E-Book, Deutsch, Band 6359, 219 Seiten
Reihe: Beck Paperback
Gewalt, Rassismus und mangelnde Kontrolle
E-Book, Deutsch, Band 6359, 219 Seiten
Reihe: Beck Paperback
ISBN: 978-3-406-77496-6
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Polizei, dein Freund und Helfer – dieses Bild hat längst Risse bekommen. Immer häufiger werden gewalttätige Übergriffe durch Beamte öffentlich, und die Republik wird durch rassistische und rechtsradikale Chatgruppen im Polizeiumfeld erschüttert. Doch die Verantwortlichen in Sicherheitsbehörden und Politik reden das Problem noch immer klein – und ignorieren, dass hinter diesen Auswüchsen ein Systemversagen steckt. Was läuft schief bei der deutschen Polizei? Und was ist nötig, um die Fehler zu beheben?
Wer bei der deutschen Polizei intern aufbegehrt oder gar Kolleg:innen anzeigt, büßt oft mit Schikane und Mobbing. Die Opfer von Polizeigewalt bleiben derweil auf sich allein gestellt, es fehlt an unabhängigen Ermittlungseinheiten zur Aufklärung solcher Taten. Und kaum ein Innenminister ist bereit, das marode System gegen den Willen der Polizei zu reformieren. Jan Keuchel und Christina Zühlke zeigen anhand zahlreicher Fälle und auf der Grundlage investigativer Recherchen, wie gewalttätige Übergriffe und rassistische Ausfälle durch Polizist:innen aussehen, wie sie vertuscht werden – und warum Betroffene kaum Chancen haben, solche Fälle unabhängig aufklären zu lassen. Sie belegen, wie dürftig die Bundesländer mit unabhängigen Kontrollinstanzen ausgestattet sind, und werfen auch einen Blick ins Ausland, wo es unabhängige Ermittlungseinheiten für Polizeivergehen teilweise schon länger gibt – mit wichtigen Ergebnissen. Ihr Buch ist ein Plädoyer für eine Systemreform in Deutschland, um die vielen guten Polizist:innen vor jenen Kolleg:innen zu schützen, die den Ruf einer der wichtigsten Institutionen unseres Staates schleichend zerstören.
- Polizeigewalt in Deutschland - anhand konkreter Fälle investigativ recherchiert
- Auf der Grundlage neuester Studien und wissenschaftlicher Erkenntnisse
- Es gibt keine flächendeckende und unabhängige Kontrolle der deutschen Polizei
- Mit Blick auf Nachbarländer und konkreten Lösungsvorschlägen
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Regierungspolitik Innen-, Bildungs- und Bevölkerungspolitik
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Gewalt und Diskriminierung: Soziale Aspekte
- Rechtswissenschaften Öffentliches Recht Verwaltungsrecht Verwaltungspraxis Polizei
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politik: Sachbuch, Politikerveröffentlichungen
Weitere Infos & Material
1. Der Blendschlag
Das Schnellrestaurant im Schatten des mächtigen Kölner Doms ist sein Ziel. Während auf der Straße die Musik wummert und Menschen in schrillen Outfits vorübergehen, braucht Sven eine Pause. Er ist seit sechs Stunden unterwegs, hat gefeiert, auf einem der Paradewagen beim Christopher Street Day. Um 16 Uhr steigt er vom Wagen und muss dringend auf die Toilette. Was Sven nicht ahnt: In wenigen Minuten, in diesem McDonald’s-Restaurant, wird sein Leben aus den Fugen gehoben. Vier Jahre lang wird er durch das deutsche Justizsystem geschleift werden, als vermeintlicher Täter auf der Anklagebank sitzen und sich verteidigen müssen. Unschuldig. Weil er an diesem Tag, im McDonald’s-Restaurant am Kölner Dom, auf die deutsche Polizei trifft. Es ist der 3. Juli 2016, der Christopher Street Day, die Parade für die Rechte von Schwulen und Lesben, zieht durch Köln. Die Sonne scheint, die Straßen der Innenstadt sind voll mit feiernden Menschen. Unter dem Motto «Anders Leben» feiert die CSD-Parade in Köln ihr 25-jähriges Jubiläum. Mehrere hunderttausend Besucher:innen haben sich auf den Weg nach