Geschichte einer humanitären Weltbewegung
E-Book, Deutsch, Band 2757, 128 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
ISBN: 978-3-406-64713-0
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
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- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Kultur- und Ideengeschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Militärgeschichte
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Internationale Beziehungen Internationale Organisationen und Institutionen
Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titel;3
3;Impressum;4
4;Inhalt;5
5;I. Prolog;6
6;II. Die Ausgangslage: «Denn unter den Waffen schweigen die Gesetze»;9
7;III. Henry Dunant: «Eine Erinnerung an Solferino» (1862);13
8;IV. Genf: Die Gründungsphase (1863/ 64);20
9;V. Vom Honoratiorenverein zur humanitären Weltmacht: Ein historischer Überblick;43
9.1;1. Das Rote Kreuz in Zeiten von Nationalismus und Militarismus (1865–1914);43
9.2;2. Das Rote Kreuz vor seiner ersten großen Bewährungsprobe: Der Erste Weltkrieg (1914–1918);58
9.3;3. Das Rote Kreuz in Zeiten struktureller und inhaltlicher Neuausrichtung (1919 –1929);64
9.4;4. Das Rote Kreuz und die Konflikte der Zwischenkriegszeit;70
9.5;5. Das Rote Kreuz und der Nationalsozialismus;78
9.6;6. Das Rote Kreuz und der Zweite Weltkrieg (1939 –1945);91
9.7;7. Das Rote Kreuz vor den Herausforderungen der Nachkriegszeit;96
9.8;8. Das Rote Kreuz nach 1945: Humanitäres Engagement in einer sich wandelnden Welt;100
10;VI. Die Grundsätze der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung;108
11;VII. Die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung: Ein institutionelles Gefüge besonderer Art;112
12;VIII. Das Rote Kreuz heute: Herausforderungen und Perspektiven;121
13;IX. Epilog;124
14;Literatur;125
15;Register;127
16;Organisationsdiagramm der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung;129
17;Daten und Fakten;130
IV. Genf: Die Gründungsphase (1863/64)
Publizistischer Erfolg. In ganz Europa war das Echo auf die Schrift Henry Dunants überwältigend: Binnen weniger Monate waren zwei weitere Auflagen erforderlich. Schon 1863 wurde das Buch auch ins Deutsche, Holländische und Italienische übersetzt und Charles Dickens machte die Schrift noch im Frühjahr 1863 durch lange und wohlwollend kommentierte Textauszüge in seiner populären Wochenschrift «All Year Round» auch in England einem breiten Publikum bekannt. In seltener Einmütigkeit und mit teilweise überschwänglichen Worten zollte das politische, gesellschaftliche und intellektuelle Europa über alle nationalen, ideologischen und weltanschaulichen Grenzen hinweg dem flammenden Appell Dunants für mehr Menschlichkeit im Kriege Beifall: «Sie haben das größte Werk des Jahrhunderts geschaffen. Europa wird es vielleicht nur allzusehr brauchen können», so schrieb der französische Philosoph Ernest Renan. Und das inoffizielle Zentralorgan der intellektuellen Elite Europas, das Pariser «Journal des débats politiques et littéraires», kommentierte in seinem Heft vom 15. Februar 1863 nicht weniger euphorisch: «Dieses im besten Sinne humanitäre Werk ist eine Aufforderung an jedermann, welcher Nation, welcher Religion oder welcher Weltanschauung er auch angehören möge […] Russen, Engländer, Österreicher und Franzosen werden sich auf einem gemeinsamen Gebiet begegnen, auf dem Gebiet der Barmherzigkeit und der wahren Zivilisation.» Der in Europa und Nordamerika intellektuell bestens vernetzte Historiker und Diplomat Adolphe de Circourt fand schließlich geradezu prophetische Worte: «Es ist nur allzu