E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Keyes Erschöpfung
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-96584-526-8
Verlag: ZS - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Sich wieder lebendig fühlen in einer Welt, die ermüdet
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-96584-526-8
Verlag: ZS - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Corey Keyes ist Soziologe und emeritierter Professor an der Emory University, dessen Forschungen zur psychischen Gesundheit weitreichende Auswirkungen auf die Politik gehabt haben. Im Laufe seiner Karriere hat er die CDC (Centers for Disease Control and Prevention des US-amerikanischen Gesundheitsministeriums) sowie Regierungsbehörden in Kanada, Nordirland und Australien beraten.
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Einleitung
Ausgepowert
Ich war ein stiller, neugieriger Teenager und lebte in einem Kaff in Wisconsin, in dem es nur eine richtige Kreuzung gab. Sonntagabends lief im Radio King Biscuit Flower Hour. Ich verpasste die Sendung nie. Eines Abends, ich starrte auf einen Wasserfleck an der Decke, hörte ich einen Song, der für die nächsten Jahre meine Hymne werden sollte: „Running on Empty“ von Jackson Browne. In dem Text kamen weder die Worte einsam oder traurig noch verunsichert vor, und dennoch drückte das Lied ein Gefühl aus, das ich sehr gut kannte: dass ich stumpf einen Tag nach dem anderen absolvierte, alle waren gleich farblos.
Ich lag auf dem Bett und hatte das Gefühl, dass mich jemand wirklich verstand, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben. Ich war sechzehn Jahre alt, machte gerade meinen Führerschein, und von außen betrachtet lief alles erstaunlich gut dafür, dass meine Kindheit kompliziert gewesen war. Ich schrieb gute Noten. Ich verstand mich gut mit meinen Großeltern, bei denen ich nun lebte. Dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte. Gleichgültig, ob mein Tag gut oder schlecht gelaufen war, fühlte sich mein Brustkorb immer wie ein aufgeblasener Ballon an, wenn ich aus der Schule kam. Ich stand unter Druck, aber es fühlte sich dennoch hohl an.
Sollte sich das nach einer Depression anhören, kann ich versichern, dass dies nicht der Fall war, obgleich ich später unter Depressionen gelitten habe. Ich war nicht todtraurig. Ich hatte kein Problem, morgens aus dem Bett zu kommen. Es war eher, als funktionierte ich auf Autopilot. Ich war wie getrieben und stürzte mich in eine Aktivität nach der anderen. So drückte ich die Gedanken weg – die dann erst recht hochkamen, wenn ich allein war. Ein Gefühl der rastlosen Leere überlagerte alles andere in meinem eigentlich so friedlichen Leben. Für einen Jugendlichen war das irritierend, um es vorsichtig auszudrücken. Und es war anstrengend.
Der Spuk der inneren Erschöpfung verfolgte mich weiter. Auch im Erwachsenenalter war er da – wenn nicht das Gefühl selbst, so doch die Angst davor, dass es zurückkommen könnte. Es war wohl diese Erfahrung, die mich den Weg zum Soziologieprofessor einschlagen ließ. Ich wollte herausfinden, was es mit dieser Erfahrung des „Running on empty“, des „Ausgepowertseins“ auf sich hatte, und ob sie auch andere Menschen heimsuchte.
Auf den Begriff gebracht
Ungefähr ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie veröffentlichte Adam Grant einen Artikel in der New York Times. Darin beschrieb der Organisationspsychologe und Bestsellerautor genau das, womit ich mich jahrelang beschäftigt hatte – mit demselben Fachbegriff. Die Überschrift lautete: „Es gibt ein Wort dafür, wie Sie sich fühlen: Man nennt es Languishing.“ Die ersten Zeilen lauteten: „Anfangs habe ich die Symptome nicht erkannt, unter denen wir alle litten. Freunde von mir erzählten, sie hätten Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Kolleginnen gaben an, sie freuten sich nicht auf das Jahr 2021, selbst wenn es Aussichten auf einen Impfstoff gab. Eine Verwandte schaute bis tief in die Nacht Das Vermächtnis der Tempelritter, obwohl sie den Film in- und auswendig kannte. Und anstatt morgens um 6 Uhr aus dem Bett zu springen, blieb ich bis um 7 Uhr liegen und löste auf meinem Handy mit unbekannten Mitspielern Worträtsel.“ Ihm ging es so wie vielen: Nach einer Phase extremen Stresses, großer Trauer oder Einsamkeit schlich sich eine Art seelischer Ermattung ein. Menschen hatten das Gefühl, an einer leichten mentalen Erschöpfung zu leiden – die sich aber ganz gut beiseiteschieben ließ, zumal Gleichgültigkeit zu den Symptomen gehört. Dieses Gefühl der Freud- und Antriebslosigkeit nannte Grant „Languishing“.
Die Erschöpfung setzt häufig langsam und kaum merkbar ein – bis man plötzlich in ihr versinkt. Und dann wird die Frage „Wie geht es dir?“ zur Qual. Man sucht nach einer Antwort, die möglichst sozial akzeptabel ist – aber wenn man ehrlich ist, hat man keine Worte dafür, wie es einem geht.
Grants Artikel ging viral und wurde zum meistgelesenen Text der New York Times im Jahr 2021. Offensichtlich suchten viele nach einem Begriff für den seelischen Zustand, in den nach einem Jahr Pandemie Millionen von Menschen geraten waren: Teenager, Beschäftigte im Gesundheitswesen, Eltern, überarbeitete Leute in allen Branchen und natürlich diejenigen, die den Verlust von lieben Menschen betrauerten. Sie alle machten etwas durch, das sich nur schwer in Worte fassen ließ. Auch Prominente und sogar Royals setzten Tweets ab, in denen sie bekannten, dass sie unter Anfällen seelischer Erschöpfung litten. Der Comedian Trevor Noah eröffnete eine Show im ausverkauften Madison Square Garden mit einem persönlichen Bericht darüber, wie es ihm während der Pandemie ging. Unter den zwanzigtausend Zuschauern und Zuschauerinnen hätte man eine Stecknadel fallen hören können.
