E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Reihe: Sehnsuchtsorte
Keser Tod in Dubrovnik
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-96041-925-9
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Reihe: Sehnsuchtsorte
ISBN: 978-3-96041-925-9
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ranka Keser ist in Kroatien geboren und in Deutschland aufgewachsen. Sie schreibt in verschiedenen Genres, sowohl unter ihrem richtigen Namen als auch unter Pseudonym. In ihren Romanen verwendet sie häufig Kroatien als Schauplatz; auch in ihren Sachbüchern präsentiert sie den deutschen LeserInnen ihr Geburtsland.
Autoren/Hrsg.
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Der Abend zuvor
Pfarrer Gabrijel Jukic stand nachdenklich am Fenster und sah Marija nach, während sie über den Kiesweg zu ihrem Auto ging. Vierzehn Jahre war Marija mittlerweile bei ihm beschäftigt, doch blieb sie für ihn bis heute auf seltsame Art undurchdringlich. Im Grunde wäre sie nicht seine erste Wahl gewesen – wenn er damals überhaupt eine Wahl gehabt hätte. Aber heutzutage wollten Frauen nicht mehr als Pfarrhaushälterin arbeiten. Es war ihnen peinlich, als wäre das etwas Verwerfliches. Als wäre es redlicher, in diese grässliche Tourismusbranche zu gehen.
Er beobachtete, wie Marija in ihr Auto stieg und sich kurze Zeit später rollend vom Pfarrhaus entfernte, vorbei an der Kirche des heiligen Paulus, für die er Dienst tat. Dann verschwand sie aus seinem Sichtfeld und fuhr bergab zur Hauptstraße.
Langsam wandte er sich vom Fenster ab und ging über den kleinen Flur in die Küche. »Im Kühlschrank sind noch Papaline und Krautsalat von gestern«, hatte Marija gesagt, bevor sie hinausgegangen war. Sprotten mit Krautsalat – darauf freute er sich jetzt, denn Marija wusste diese kleinen Fische hervorragend zuzubereiten, sie so zu backen, dass sie nicht auseinanderfielen und schön knusprig wurden. Überhaupt gab es nichts, was Marija nicht köstlich zubereiten konnte. Für ihn wahrlich ein Segen, denn er war nun einmal ein leidenschaftlicher Esser. Mittlerweile konnte man es nicht mehr übersehen, dachte Pfarrer Gabrijel griesgrämig und nahm sich vor, bald mindestens zehn Kilo abzunehmen. Vielleicht könnte er sogar fünfzehn schaffen, wenn er Kuchen und Desserts reduzieren würde. Schuld war Marija, mit ihrer Backerei. Wie sollte er denn widerstehen, wenn sie nach dem Mittagessen die verlockende Süßspeise vor ihn hinstellte?
Pfarrer Gabrijel öffnete den Kühlschrank und ließ seinen Blick über die gestapelten Tupperware-Boxen schweifen. Unbewusst fing er an zu lächeln. Das war eine der Tugenden, die er an Marija zu schätzen wusste. Sie war fleißig, gewissenhaft, ordentlich (genau genommen pedantisch), eine hervorragende Köchin und dazu auch noch sparsam. Reste vom Mittagessen verpackte sie in Plastikbehälter und stellte sie in den Kühlschrank. Manchmal forderte er sie auf, etwas mit nach Hause zu nehmen, was sie auch tat, aber nicht ohne anzumerken, dass es eigentlich zu viel für sie allein sei. Anscheinend meinte Marija immer noch, dass er glaubte, sie lebe allein. Als ob er ihr deswegen Vorwürfe machen würde! Seltsamerweise waren die Menschen der felsenfesten Überzeugung, dass sämtliche katholischen Pfarrer über jeden den Stab brechen, der unverheiratet mit jemandem zusammenlebt.
Wie konnte er etwas gegen die Liebe haben, die zwei Menschen einander entgegenbrachten? Allerdings fand er es seltsam, dass einige Menschen ihre Liebe nicht von Gott segnen ließen. Neumodische Flausen, dachte er kopfschüttelnd.
