf Lebenswelten und in aktuellen Brennpunkten.
Das Verhältnis soll in einer historischen Annäherung rekonstruiert werden, um aus dem geschichtlichen Verständnis eines langen und die Gegenwart prägenden kulturellen Gedächtnisses Blicke auf die Gegenwart zu werfen. Dabei werden Konflikte zwischen Religion und Politik sowie die darin liegende Nähe kontrovers diskutiert. Religion und Politik zeigen in einem anregenden aber auch gefährlichen Spannungsverhältnis, das zwischen Autorität und Freiheit pendelt, Räume öffnet und zugleich schließt, aber letztendlich dennoch nicht auf Dauer fixierbar ist, das sie immer wieder neu zu reflektierende und zu bestimmende Pole und Energiespender menschlicher Kulturen sind.


Ronald Lutz und Doron Kiesel sind Professoren an der FH Erfurt University of Applied Sciences.


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