Ein kleiner Test: Leiden Sie unter seelischer Erschöpfung?
Welche der folgenden Symptome kennen Sie aus eigener Erfahrung?
•Sie fühlen sich emotional taub. Es fällt Ihnen schwer, sich auf Dinge zu freuen, selbst wenn es sich um wichtige Ereignisse handelt.
•Sie empfinden plötzlich alles als unausweichlich. Ihr Leben kommt Ihnen in zunehmendem Maße fremdbestimmt vor.
•Sie leiden sowohl am Arbeitsplatz als auch im Privaten an „Aufschieberitis“ und haben ein Gefühl von „Hat doch sowieso alles keinen Sinn“.
•Immer mehr Dinge erscheinen Ihnen unwichtig, oberflächlich oder langweilig.
•Sie haben ständig das beunruhigende Gefühl, dass Ihnen etwas fehlt – aber Sie kommen nicht darauf, was es sein könnte.
•Sie fühlen sich von Ihren Freunden und Bekannten abgekoppelt und haben keine Verbindung mehr zu dem, was Ihrem Leben Sinn verliehen hat.
•Bisher gab Ihre Arbeit Ihrem Leben einen Sinn oder verschaffte Ihnen zumindest Erfolgserlebnisse. Aber jetzt erscheint Ihre berufliche Tätigkeit Ihnen vor dem Hintergrund des großen Ganzen zunehmend bedeutungslos.
•Sie leiden regelmäßig unter sogenanntem Brain Fog, also temporärer Geistesabwesenheit. Beispielsweise stehen Sie unter der Dusche und können sich nicht mehr erinnern, ob Sie sich schon die Haare gewaschen haben oder nicht.
•Kleinere Rückschläge, die Sie früher einfach so weggesteckt haben, ziehen Sie jetzt richtig runter. Sie sind dann unruhig oder fühlen sich sogar, als sei Ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen worden.
•Manchmal stellen Sie fest, dass Sie sich von meinungsstarken Menschen überzeugen oder überrumpeln lassen, weil Sie sich Ihrer eigenen Meinung nicht mehr sicher sind.
•Es fällt Ihnen schwer, den Kontakt zum Freundeskreis und zur Familie zu halten – selbst zu Menschen, die Ihnen immer wichtig waren. Und Sie haben Schwierigkeiten, sich Menschen nahe zu fühlen.
•Ihnen ist die Fähigkeit abhandengekommen, Ihre Stärken und Schwächen zu erkennen und zu verstehen. Sie können nicht mehr sicher sagen, was Sie gut können und worin Sie sich vielleicht verbessern könnten. Ihr Selbstwertgefühl ist labil oder sogar zerbröselt.
Etwas weiter unten werden Sie noch Gelegenheit haben, Ihre seelische Situation auf eine formalere Weise einzuschätzen. Aber wenn Sie einige Empfindungen wiedererkannt haben (oder jemanden kennen, auf den diese Beschreibungen zutreffen), dann kann dieses Buch Ihnen helfen, die Hintergründe zu verstehen – und zu erfahren, was man unternehmen kann, um den Kreis zu durchbrechen.
Was seelische Erschöpfung nicht ist
Die Erschöpfung, um die es hier geht, hat sicherlich Ähnlichkeiten mit einer Depression, schon, weil ein gedämpftes Interesse am Leben typisch für beide ist. Aber es gibt entscheidende Unterschiede. Eine Depression geht mit einem anhaltenden Gefühl der Hoffnungslosigkeit oder Traurigkeit einher, das fast jeden Tag bestimmt und mindestens zwei Wochen lang anhält. Damit einher gehen oft Weinanfälle, zu wenig oder zu viel Schlaf und Suizidgedanken. Doch Millionen Menschen, die unter seelischer Erschöpfung leiden, erfüllen diese Kriterien nicht. Man kann keinen rechten Sinn im Leben mehr sehen und doch keinerlei Anzeichen von Depression zeigen. Typisch für „Languisher“ ist das Gefühl, dass ihnen der Fokus ihres Lebens wegrutscht. Sie wissen oft nicht, was sie sich von der Zukunft erhoffen, und es fällt ihnen extrem schwer, Entscheidungen zu treffen – egal ob kleine oder große.
Vielleicht geht Ihnen jetzt der Begriff „Burn-out“ durch den Kopf. Vor allem, wenn Sie regelmäßig erst um kurz nach Mitternacht die letzte E-Mail versenden, wenn Sie sich vor dem nächsten Trotzanfall Ihres Kleinkinds fürchten oder wenn Sie auf Dating-Apps oder auf TikTok herumwischen, bis Sie bemerken, dass Sie nur noch wie ferngesteuert handeln und Ihr Kopf leer ist. Nun, das Wort „Burn-out“ erfasst vielleicht die vorherrschende Stimmung einer Generation – oder des ganzen Planeten –, aber es ist streng genommen kein psychischer Zustand, sondern ein Begriff aus der Arbeitswelt, der ein Missverhältnis zwischen dem Aufgabenumfang und den zur Verfügung stehenden Ressourcen beschreibt sowie den daraus resultierenden chronischen Stress. Burn-out kann sich manchmal ähnlich anfühlen wie seelische Erschöpfung, aber er ist weitaus enger definiert. Dennoch ist klar, dass ein...