wahrscheinlich, daß eine Reihe von gigantischen Kriegen ausbrechen und in allen Teilen der beiden Kontinente [gemeint sind Europa und Amerika] die Lösung der Probleme übernehmen werden, bei denen die Gewalt nach dem Geheiß der menschlichen Natur die getreue Begleiterin des Rechts ist. So kommen sie gerade zum rechten Augenblick. Es gibt kein Land, das Ihnen nicht Zustimmung und Beachtung schuldet. Ihr Name wird für immer zu den wenigen gehören, die sich um die Menschheit Verdienste erworben haben.» Derartige Äußerungen waren zwar in der Tat außerordentlich schmeichelnd und ermutigend – und wurden von Dunant auch durchaus so empfunden. Seinem konkreten Ziel, eine «internationale, rechtsverbindliche und allgemein hochgehaltene Übereinkunft zu treffen, die, wenn sie erst festgelegt und unterzeichnet ist, als Grundlage dienen könnte zur Gründung von Hilfsgesellschaften für Verwundete in den verschiedenen Ländern Europas», brachten sie ihn aber letztlich keinen Schritt näher. Zudem räumten viele Zeitgenossen den visionären Ideen Dunants auch nur geringe Realisierungschancen ein. Zu groß seien die nationalen Egoismen und zu mächtig der intellektuelle Mainstream, der die Rolle des Staates nach innen und außen zunehmend zu verabsolutieren suchte. Selbst Florence Nightingale, die die humanitären Ziele Dunants durchaus teilte, hielt die Idee der Einrichtung eines freiwilligen, neutralen und unabhängigen Hilfsdienstes zur Ergänzung der armeeeigenen Sanitätstruppe nicht nur für «schlichtweg absurd», sondern nannte sie auch «practically impracticable» («praktisch undurchführbar»). Skeptisch äußerte sich auch ein anderer Veteran des Krimkrieges, der «médecin principal» der französischen Armee Jean-Charles Chenu. Kurz: Die Reaktion derjenigen, die praktische Erfahrungen in der Sanitätshilfe hatten, war alles andere als ermutigend. Die Entstehung des Genfer Komitees. So sollten denn nach ihrer intellektuellen Geburt auch die ersten praktischen Schritte zur Verwirklichung der Rotkreuzidee Genfer Akteuren vorbehalten bleiben. Natürlich hatte Dunant dafür gesorgt, dass «Eine Erinnerung an Solferino» auch in seiner Heimatstadt größtmögliche Aufmerksamkeit erfuhr. Einer der vielen Adressaten seines Buches war Gustave Moynier. Der 1826 geborene Jurist war Dunant nicht nur aus gemeinsamen Schultagen am altehrwürdigen «Collège Calvin» wohlbekannt, sondern auch aus der gemeinsamen Mitgliedschaft in der Genfer Geographischen Gesellschaft. Vor allem aber war Moynier damals Präsident der «Société genevoise d’utilité publique», der Genfer Gemeinnützigen Gesellschaft. Das Kernanliegen dieser 1828 von Genfer Notabeln in aufklärerisch-calvinistischem Geist gegründeten Gesellschaft war es, zur Verbesserung der Institutionen des Armen- und Fürsorgewesens beizutragen. Der von Haus aus begüterte Moynier hatte hier und in anderen philanthropischen Aktivitäten seine Lebensaufgabe gefunden. Durch die Teilnahme an den internationalen Wohlfahrtskongressen in Brüssel (1856), Frankfurt (1857) und London (1862) hatte er sowohl der ein wenig unter Perspektivlosigkeit leidenden Genfer Gemeinnützigen Gesellschaft als auch sich selbst neue, internationale Horizonte eröffnet. Kein Wunder also, dass der von Tatendrang erfüllte Philanthrop unmittelbar nach der Lektüre der Dunant’schen Schrift Kontakt mit dem Autor aufnahm: Hier bot sich ihm (endlich) die Gelegenheit, an der Verwirklichung einer humanitären Idee von universeller Bedeutung und hoher Praxisrelevanz mitzuwirken. In einer Notiz über die erste Begegnung der beiden Hauptprotagonisten der Gründungsphase der Rotkreuzbewegung im