Köln gemacht. Die Stadt lebt den Christopher Street Day, lebt für Toleranz. «Jeder Jeck ist anders», heißt es hier nicht nur im Karneval. Selbst in der U-Bahn-Station wünscht die US-Videoplattform Netflix zur Feier des Tages «viel Spaß beim CSD». Schon manches Mal wurde den Demonstrant:innen in den knallbunten Kostümen, in Strapsen, High Heels und Federboas vorgeworfen, sich selbst eher als Karnevalszug zu verstehen und die politische Dimension, den Kampf gegen Homophobie, zu vergessen. Doch das ist diesmal anders. Es ist erst wenige Wochen her, dass ein Attentäter bei einem Konzert in einem Club in Florida 49 Menschen tötete. Das Motiv: Schwulenhass. Den Zug führt deshalb gleich eine Gruppe an, die die Fotos der Opfer trägt. In Stille – ohne die sonst oft überlaute Technomusik. Auch Sven ist zum CSD gekommen, weil er ein Zeichen setzen will. Für Toleranz, gegen Ausgrenzung. Ihm ist klar, dass es für ihn nicht leicht sein wird, einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Und es tut ihm gut zu sehen, dass hier auch andere Menschen sind, die die Grenzen zwischen Mann und Frau nicht für unumstößlich halten. Die dazwischen wandern und – an diesem Tag zumindest – trotzdem einfach dazugehören. Sven sagt von sich selbst, er sei nicht-binär. Das heißt, er fühlt sich weder als Mann noch als Frau. Er identifiziert sich nicht mit dem, was die Gesellschaft von Männern erwartet. Eine Frau möchte er aber auch nicht sein. Und weil es Menschen nicht immer leichtfällt, ihn einfach sein zu lassen, wie er ist, ist es für ihn besonders wichtig, dass es einen Christopher Street Day gibt. Und so steht Sven an diesem 3. Juli in einem orangefarbenen T-Shirt auf einem Wagen der Gruppe «Positiv handeln». Sie wollen auf das Thema Aids aufmerksam machen. Auf die Ausgrenzung, die die Infizierten immer noch erleben, und auf die Probleme, die der Alltag mit dem Virus mit sich bringt. Die Stimmung ist gut, Sven winkt in die Menge. Es wird Sekt getrunken, und auch Haschisch-Plätzchen machen die Runde. Sven isst davon, ohne zu wissen, was da eingebacken wurde. Als er Stunden später auf der Suche nach einer Toilette das Schnellrestaurant betritt, stehen die Menschen vor den Toiletten bereits Schlange. Zwei Frauen versuchen, das weniger besuchte Herren-WC aufzusuchen, aber ein Mann will das verhindern. Als es zum Streit kommt, mischt Sven sich ein, er will schlichten. Er denkt sich: Schließlich ist Christopher Street Day, da soll man doch erst recht tolerant und friedlich sein. Aber die Schlichtung misslingt. Der Streit eskaliert zur Rangelei, es wird laut, und ein neunjähriges Mädchen, das in der Nähe steht, fällt im Gedränge zu Boden, bleibt aber unverletzt. Der Mann, der die Frauen bedrängt hat, ist schnell verschwunden, Sven bleibt zurück. Die Angelegenheit könnte erledigt sein. Aber die Mitarbeiter:innen des Schnellrestaurants haben den Streit offenbar mitbekommen, die Filialleiterin schaut vorbei. Sie bittet Sven mehrfach zu gehen, die Polizei sei bereits informiert. Er aber ist aufgewühlt, beschimpft die Frau und setzt sich stattdessen auf einen Hocker im Toilettenbereich, um zu warten. Tränen laufen ihm übers Gesicht. Die Polizei werde schon feststellen, dass er nichts gemacht habe, davon ist er überzeugt. Doch es kommt anders. Andreas Meyer ist an diesem Tag zum Polizeidienst in der Innenstadt eingeteilt. Eigentlich heißt er anders, die Namen aller Polizist:innen in Svens Geschichte sind Pseudonyme: zum einen, um sie zu schützen, und zum anderen – wie etwa im Fall von Andreas Meyer –, weil es uns vor allem um die Taten und nicht um die Täter geht. Normalerweise arbeitet Meyer in einem Kölner Außenbezirk. Aber wegen des Christopher Street Days sind er und seine Kollegin, Beate