Kiening | Letzte Züge | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Kiening Letzte Züge

Eine Geschichte
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-86337-142-5
Verlag: weissbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Geschichte

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-86337-142-5
Verlag: weissbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



"Auf Reisen gleichen wir einem Film, der belichtet wird. Entwickeln wird ihn die Erinnerung."
Max Frisch
Aufzeichnungen, Dokumente, Briefe – auf diesen Spuren von Erinnerung ist Christian Kiening unterwegs. In 17 Kapiteln eröffnet seine Reise, seine Recherche das vielschichtige Panorama einer Familiengeschichte. Es sind die Wege zweier Generationen, konfrontiert mit Kriegen, Flucht, Gefangenschaft und Neubeginn. Spuren einer Kindheit am fränkischen Main, ein Leben im besetzten Polen, das München nach 1945: Eine Familie zwischen Pragmatismus und Schwärmerei, Sehnsüchten und Enttäuschungen. "Vor unseren Augen", sagt der Autor, "vollzieht sich die Arbeit des Erinnerns. Für Augenblicke erhalten die Toten eine Stimme, in der sich Gewusstes und Vorgestelltes überlagern."
Christian Kienings Debüt ist ein spannendes, mutiges und erzählerisch kraftvolles Stück Literatur, eine poetische Rekonstruktion, in der wir lesend miterleben, wie Erinnerung funktioniert.

