E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Reihe: übermorgen
Khorsand Pathos
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-218-01267-6
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Reihe: übermorgen
ISBN: 978-3-218-01267-6
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Pathos ist überall. Permanent sind wir bewegt, empört und berührt von der Welt – und wollen das auch mit allen teilen. Pathos bedeutet Macht. Wenn die eigene Bewegtheit andere bewegt, kommen die Dinge erst ins Rollen. Dann kann Pathos Veränderung bedeuten. Gleichzeitig spiegelt sein Einsatz auch die herrschenden Machtverhältnisse wider.
Scharf und pointiert seziert Solmaz Khorsand die einzelnen Tonlagen des uns stets umgebenden Pathoskonzerts. Sie misst die Lautstärke der Wortführer und hört bei den leisen Äußerungen der Ausgeschlossenen genau hin. Sie spürt, wessen aufgeregtes Geheul Gewicht hat und wem man rät, doch bitte nicht so pathetisch zu sein. Sie zeigt den fein balancierten Kipppunkt, an dem sich entscheidet, ob Pathos zu Achtsamkeit führt oder zu Radikalisierung. Und nicht zuletzt tritt sie ein für ein Innehalten, ein Dämpfen unseres eigenen Lärms und einen realistischen Blick auf uns selbst, der dazu ermutigt, im richtigen Moment einfach mal den Mund zu halten.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Die Krise als Privileg
„When they speak, it is scientific; when we speak, it is unscientific. When they speak, it is universal; when we speak, it is specific. When they speak, it is objective; when we speak, it is subjective. When they speak, it is neutral; when we speak, it is personal. When they speak, it is rational; when we speak, it is emotional. When they speak, it is impartial; when we speak, it is partial. They have facts, we have opinions. They have knowledge, we have experiences.”35 Grada Kilomba Empathie, aber nur für meinesgleichen
„Wir“ und „sie“. Wer steht im Zentrum, wer an der Peripherie? Wer wird zur Norm erklärt, zum sprechenden, wertenden, fragenden, bestimmenden Subjekt, und wer zum stummen Objekt gemacht? Grada Kilomba kennt die Peripherie. Die portugiesische Theoretikerin, Psychologin und Künstlerin, deren Familie aus São Tomé und Principe und Angola stammt, wurde als Wissenschafterin von ihren weißen Kolleginnen oft dorthin gedrängt. Ihre Einschätzungen wurden als zu persönlich, ihre Perspektive als zu emotional, ihre Kommentare als zu spezifisch abgetan. Man wollte immer wissen, ob das denn „objektive Fakten“ seien, wovon sie, „die Königin der Überinterpretation“36, da sprechen würde, ohne zu reflektieren, dass sie selbst nicht von einem neutralen, einem universalen Standpunkt aus sprechen, sondern von einem dominanten37: „Such comments function like a mask, that silences our voices, as soon as we speak. They allow the white subject to place our discourses back at the margins, as deviating knowledge, while their discourses remain at the center, as the norm”38, schreibt sie in ihrem Buch Plantation Memories. Es finde hier „keine friedliche Koexistenz des Wortes“ statt, sondern „eine gewalttätige Hierarchie“, die definiert, wer sprechen darf. Wie stark diese Hierarchie verinnerlicht wurde, veranschaulicht Kilomba anhand des vermeintlich objektiven Wissenschaftsbetriebs. Ein Kapitel beginnt sie mit einer Anekdote aus ihrer Zeit als Gastprofessorin am Zentrum für Transdisziplinäre Geschlechterstudien an der Berliner Humboldt-Universität. Zu Beginn jedes Semesters testet Kilomba ihre Studenten. So will sie von ihrem deutschen Auditorium beispielsweise wissen, welche afrikanischen Länder Deutschland kolonialisiert hat. Wann die deutsche Kolonialherrschaft auf dem afrikanischen Kontinent ihr Ende fand? Wer Queen Nzinga war? Und wer May Ayim? Weiße Studierende können in der Regel ihre Fragen nicht beantworten, Schwarze hingegen schon. Warum ist dieses Wissen für die einen relevanter als für die anderen? Wessen Unrecht findet Eingang in die Geschichtsbücher, Hörsäle und letztlich ins kollektive Bewusstsein? Wessen Pathos macht Geschichte? Die Antwort liegt in der Dichotomie. Im „Wir“ und in „Denen“. Wer den Anspruch hat, die Menschheit als Norm zu repräsentieren – und sei diese Norm noch so fiktiv und imaginiert –, hat auch den Anspruch, seine Krise als eine Krise der gesamten Menschheit zu postulieren. „Das Privileg der Krise“, nennt es die Anglistin Elahe Hashemi Yekani in ihrer gleichnamigen Doktorarbeit. Als Ausdruck einer weißen hegemonialen Männlichkeit, die permanent durch Sprache, Ästhetik, Narrative und Diskurse (re)konstruiert wird, hat sich auch die Krise des weißen Mannes als einzig ernst zu nehmende etabliert. Zwar würden sich auch andere Gruppen im Krisen-Narrativ versuchen, doch seien ihre Krisen am Ende des Tages „nur“ Partikularkrisen, die nur sie