Kerstner / Lange / Stahl | Entstellter Himmel | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 272 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 215 mm

Kerstner / Lange / Stahl Entstellter Himmel

Berichte über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-451-83454-7
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Berichte über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche

E-Book, Deutsch, 272 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 215 mm

ISBN: 978-3-451-83454-7
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Lebenszeugnisse, die erschüttern und berühren. Zehn Menschen, die in der evangelischen Kirche Opfer von sexualisierter Gewalt geworden sind, erzählen in diesem Buch, was sie erlebt haben. Sie decken auf, wie Missbrauch unter protestantischen Vorzeichen geschehen konnte. Sie finden Worte dafür, was es bedeutet, wenn Glauben und Sexualität in ihrer Intimität verletzt werden. Die Berichte bezeugen die tiefen Spuren, die der Missbrauch hinterlassen hat, erzählen aber auch intensive Überlebens- und Hoffnungsgeschichten. Ein Rahmenteil fragt nach verbindenden Linien zwischen den Geschichten und trägt Wissen zusammen, das für Betroffene, Kirchen und die gesellschaftliche Öffentlichkeit im Umgang mit diesem lange verdrängten Thema von großer Bedeutung ist.

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Eigentlich war er so ein netter Pfarrer Ida Wie es dazu kam, dass mir plötzlich so vieles klar wurde 30 Jahre habe ich gebraucht, um auszusprechen – nein, aussprechen kann ich es noch immer nicht – aber um jetzt niederzuschreiben, was damals passiert ist. 30 Jahre! 30 Jahre voller Schuldgefühle und Verdrängung! Das ist der Punkt, der mich wirklich am schlimmsten trifft. Dass das damals passiert ist, nun gut, das ist das eine – aber damit leben zu müssen, ohne dass jemand das Unrecht benennt oder mir hilft, es in Worte zu fassen, dem ganzen einen Namen zu geben, um mir damit meine Schuldgefühle zu nehmen, das ist es, was mich traurig und wütend macht. Aber man kann es wohl nur selbst aussprechen und benennen: Es war sexueller Missbrauch. Der Pfarrer meiner damaligen Gemeinde hat mich sexuell missbraucht, als ich 16 Jahre alt war. Es geschah ohne körperliche Gewalt – das ist der Punkt, warum ich sicher bin, dass ich mein Leben trotzdem so gut leben konnte. Ich hatte in der Zeit Angst; Angst, dass alles herauskommt; Angst, dass seine Frau etwas „entdecken“ könnte; Angst, anderen Menschen wehzutun. Aber ich hatte niemals Angst vor körperlicher Gewalt. Andererseits ist dies auch der Punkt, warum ich wahrscheinlich so lange die Tatsachen nicht begriffen habe und somit gezwungen war, alles zu verdrängen, um mit meinen Schuldgefühlen klarzukommen. Wenn ich über diese Geschichte – vor allem in jüngster Vergangenheit – nachdachte und mir in den Sinn kam, dass es vielleicht ein sexueller Missbrauch war, waren es folgende Punkte, die in meinen Augen immer dagegensprachen. – Ich war bereits 16 Jahre alt – also schon fast erwachsen. Da hätte ich mich doch wehren können, ich war ja kein kleines Kind mehr. (Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich heute mit fast 50 Jahren das Spiel durchschauen würde und mich würde wehren können. Vielleicht würde ich heute unter den gleichen Umständen wieder zum „Opfer“ werden.) – Es gab niemals eine Art von körperlicher Gewalt – niemals. – Ich hätte auch „Nein“ sagen können. Durch einen Zeitungsartikel über einen Missbrauch in einem Sportverein hier ganz in der Nähe wurden diese drei Säulen meiner „Schutzbehauptungen“ gegenüber dem Täter plötzlich in Frage gestellt. In dem Artikel stand, dass Kinder und Jugendliche zwischen 9 und 18 Jahren von dem Leiter sexuell missbraucht wurden. Ich musste es dreimal lesen. Dort stand, dass es Jugendliche gab, die 18 Jahre alt waren. Sie waren auch schon groß und fast erwachsen. Und in dem Artikel stand, dass alles ohne körperliche Gewalt geschah! Und plötzlich war es mir völlig klar – nach 30 Jahren: Auch bei mir war es ein sexueller Missbrauch. Ich hatte also keine Affäre mit einem verheirateten Pfarrer (das war meine Wahrheit in den letzten 30 Jahren) und ich war auch nicht schuld an der ganzen Sache. Ich hätte auch nicht „Nein“ sagen können, weil ich gezielt manipuliert wurde, um diesem Mann seine sexuellen Fantasien zu befriedigen und um sein Ego aufzubauen. Als ich also ahnte, was damals passiert war, habe ich meine Geschichte aufgeschrieben und an help geschickt, eine Zentrale Anlaufstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche. Ich wollte einfach wissen, ob ich auf einer völlig falschen Spur bin oder wirklich Opfer eines Missbrauchs geworden war. Die Rückmeldung kam nach einer Woche und ich hatte es schwarz auf weiß. Ja, es war ein Missbrauch – ohne Zweifel. Eine „Fachfrau“ hatte meine Geschichte gelesen und sie ganz klar als Missbrauch einordnen können. Dann habe ich mich an meine Landeskirche gewandt. Relativ schnell wurde mir geraten, einen Antrag zu stellen, um eine Anerkennungszahlung zu erhalten. Der Antrag liegt ausgefüllt bei mir. Ich will ihn nicht