Schirmer, zur Unterstützung in der Nähe der McDonald’s-Filiale. Energisch betritt Meyer das Restaurant. Mit den Mitarbeiter:innen oder der Filialleiterin spricht er nicht. Die Mutter des Mädchens kann ihm noch sagen, dass sie wegen der Rangelei keine Anzeige erstattet. Dann eilt er zu den Toiletten im hinteren Bereich, wo Sven immer noch auf seinem Hocker kauert. Meyer fordert Sven auf, das Restaurant zu verlassen. Doch der reagiert nicht. Der Polizist greift ihn an der Schulter, sagt ihm, er solle mitkommen, er wolle die Sache «vor der Tür regeln». Sven aber will nicht nach draußen. Als Meyer nach ihm greift, macht Sven eine schwache Abwehrbewegung mit den Armen, er will die Hand des Polizisten abschütteln, berührt ihn aber nicht. Dann knallt es. Sven sinkt bewusstlos zu Boden. Eine Zeugin wird später vor Gericht erzählen, dass sie den Knall hören konnte, der entstand, als Svens Kopf gegen die Wand schlug. Meyer hat Sven einen sogenannten «Blendschlag» verpasst, wie es in der Fachsprache der Polizei heißt. Einen Schlag mit der flachen Hand, seitlich gegen den Kopf. Er soll das Gegenüber überraschen, ihm Schmerzen zufügen, um eine Situation unter Kontrolle zu bringen. «Das ging plötzlich alles sehr schnell», erzählt Sven später. Der erste Kontakt zu ihm kam 2017 ursprünglich über den Journalisten Günter Wallraff zustande – am Ende werden wir Sven fast vier Jahre begleiten. Das Entsetzen, aber auch die Verwunderung über den weiteren Verlauf seiner Geschichte sind ihm auch Jahre nach dem Vorfall noch anzumerken. «Ich weiß nur, dass ein Polizeibeamter direkt auf mich zukam, sehr aggressiv, so sind meine Erinnerungen. Und dann kam es wahrscheinlich schon zu dem Schlag.» Während Sven ohnmächtig am Boden liegt, betreten weitere Polizist:innen die McDonald’s-Filiale. Einer von ihnen, Polizeihauptkommissar Jörg Telle, ist ein bulliger Typ, breites Kreuz, Glatze, stechender Blick. An seiner Seite zwei junge Kolleginnen: Sabrina Alber, Polizeioberkommissarin, und Sophia Marino, eine Polizeischülerin. Telle ist Marinos Ausbilder – das Verhältnis der beiden ist, vorsichtig ausgedrückt, angespannt. Jörg Telle übernimmt als zuständiger Polizist vom Revier Köln-Mitte die Leitung des Einsatzes, seine Kolleginnen schirmen die Szenerie ab. Telle kümmert sich um den am Boden liegenden Sven. Allerdings nicht, indem er Erste Hilfe leistet und einen Krankenwagen ruft. Telle kneift Sven vielmehr erst einmal in den Arm, will einen sogenannten Schmerzreiz setzen. Dabei werden gezielt Schmerzen an besonders empfindlichen Stellen des Körpers verursacht. Rettungssanitäter:innen nutzen Schmerzreize, um Menschen aus einer Ohnmacht zu holen. Als Jörg Telles erstes Kneifen nicht erfolgreich ist, reibt er fest mit den Fingerknöcheln über eine besonders sensible Stelle am Brustbein des am Boden liegenden Sven. Der kommt zu sich und schreit auf. Zeit, sich zu sammeln, sich vom Schmerz zu erholen, bleibt Sven allerdings nicht. Jörg Telle fesselt seine Hände mit Handschellen hinter dem Rücken. Weitere inzwischen eingetroffene Polizisten packen Sven an Armen und Beinen, um ihn nach draußen zu tragen. Er habe sich gewehrt, werden die Polizisten später vor Gericht aussagen. Doch mehrere Zeug:innen berichten, dass Sven wehrlos und schlapp, mit dem Gesicht nach unten, von den Beamten getragen wird. Sven wiegt nur 57 Kilogramm, ist 1,85 m groß. Seine Arme und seine Beine sind lang und dürr. Während die Polizisten ihn daran festhalten und nach draußen tragen, biegt sich sein Rücken auf unnatürliche Weise nach unten durch. Das Ziel der Polizeibeamten ist ein etwa 200 Meter entfernt parkender Streifenwagen. Er steht mittig auf der Insel eines Kreisverkehrs, der Kölner Hauptbahnhof ist gleich um die...