betreffen, nicht die Allgemeinheit.39 Die Schweizer Philosophin und Geschlechterforscherin Patricia Purtschert hat diese männlichen „Existenzialkrisen“ untersucht. Und zwar in den höchsten Bergen der Welt. „Obwohl sich einheimische und ausländische Frauen bereits in einer frühen Phase am Himalaya-Bergsteigen beteiligten, waren die Expeditionen Mitte des 20. Jahrhunderts diskursiv auf die Herstellung und Stabilisierung einer eurozentrischen Männlichkeit angelegt“, schreibt sie in ihrem Buch Kolonialität und Geschlecht im 20. Jahrhundert. Aus Expeditionsberichten und Filmen dieser Zeit lässt sich herauslesen, wie die Schweizer Bergsteiger in der „Todeszone“ über 7000 Metern Höhe als Helden der gesamten Menschheit in ihrem Kampf mit den Elementen überhöht wurden: „Die unbehaglichen Symptome des Sauerstoffmangels treten häufiger und heftiger auf. Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Schwindel, Muskelschwäche und vor allem Halsschmerzen. Der Himalajabesteiger ist ein Kranker, für dessen Leiden es nur ein Heilmittel gibt: Rückkehr in die Tiefe. Und doch, wie haben wir diesen Kampf gegen den Berg ersehnt“, zitiert sie aus dem Film Mount Everest 1952.40 Purtschert, die das Interdisziplinäre Zentrum für Geschlechterforschung an der Universität Bern mitleitet, lacht, wenn sie an diese Darstellungen denkt. „Es ist schon interessant, wem zugestanden wird, Pathos auszustrahlen und wer als pathologisch gilt“, sagt sie im Gespräch. „Ich fand die Berichterstattung über diese Bergsteiger krass. Sie haben sich übergeben, sind auf allen Vieren gekrochen, haben den Verstand verloren und wurden dafür gefeiert. Sie galten nicht als ‚krank‘, sie waren Helden.“ Niemand hat sich über die kotzenden und halluzinierenden Männer lustig gemacht. Keiner hat ihre Körper im Zustand der absoluten Verletzlichkeit bloßgestellt. Von Anfang bis zum Ende ihrer Expeditionen genossen sie ein Privileg, das den meisten Menschen in der Krise verwehrt wird: eine würdevolle Darstellung ihres Pathos. Nur wenige haben Anspruch darauf, wie Purtschert erst wieder im Corona-Lockdown festgestellt hat, als sie die Berichterstattung über die zahlreichen Toten aus Norditalien verfolgte. Während Männer und Frauen außerhalb reicher Industrienationen gerne dahinsiechend in voller Blöße gezeigt werden, sobald sie eine Katastrophe trifft, hatten die Italiener das Privileg, dass ihnen die Welt nicht beim Sterben zusah. Es gab keine Nahaufnahmen erstickender Körper, keine verzerrten Gesichter, keine leeren Augen, nur sorgfältig ausgesuchte Bilder, die die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen wahrten. Warum schaffen das die Medien nicht bei Ebola-Infizierten im Kongo? Bei verhungernden Kindern im Jemen? Bei Tsunamitoten in Indonesien? Purtschert erklärt es sich mit der kolonialen „Ausstellungskultur“: „Der nichtweiße Körper, der weiße weibliche Körper und Körper, die nicht in die Geschlechterbinarität passen, werden aus der dominanten Perspektive zum Spektakel gemacht. Es gibt eine lange Traditionslinie kolonialer und patriarchaler Blickregimes, die andere Körper zum Spektakel machen, immer wieder aufs Neue.“ Diese Perspektive ermöglicht es, sich vom Anderen zu entkoppeln und das Andere aus der Distanz zu bewerten. Es ist ein entmenschlichender Blick, der am Ende auch über das Maß an Empathie bestimmt, das dem Pathos des Gegenübers entgegengebracht wird. In ihrer Forschung hat Purtschert auch Schweizer Schokoladenwerbung analysiert. Sie erinnert sich an ein besonders rassistisches Bild einer Lindt-Werbung aus den 1930er Jahren, auf dem eine Schwarze Frau zu sehen ist, die verängstigt in die Kamera schaut und im Arm ein Baby hält. Darunter stehen die Worte: „Rassig, braun und süss und fein, wie dies kleine Negerlein.“ Lange hat Purtschert über diese Werbung mit der verängstigten Mutter nachgedacht, die trotz ihres klar als verstört zu interpretierenden Blickes in eine „weiße Logik des Konsumierens, Genießens und Verzehrens“41 eingebunden wurde. Purtschert kommt zu dem Schluss, dass dies nur möglich ist, wenn es einen „Cut“ in der Empathie gibt. Es ist ein Cut, der ständig wiederholt werden muss. Der entmenschlichende Blick auf den Schwarzen Körper muss permanent aufrechterhalten werden, um „ein ständiges Verlernen von Empathie, von Mitleiden, von Mitfühlen in Bezug auf gewissen Menschen im Unterschied zu anderen“ möglich zu machen. Warum macht es einen Unterschied in der Wahrnehmung, ob ein Kreuzschiff mit weißen Menschen im Mittelmeer kentert oder ein Schlauchboot mit Flüchtlingen untergeht? In beiden Fällen sind Tote zu beklagen. Doch nur ein Fall schafft es auf die Titelseite. Und nur ein Fall weckt nationale Trauer und internationale Anteilnahme. „Wir stellen zu Menschen, die wir zu anderen machen, diese Nähe, diese Bezugnahme, diese...