Nachdem er die Papaline und den Krautsalat auf einen Teller verteilt hatte, setzte er sich an den alten Eichentisch und aß gedankenverloren vor sich hin. Zum ersten Mal verspürte er den drängenden Wunsch, sich jemandem anzuvertrauen.
Der Anruf.
Diese entsetzliche Beichte.
Und wie beides miteinander zusammenhing.
Er würde sich befreiter fühlen, wenn er mit jemandem darüber sprechen könnte, doch es käme für ihn niemals in Frage, das Beichtgeheimnis zu brechen. Wenn er sich überhaupt jemandem anvertrauen würde, dann Marija. Es gab nur zwei Menschen, die er aufrichtig gernhatte: Marija und Jere. Doch Jere war zu jung, als dass er sich an ihn wenden würde. Obwohl er mit seinen neunzehn Jahren reifer war als die meisten Jungen in seinem Alter.
Normalerweise nahm Marija die Anrufe entgegen, wenn seine Sekretärin Ana nicht da war und das Telefon in den Flur umgeschaltet war. Ana arbeitete nur drei Tage pro Woche. An jenem Vormittag letzte Woche, als der Anruf kam, war sie nicht hier gewesen. Es musste Dienstag gewesen sein, überlegte der Pfarrer. Marija war zu ihm in den Garten gekommen, der sich seitlich des Pfarrhauses und schräg gegenüber der Kirche befand.
»Hochwürden?«, hatte sie ihn gerufen und sich vor das Beet der blühenden Pfingstrosen gestellt. »Wir haben keine Butter mehr. Entschuldigen Sie, aber ich habe es heute Morgen vergessen.« Marija ging jeden zweiten Morgen einkaufen, bevor sie zum Arbeiten ins Pfarrhaus kam.
»Das dürfte kein Problem sein, Frau Marija. Dann kaufen Sie die Butter eben nächstes Mal«, war seine Reaktion gewesen.
»Das geht nicht. Ich brauche die Butter doch für das Püree!« Beim Kochen machte sie keine Kompromisse, alles musste perfekt sein. »Ich fahre schnell zum Supermarkt und bin in zwanzig Minuten zurück.« Sie war zum Auto gelaufen, bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte.
In dieser kurzen Zeitspanne war der Anruf eingegangen.
Er hatte das Telefon gehört, widerwillig die Blumenkelle fallen lassen und war mit zügigen Schritten ins Pfarrhaus gegangen. Diese entsetzliche Beschuldigung! Er hatte sich während seiner sechsundfünfzig Lebensjahre stets bemüht, ein anständiger Mensch und ein tadelloser Pfarrer zu sein – und dann rief jemand an und nannte ihn einen Erpresser! Es war geradezu ein Schock gewesen. Kein Wort hatte er herausgebracht und aus Hilflosigkeit dann einfach den Hörer aufgelegt.
Am selben Tag – es musste kurz vor achtzehn Uhr gewesen sein, weil Marijas Arbeitstag sich dem Ende neigte – fragte sie: »Alles in Ordnung, Hochwürden? Sie sehen irgendwie besorgt aus.«
»Es ist nichts«, war alles, was er sagen konnte, dann war er unter einem Vorwand ins Büro gegangen. Am nächsten Tag hakte sie noch mal nach, und er gab dieselbe Antwort.
Darauf meinte Marija: »Haben Sie Probleme mit der Verdauung?«
Er fragte sich, was das eine mit dem anderen zu tun hatte, aber um seine Ruhe zu haben, sagte er: »Ja, ein bisschen Bauchschmerzen, weiter nichts.« Damals dachte er: Wäre der verflixte Anruf doch nur zehn Minuten später eingegangen! Marija hätte sich gemeldet und dem Anrufer die Leviten gelesen. Ihre spitze Zunge und Schlagfertigkeit wären in dieser Situation so passend gewesen – oder der Anrufer hätte bei Marija einfach aufgelegt.
Der Anruf hatte ihn zermürbt – und dann klärte sich bei dieser schrecklichen Beichte alles auf!