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1
Es war Ende August und hatte wochenlang nicht geregnet. Die Barometer schienen ihren Geist aufgegeben zu haben. Die Luftbewegungen waren minimal. Man sprach von der Erderwärmung und von Wassermangel und reduzierte die Duschzeiten. Die Fensterläden blieben tagsüber geschlossen. Nachts kroch eine klebrige Wärme aus den Mauern in die Betten. Im Halbschlaf schleppte ich mich durch langgezogene Wüstenkrater. Feuerbälle gingen nieder. Erde, Sand und Geröll verdampften. Buchstaben tänzelten dazwischen. Bruchstücke eines Artikels über Asteroiden. Aufgeschmolzene Masse. Zersplitternde Energiequanten. Zerstäubende Materie. Alles Leben in hundert Kilometern Umkreis ausgelöscht. Nur die flinken Paramys, die grauen Schattenschwänzer, die zwischen Himmel und Erde hin- und hereilen, überleben mit versengtem Fell und verkürztem Schwanzbusch. Glühwürmchen blitzen in ihren Augen, ihre Flüche erreichen Spitzenwerte. Über Ländern, die vielleicht einmal Böhmen, Mähren oder Polen heißen werden, gehen kleine Schmelztropfen nieder, flaschengrün, olivgrün, durchsichtig. Als mich die Todesnachricht erreichte, war es Nachmittag. Das kannte ich nicht. In der Kindheit waren solche Botschaften immer spätabends eingetroffen, wenn ich schon im Bett war. Das Telefon im Flur, bei dem man stehen musste, hatte geläutet. Eine gedämpfte Unruhe und Betriebsamkeit hatte sich ausgebreitet, deren Grund sich erst am Morgen danach enthüllte. Jetzt traf mich die Nachricht mitten in der Arbeit. Ich brütete über Sterbebüchlein und Totentänzen. Kadaver und Skelette in ihrem grotesken Reigen. Formeln, der Gemeinde eingehämmert vom Prediger, Bedenke, Mensch, dass du Staub bist, Spiegelsätze der Toten, Was wir sind, das werdet ihr, Worte wie abgestandenes Bier, auf das ein schräger Lichtstrahl trifft. Die metaphysischen Schimmelzitronen auf dem Stillleben, in einer schmalen Lücke zwischen den Bücherregalen, schienen sich unmerklich vergrößert zu haben. Bei der Fahrt von Zürich ins Schwäbische flimmerte die Hitze über dem Asphalt und den halb abgemähten Feldern. Die Kühe drängten sich unter den wenigen Bäumen. Die Traktoren wirbelten kilometerweit sichtbar trockene Erde auf. Im Rieskrater stieg die Temperatur nochmals an. Das Flimmern gaukelte mir Urzeitgewässer vor, entstanden durch den Asteroideneinschlag. Die Flussläufe von Ur-Main und Ur-Altmühl waren blockiert worden und hatten einen See gebildet bis zum heutigen Nürnberg hin. In Nördlingen stanken die Gullis. Die Passanten schlichen an den Hausmauern entlang. Das Freibad am Stadtrand, das sich jetzt Solarbad nannte, barst vor Besuchern. Bei den Bestattungsinstituten war kaum ein Termin zu bekommen. Michaela, das Jahrhunderthoch, rettete ihnen die Bilanzen. Blond und sehr groß gewachsen, mit schweren Gliedern, warf sie sich über die Alten und nahm ihnen die Luft zum Atmen. Beim Aussteigen vor der Friedhofskirche verbrannte ich mir die Hand am Autodach. Der Hemdkragen scheuerte. Der schwarze Anzug staute die Wärme. Die Schuhe drückten. Mein Mund war trocken. Ich schüttelte die Hände von Menschen, die mich von früher kannten. Im Innern der Kirche nicht das erwartete Halbdunkel, sondern gleichmäßiges Licht, getönt durch moderne monochrome Glasfenster. Der Weihrauchgeruch nicht so stark wie in meiner Kindheit, als die Ministranten die Fässchen heftig geschwenkt hatten und der harzige Rauch stoßweise in die Bankreihen geschwappt war, wo ich halb ohnmächtig wurde – ein willkommener Grund, der Messe fernzubleiben. Jetzt eine eher dezente Note, untermischt mit dem Duft von Lilien und Sommerblumen. An den Längsseiten die Stationen des Kreuzwegs als Holzreliefs, vorne auf der weißen Schiebetafel die Stellen aus dem Gesangbuch. Standardmäßige Kränze mit Schriftbändern fehlten. Von den Bänken waren nur die ersten Reihen besetzt, hinten ein oder zwei Stammgäste. Die Würdigung der Verstorbenen war genau und floskellos. In wenigen Strichen entstand das Bild eines langen Lebens, in dem immer die Pflicht vor der Neigung, die Selbstdisziplin vor dem Genießen gegangen war. Neidlos, aber sorgenerfüllt, korrekt und genügsam. Was sie sich gönnte: hie und da einen Piccolo am Nachmittag, verführerisch dunkle Elly Seidl Pralinen, Fußballübertragungen in Radio und Fernsehen. Eine späte und überraschende, durch nichts vorbereitete Leidenschaft. Am Grundtenor änderte dies nichts. Ich erinnerte mich, wie sie mir in einem Brief, als ich von zuhause auszog, geschrieben hatte, es sei ihr vom Schicksal nicht bestimmt gewesen, ein leichtes Leben zu führen. Die Bibelworte entgingen mir. Ich hörte nur den Namen Paulus, das war auch ihr Familienname, und musste an die Figur denken, die im Kirchlein von