abschicken, weil kein Geld der Welt das wieder gut machen könnte, was in mir zerstört wurde. Aber es war mir sehr wichtig, dass diese Geschichte in der Akte des Täters landet. Das ist geschehen. Und ich habe durch die Seelsorgerin der Landeskirche den Tipp bekommen, dass es eine Art Selbsthilfegruppe in Form einer Mailingliste im Internet gibt, in der Betroffene sich austauschen können. So bin ich bei gottes-suche.de gelandet. Nun aber zu meiner Geschichte. Als eine neue Pfarrfamilie in unseren Ort kam Als ich 15 Jahre alt war, kam in meine Heimatgemeinde ein neuer Pfarrer mit seiner Familie. Kurt, der Pfarrer, Ute, seine Frau mit ihrem kleinen Kind. Alle haben einen sehr sympathischen Eindruck gemacht. Ich war bereits im Jungschar-Team und so war es vorhersehbar, dass wir schnell in Kontakt kommen würden. Meine Mama hat mich kurz nach der Ordination ins Pfarrhaus geschickt, um mich vorzustellen. Ich kann mich noch daran erinnern, dass mich Kurt gefragt hat, ob er „Du“ sagen darf. Es wurde dann abgemacht, dass sich das Jungschar-Team jeden Montag im Pfarrhaus zur Besprechung für die nächste Jungschar-Stunde trifft. Schnell entstand eine sehr familiäre Atmosphäre. Kurt wollte schnell, dass wir uns alle duzen. So etwas war bisher in unserem Dorf undenkbar gewesen. Den Herrn Pfarrer zu duzen – eine völlige Unmöglichkeit. Es ist mir schwergefallen, „Du“ zu sagen. Kurt war viel älter, beinahe eine andere Generation. Und er war der Pfarrer. Irgendwann habe ich mich dann überwunden. Ja, jede Woche waren wir im Team im Pfarrhaus. Immer war die Atmosphäre entspannt und heiter. Locker – nie war etwas von Schwierigkeiten zu spüren. Eine offene, vertrauensvolle, schöne, angenehme Atmosphäre, Familie, Besprechung. Ich bin gern hingegangen. Kurt war ca. 1 Jahr in unserer Gemeinde, als die Sache begann. Kurt war damals 40 Jahre, ich 16. Die Pfarrfamilie erschien wie die perfekte Familie. Freundlich, lustig, respektvoll, im Glauben verbunden – eine Beziehung, wie man sie sich als 16-Jährige erträumt. Mit der Zeit wurde unsere Beziehung enger. Ich fühlte mich mit der Familie sehr verbunden. Ich würde es fast so bezeichnen: Eine Freundschaft zu Ute, Bewunderung für Kurt und eine große Schwester für das Kind, das ich sehr gern hatte. Das war Stand der Dinge, als alles kippte. Als plötzlich alles anders wurde. Wie der Missbrauch begann Es war ungefähr ein Monat, nachdem mein Opa gestorben war. Kurt hat ihn beerdigt. Ich stand kurz vor den Abschlussprüfungen. Ich war auch im Kirchenchor aktiv. Wir sangen im Gemeindehaus und vorher musste der Schlüssel beim Pfarrer abgeholt und nachher wieder in den Briefkasten geworfen werden. Meistens habe ich das übernommen, weil ich eh zu Fuß unterwegs war und auf meinem Weg praktisch am Pfarrhaus vorbeilief. Eines Tages sagte Kurt: „Wenn du den Schlüssel abgibst, kannst du klingeln, Ute ist nicht da und ich bin bestimmt noch wach.“ Ich denke, es war ein Freitagabend und Ute war mit dem Kind übers Wochenende zu ihren Eltern gefahren. Ich habe mir nichts gedacht. Im Nachhinein bin ich überzeugt, dass sein Plan spätestens in diesem Moment fix war. Und der Plan galt nicht diesem einen Abend, sondern er galt der gesamten Missbrauchsgeschichte. Wir waren ganz alleine in dem Pfarrhaus. Ich wurde ins Wohnzimmer gebeten. Merkwürdige Atmosphäre (vielleicht auch erst jetzt aus der Entfernung). „Ich würde Dir gerne was erzählen… Ich weiß nicht, ob ich es tun kann …!“ „Klar, kannst Du mir was erzählen. Musst Dir nichts denken …!“ „Es kann sein, dass Ute geht!“ Schluck. Schock! „Warum? Wie kann das sein?“ – „Es geht nicht mehr!“ – „Aber es sieht doch so aus, als könntet ihr immer über alles reden …!“ – „Wir können über gar nichts reden! Es ist so viel passiert. Alles begann damit, dass wir dachten, dass wir keine Kinder bekommen können. Ute hat sich durchchecken lassen, bei ihr war alles in Ordnung. Dann sollte ich zu einem Urologen – da finde erst mal jemanden. Ja und da hat man dann festgestellt, dass meine Spermien zu langsam sind, und Ute deswegen nicht schwanger wird. Das war so verletzend für mich. Wenn man nur noch mit seiner Frau schlafen kann, wenn der Eisprung ansteht, dann aber mehrmals hintereinander, immer mit dem Thermometer und dem Wecker im Nacken…– Nach langem Bemühen hat sich dann doch eine Schwangerschaft eingestellt. Jetzt ist die Lage so verfahren. Wir packen es nicht.“ Langes Gespräch – viele Einzelheiten. Ich war 16. Ich hatte keine Ahnung von einer Ehe, von Schwierigkeiten, die eben auftauchen, die kommen. Ich hatte keine Ahnung von einem Kinderwunsch, von Sexualität. Ich war völlig überfordert. Aber ich fühlte mich auch sehr geehrt. Davon, dass der Herr Pfarrer mich ins Vertrauen zog. Darüber, dass ich so wichtig für ihn war, dass er sein Herz bei mir ausschüttete, dass er so offen mit mir sprach – über Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte. Ich habe Kurt reden lassen. War die gute Zuhörerin und Freundin. Und bin plötzlich, von Utes Freundin zu Kurts Freundin gewechselt. Er hat mich mit seiner Version der Geschichte auf seine Seite gezogen – innerhalb von zwei Stunden. Zum...