November 1862 hat Moynier wohl ein wenig überrascht festgehalten, dass Dunant sich offensichtlich keinerlei Gedanken über eine praxistaugliche Strategie zur Verwirklichung seiner beiden großen Visionen – der Gründung eines Netzes nationaler Hilfsgesellschaften und des Abschlusses eines internationalen Abkommens, welches die freiwilligen Helfer auf dem Schlachtfeld schützen sollte – gemacht hatte. Moynier hat die geistige Urheberschaft Dunants an der Rotkreuzidee selbst niemals in Frage gestellt. Dennoch, es sollte der Tatkraft und gesellschaftlichen Vernetzung, dem praktischen Organisationstalent, aber auch den scharfen intellektuellen Fähigkeiten dieses lange Zeit im übermächtigen Schatten des «Helden von Solferino» stehenden Mannes vorbehalten bleiben, die entscheidenden Schritte zur Realisierung der Dunant’schen Ideen zu unternehmen. Ein erster bestand darin, das Thema bereits für den 15. Dezember 1862 auf die Tagesordnung einer Vorstandssitzung der Gemeinnützigen Gesellschaft zu setzen. Das Sitzungsprotokoll indes notierte schlicht: «Es ist nicht an unserer Gesellschaft, sich dieser Sache anzunehmen.» Zu groß erschien der Mehrheit die Herausforderung für einen Wohlfahrtsverein, der sich angesichts sehr beschränkter personeller und materieller Ressourcen bisher ganz auf die Prüfung lokaler Anliegen konzentriert hatte. Moynier aber ließ sich nicht entmutigen und nur einen Monat später, am 28. Januar 1863, machte er vor demselben Gremium einen weiteren Vorstoß. Sein Ziel hatte er nicht aufgegeben, nur seine Taktik geändert: Man möge doch zumindest die Zustimmung dafür geben, dass eine Denkschrift zu den Vorschlägen Dunants zwecks Vorlage an den für den September des Jahres in Berlin geplanten Wohlfahrtskongress erarbeitet würde. Damit war der Vorstand schließlich einverstanden. Nun ging alles ganz rasch. Nach einer kontroversen Diskussion, in der «Realisten» erneut Zweifel an der Praxistauglichkeit des ganzen Projektes äußerten, stimmte auch die eiligst auf den 9. Februar einberufene Hauptversammlung der etwa 180 Mitglieder umfassenden Gesellschaft der Einsetzung eines fünfköpfigen Komitees zu, welches Mittel und Wege zur Gründung einer «Hilfsorganisation für verwundete Militärpersonen» prüfen sollte. Damit war die organisatorische Keimzelle der Rotkreuzbewegung geschaffen. Dem «Fünfer-Komitee» gehörten neben Dunant und Moynier auch die beiden Ärzte Dr. Louis Appia und Dr. Théodore Maunoir an sowie schließlich der im In- und Ausland in höchstem Ansehen stehende General Dufour, dem auf der konstituierenden Sitzung am 17. Februar 1863 auch der Vorsitz übertragen wurde. Dieser Tag gilt heute als Gründungsdatum der internationalen Rotkreuzbewegung. Das Komitee gab sich zunächst den Namen «Comité international et permanent de secours aux militaires blessés» (Ständiges Internationales Komitee für die Verwundetenpflege), bevor es im Jahre 1875 den bis heute gültigen Namen «Comité international de la Croix-Rouge» (Internationales Komitee vom Roten Kreuz) annahm. Die ursprüngliche Namensgebung («international et permanent») lässt bereits wichtige und bis heute gültige Identitätsmerkmale des Genfer Komitees, ja der gesamten Rotkreuzbewegung erkennen: Die Selbstcharakterisierung als eine «ständige» Einrichtung war zunächst ein klarer und durchaus selbstbewusster Hinweis darauf, dass sich das Komitee von Anfang an nicht mit der Erfüllung des sehr engen und zeitlich befristeten Auftrages, dem ihm die Gemeinnützige Gesellschaft ursprünglich erteilt hatte, begnügen wollte. Im Grunde genommen hatte das Konzept Dunants, so wie es in «Eine Erinnerung an...