Kersh | Ouvertüre um Mitternacht | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 24, 270 Seiten

Reihe: Pulp Master

Kersh Ouvertüre um Mitternacht


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-927734-89-0
Verlag: PULP MASTER
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, Band 24, 270 Seiten

Reihe: Pulp Master

ISBN: 978-3-927734-89-0
Verlag: PULP MASTER
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Stimmung in der Londoner Bohème-Bar 'Bacchus' ist getrübt. Nicht nur weil Hitler ganz Europa in einen Krieg stürzen will. Viel schwerer wiegt die grausame Ermordung eines zehnjährigen jüdischen Mädchens aus der Nachbarschaft und der Verdacht, dass der Mörder höchstwahrscheinlich einer der Stammgäste ist. Die Polizei tappt im Dunkeln. Detective Inspector Dick Turpin spult sein Routineprogramm herunter, doch das ist der exzentrischen Powerfrau und eigensinnigen Sozialreformerin Asta Thundersley nicht genug. Sie ermittelt auf eigene Faust und beschließt, dem Täter eine Falle zu stellen... Gerald Kershs grandiose Mixtur aus Polizeiroman, Psychothriller und nihilistischem Noir zählt zu den Klassikern des Genres. Er erzählt von gescheiterten Existenzen und den Tücken des Lebens und veranschaulicht, wie viele Verlierer für einen Gewinner auf der Strecke bleiben.

Gerald Kersh (1911-1968) wurde in Teddington-on-Thames, London geboren und verstarb mittellos als amerikanischer Staatsbürger in Kingston, New York. Im Alter von 2 Jahren wurde er bereits für Tod erklärt, lebte dann aber noch lang genug, um über 1000 Artikel, 400 Kurzgeschichten und 19 Romane schreiben zu können. Während des zweiten Weltkrieges avancierte er zum Bestsellerautoren und startete eine schillernde Karriere, doch Steuerschulden, Krankheiten und persönliche Probleme im späteren Leben machten ihm dann einen Strich durch die Rechnung.