St. Prokulus in Naturns an die Wand gemalt ist. Der Apostel zwischen zwei Seilen, vielleicht bei der Flucht aus Damaskus. Es sieht aus, als schaukle er. Sie mochte das Bild, weil es sie an die wenigen gemeinsamen Urlaube mit ihrem Mann, meinem kunstliebenden Großvater, erinnerte. Lange hing eine Reproduktion in meiner ersten Wohnung. Der Großvater schreibt: Das Haar des Heiligen legt sich, vom Scheitel spitz anlaufend und seitlich breiter werdend, an den Kopf. Die Bartdarstellung, die einzig erhaltene aus dem ganzen Freskenzyklus, erfolgt durch drei spitze, teilweise gedrehte Zipfel. Die angewinkelten Arme laufen in den geschlossenen Händen aus, den Fäusten, die die Gestalt auf dem Seile halten sollen, in Wirklichkeit aber am Seil vorbei ins Leere greifen. Die Kleidung des schwebenden Heiligen besteht aus parallelen schwarzen, grauen, roten und gelben Farbstreifen, die sich an den Knien zu konzentrischen Kreisen schließen und an den Unterarmen durch zwei gegeneinander gestellte Kreissegmente abrunden. Dadurch verliert die Gestalt jede Körperlichkeit und erscheint wie an die Wand gepresst. Die Orgelmusik wurde mir zum Choral, ein Intro auf der Hammondorgel, an Bach orientiert, mit geheimnisvollen Worten, die ich immer missverstanden hatte. We skipped the light fandango. Nach der Trauerfeier umrundete ich auf der mittelalterlichen Stadtmauer noch einmal den Ort. Das war leichter als früher, als ganze Teile wegen schadhafter Stellen gesperrt gewesen waren. Jetzt konnte man sich ungehindert dem Dämmer des Umgangs hingeben, dem Rhythmus der Schießscharten, den schmalen Lichtbahnen, in denen der Staub tanzte. Durch die Spinnweben hindurch die Anlagen und Häuser jenseits der Mauer wie auf rissigen Fotos. Ich stieg auf den Daniel, den Turm der Georgskirche. Von hier aus ist die ganze Region zu überblicken, der Krater, die grün-gelbe Ebene, in der flirrenden Luft wie eine Wasseroberfläche, der die Seejungfrau entstiegen sein könnte, die die Volksüberlieferung hier gesehen hat. In der Ferne die Orte Pflaumloch, Kleinerdlingen und Großelfingen, die mir einmal wie Überreste einer versunkenen Welt erschienen waren. Davor die Felder, an denen entlang ich die ersten kleinen Wanderungen unternommen hatte, in kurzer Lederhose, die Hand über die weichen Blätter des jungen Mais streifend, in der Nase der scharfe Geruch des Düngers, der aus den Silos der Bauernhöfe strömte. Irgendwo von dort war der Bauer hergekommen, bei dem wir die Kartoffeln kauften. Weithin schallte sein rätselhaftes Errdriöööööh. Manchmal nahm er den Vierjährigen auf seinem Traktor mit, zu den Waldrändern und Lichtungen, wo die Hochsitze der Förster und Jäger waren. Ich fuhr zum Stadtrand, stellte das Auto neben den Spielplatz und nahm den Weg nach oben zum Wald. Den Hohlweg. Er war einmal beidseitig dicht von Sträuchern gesäumt gewesen, auch Bäume hatten hier gestanden, ein kleiner darunter, von dem ich mir eingebildet hatte, er sei aus einer eingegrabenen Kastanie gewachsen. Jetzt lag der Weg fast frei, die Steigung schien geringer geworden zu sein. Wie sollten wir hier auf dem kleinen Holzschlitten, ich vorne thronend, die Großmutter hinten halb vom Sitz hängend, hinuntergesaust sein. Der Wald, die Marienhöhe, wirkte luftiger als früher. Die inneren Teile, kleine Täler, denen ich verschiedene Namen gegeben hatte, waren weniger dunkel und bargen nicht mehr die Schätze, die ich auf einer geheimen Karte verzeichnet hatte. Silberseen, Bären und Schlangen, pilzsammelnde Squaws und kriegsbemalte Mohikaner. Statt imitierter Tierschreie nun das ferne Ploppen von Tennisbällen. Zettel an den Bäumen von einer Schnitzeljagd, die archaischen Sinnzeichen, die wir in die Rinde geritzt hatten, waren verschwunden. Nur die Feuerwanzen wuselten noch so zahlreich und unappetitlich wie einst. Turned cartwheels ’cross the floor. Dann stieß ich doch noch auf ein massives Relikt der Vergangenheit: den Hexenfelsen auf dem Galgenberg, der in der frühen Neuzeit als städtische Hinrichtungsstätte gedient hatte. Lange hatte er mich beschäftigt. Zunächst wegen der merkwürdigen Feuerspuren auf dem Felsendach. Dann wegen der Geschichte der Maria Holl, der angeblichen Hexe, die 62 Folterungen...


Christian Kiening, geb. 1962 in München, lebt und arbeitet seit knapp 20 Jahren in Zürich. Studium der Deutschen Philologie, Geschichte und Philosophie. Seit 2000 Professur für Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich; Gastprofessuren in Paris, Berkeley, São Paulo, Chicago und Stanford.
Publikationen (Auswahl): Zwischen Körper und Schrift (Fischer, 2003), Urszenen des Medialen (Wallstein, 2012), Literarische Schöpfung im Mittelalter (Wallstein, 2014).



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