Kerstner, Erika
Erika Kerstner, geb. 1951, war bis zur Pensionierung Grund- und Hauptschullehrerin u.a. für katholische Religion. Seit 2000 begleitet sie Frauen, die als Minderjährige oder Erwachsene von sexualisierter Gewalt betroffen waren und mit ihrem Glauben ringen. Sie hat die Initiative „GottesSuche: Glaube nach Gewalterfahrungen“ (www.gottes-suche.de) gegründet. Im Jahr 2012 erhielt sie für ihr Engagement in der Gewaltarbeit das Bundesverdienstkreuz.

Lange, Christiane
Christiane Lange, geb. 1963, studierte Oecotrophologie, war Programmiererin, Tagesmutter, Pfarramtssekretärin und arbeitet heute in der Verwaltung einer Ev. Fachoberschule. Sie engagiert sich ehrenamtlich in verschiedenen Arbeitskreisen zur Betroffenenarbeit in der Ev. Kirche, ehemals im Betroffenenbeirat, heute im Beteiligungsforum sexualisierte Gewalt in der EKD und der Studie ForuM. Sie ist Mitglied in der Initiative „GottesSuche“.

Stahl, Andreas
Andreas Stahl, geb. 1989, studierte evangelische Theologie und ist Traumafachberater und Gemeindepfarrer in Augsburg. An der WWU Münster wurde er mit einer Arbeit über „Traumasensible Seelsorge: Grundlinien für die Arbeit mit Gewalbetroffenen“ promoviert. Er arbeitet an einem Habilitationsprojekt zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche. Er ist Mitglied im Vorstand von „GottesSuche“.

Erika Kerstner, geb. 1951, war bis zur Pensionierung Grund- und Hauptschullehrerin u.a. für katholische Religion. Seit 2000 begleitet sie Frauen, die als Minderjährige oder Erwachsene von sexualisierter Gewalt betroffen waren und mit ihrem Glauben ringen. Sie hat die Initiative „GottesSuche: Glaube nach Gewalterfahrungen“ (www.gottes-suche.de) gegründet. Im Jahr 2012 erhielt sie für ihr Engagement in der Gewaltarbeit das Bundesverdienstkreuz.
Christiane Lange, geb. 1963, studierte Oecotrophologie, war Programmiererin, Tagesmutter, Pfarramtssekretärin und arbeitet heute in der Verwaltung einer Ev. Fachoberschule. Sie engagiert sich ehrenamtlich in verschiedenen Arbeitskreisen zur Betroffenenarbeit in der Ev. Kirche, ehemals im Betroffenenbeirat, heute im Beteiligungsforum sexualisierte Gewalt in der EKD und der Studie ForuM. Sie ist Mitglied in der Initiative „GottesSuche“.
Andreas Stahl, geb. 1989, studierte evangelische Theologie und ist Traumafachberater und Gemeindepfarrer in Augsburg. An der WWU Münster wurde er mit einer Arbeit über „Traumasensible Seelsorge: Grundlinien für die Arbeit mit Gewalbetroffenen“ promoviert. Er arbeitet an einem Habilitationsprojekt zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche. Er ist Mitglied im Vorstand von „GottesSuche“.



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