Doch er musste schweigen!
Womit nur hatte er das alles verdient? Dass sich in seiner Gemeinde so widerwärtige Dinge abspielten? Und am Ende sollte er dieser beichtenden Person auch noch persönlich verzeihen! Unter Tränen und Schluchzen war er darum gebeten worden. Sein Glaube lehrte ihn, demütig zu sein und zu vergeben.
»Ja«, hatte er gesagt, »ich vergebe dir.«
Stets hatte er sich bemüht, den Menschen zu helfen, ihnen Trost zu spenden und manchmal auch einen wohlmeinenden Ratschlag mitzugeben. Die Menschen schätzten ihn, das schon. Doch wusste er, dass sein Vorgänger beliebter gewesen war als er, weil dieser immer Scherze gemacht und ein Lächeln im Gesicht gehabt hatte. Ein Dauergrinser und Witzbold. Als ob das einen besseren Pfarrer aus ihm gemacht hätte. Aber so waren die Menschen nun einmal, oberflächlich und empfänglich für eine charmante Fassade.
Nach dem Essen spülte Pfarrer Gabrijel die Plastikbehälter ab und sah im Wohnzimmer eine Weile fern, bevor er zu Bett ging. Seit dieser Beichte fiel es ihm schwer, einzuschlafen. Die Gedanken kreisten in seinem Kopf wie Murmeln, die nicht zum Stillstand kamen und ständig hin und her rollten.
Viel zu oft nahm er eine Schlaftablette, er hatte sich regelrecht daran gewöhnt. Und kaum hatte er beschlossen, das Zeug nicht mehr regelmäßig zu nehmen, war der Anruf gekommen, und ein paar Tage später hatte er dann diese fürchterliche Beichte abnehmen müssen. Es brachte ihn nun wieder um den Schlaf. Und er aß wieder mehr, weil es ihn beruhigte, wie damals als Kind.
Zwei Stunden wälzte er sich hin und her, bis er schließlich die Lampe anknipste, eine Tablette aus der Packung nahm und sie halbierte. Die halbe Dosis würde hoffentlich auch ihren Zweck erfüllen. Eine ganze wollte er nicht nehmen, weil er sonst morgen schwer aus dem Bett kommen würde, und mit seiner Konzentration stünde es dann ebenfalls nicht zum Besten. Er griff nach dem Wasserglas, das stets auf seinem Nachttisch stand, und spülte das chemische Wundermittel hinunter. Dann legte er sich auf den Rücken und wartete auf den Schlaf, der sich allmählich einstellte.
Irgendwann wachte er auf und glaubte, ein Geräusch gehört zu haben. Schlaftrunken blinzelte er und horchte.
Nein, das Geräusch musste Teil des Traums gewesen sein. Vielleicht auch ein Ast, der gegen eines der Fenster schlug. Es wäre nicht das erste Mal, doch er brachte es nicht über sich, dem großen und alten Walnussbaum vor seinem Fenster einen Ast abzusägen.
Schlaftrunken langte er zum Nachttisch und nahm die andere Hälfte der Tablette ein, um so bald wie möglich wieder einzuschlafen.
Er lag auf dem Rücken und lauschte. Mit einem Mal bereute er, den Rest der Tablette geschluckt zu haben.
Denn auch wenn kein Geräusch mehr zu hören war, quälte ihn ein mulmiges Gefühl. Als rational denkender Mensch wusste er, dass sowohl die Vordertür als auch die Hintertür abgesperrt waren. Ja, als rational denkender Mensch, für den er sich hielt, wusste er das. Aber er wusste auch, dass er etwas gehört hatte! Der Wind konnte es nicht gewesen sein, seit Tagen war es vollkommen windstill. Ein Haustier hatte er nicht, das durch die Räume schleichen konnte. Was war das Geräusch, das ihn immerhin aufgeweckt hatte?
Mit aller Macht kämpfte der Pfarrer nun gegen den Schlaf an. Hätte er doch nur nicht die andere Hälfte der Schlaftablette genommen! Er wollte aufstehen und der...