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2. Kapitel Aber der Bacchus Bar kam die Seele abhanden und Catchy die Attraktivität. Hätten Sie sie damals gekannt und könnten sie heute sehen, wüssten Sie, was ich meine, wenn ich sage, dass sie sich im Laufe der Jahre zu einer Frau entwickelt hat, die aussieht, als hätte man sie rückwärts durch eine dichte Hecke gezerrt. Die Zeit hat sie als ein Häufchen Elend zurückgelassen — die Zeit und die Sorgen. Sie hat Sorgen gehabt, das wird sie Ihnen fünf Minuten nach dem Kennenlernen erzählen. Diese blanken braunen Augen, die sich immer so aufrichtig und ruhig vom babyblauen Weiß abhoben, könnte man nun mit einem Paar Kakerlaken vergleichen, die verzweifelt auf zwei Untertassen mit gekochtem Rhabarber umherschwimmen. Ihr einst prachtvolles Haar gefällt sich in einem Zustand rustikalen Derangements. Es gebärdet sich irgendwie unkonventionell, will sich nicht fügen, sträubt sich gegen den Kamm: Es ist Haar in der Revolte. Sie ist jetzt einfach zu müde, um dagegen anzukämpfen. Vor ein paar Monaten unternahm sie einen allerletzten Versuch und färbte es blond. Nur verschlimmerte das die Sache. Die Mischung aus Wasserstoffperoxyd und Ammoniak, mit der sie es bleichte, machte das Haar noch widerspenstiger als zu dem Zeitpunkt, als sie die Chemikalien mit wilder Entschlossenheit und unter Zuhilfenahme einer Zahnbürste vermischte. Nachdem die Mixtur trocken war, wusch sie ihr Haar im Handwaschbecken, betrachtete sich in dem schmierigen, fleckigen Spiegel und weinte. Am selben Abend unternahm sie einen Selbstmordversuch. Sie verbarg ihr Haar unter einer Art Turban, ging in die Bacchus Bar und erzählte einer Freundin, die sie zufällig traf, dass sie vorhabe, endgültig mit allem Schluss zu machen. Nachdem sie ihr ganzes Geld ausgegeben hatte, ging sie nach Hause und schluckte zwanzig Aspirin. Nichts geschah. Catchy ist noch immer am Leben. Jeder weiß, dass Catchy das Thema Selbstmord ein halbes dutzendmal durchgespielt hat. Mit einem stumpfen Rasiermesser hat sie an den Sehnen ihrer Handgelenke herumgekratzt, sie hat Haarwasser getrunken, ein Fläschchen Jod zu sechs Pennys geschluckt, Aspirin genommen und den Gasofen aufgedreht, ohne ihn anzuzünden. Doch zufällig war immer jemand in ihrer Nähe, um sie zu retten, wenn sie der Rettung bedurfte. Catchy — und ich wiederhole mich — ist die Letzte der alten Garde aus der Bacchus Bar, und sie ist Lichtjahre davon entfernt, die zu sein, die sie einst war. Ihre Wangen sind aufgedunsen und runzlig zugleich, und ihr Teint erinnert in Farbe und Struktur an trockenen Weißkäse. Noch immer legt sie Wert auf ihr Äußeres: Die Fingernägel sind penibel dunkelrot lackiert, nur denkt sie selten daran, sich die Hände zu waschen. Dass sie es nicht über sich bringt, die Reste des Puders, der Creme und des Rouges vom Tage zuvor zu entfernen, spielt keine Rolle — gnadenlos macht sie sich jeden Morgen aufs Neue zurecht, trägt eine frische Schicht Schminke auf die rissig gewordenen alten Schichten. Catchys Zähne sind ebenfalls in einem problematischen Zustand. Nach der Geburt ihres Kindes — sie war einmal verheiratet — fielen zwei oder drei ihrer Backenzähne aus und wurden durch eine Brücke ersetzt. Jahre später löste sich die Brücke. Aber da hatte Catchy bereits jeglichen Willen verloren, etwas dagegen zu unternehmen, und so legte sie die Brücke in eine leere Coldcream-Dose. Während der letzten fünf Jahre hat sie hin und wieder mit dem Gedanken gespielt, einen Zahnarzt aufzusuchen, nur fehlt ihr immer die Zeit. Mittlerweile hat sie noch mehr ihrer eigenen Zähne verloren, andere sind locker geworden, sodass sie sich auf ein Lächeln verlegt hat, schmallippig-rätselhaft wie einst das der Kaiserin Josephine. Was Catchys wohlproportionierte Gestalt anbelangt — die ist Vergangenheit. Ihr Oberkörper wirkt aufgebläht, rund und prall. Arme und Beine sind noch immer ansehnlich und ihre Hände wären schön, fände sie nur Gelegenheit, sie zu waschen. Ihrem Kleidungsstil ist sie treu geblieben. Sie war immer eine gut gekleidete Frau mit Sinn für Stil und Farbe. Nun, da sie die Zeichen der Zeit ignoriert, kleidet sie sich in kurze Röcke mit niedriger Taille, als wären die Jahre nicht vorbeigezogen. Ihr Charakter jedenfalls hat sich im Großen und Ganzen nicht verändert. Sie ist auch weiterhin freundlich, mitfühlend, darauf bedacht, sich deine Probleme anzuhören und darüber zu reden, beseelt davon, dir etwas zu vergeben, bestrebt, dir Gutes zu tun, bereit, Geliebte und Mutter in einem zu sein. Aber das ist undenkbar. Die Leute wollen auf der Straße nicht mit ihr gesehen werden. Es geht nicht darum, dass sie hässlicher, älter oder wilder aussieht als andere Frauen der leichtlebigen Boheme, doch sie umgibt eine unbeschreibliche Aura der Vernachlässigung und des Verfalls, die Passanten veranlasst, sich umzudrehen und ihr hinterherzusehen. Catchy rennt an einem vorbei wie eine Wahnsinnige, die nach etwas äußerst Wichtigem sucht und sich nicht mehr erinnern kann, was es ist. Nicht zu übersehen ist eine überspannte Tragik, die sie zum Ausdruck bringt, vornehmlich dann, wenn sie gerade geweint hat. Dann schwillt ihr Gesicht an, bis es einem bemalten Luftballon ähnelt, dessen Farben im Regen verlaufen sind. Mindestens einmal am Tag weint sie. Sie trinkt so viel, wie irgend geht, denn es gibt etwas, was sie vergessen will. Die ersten Drinks muntern Catchy tatsächlich auf und dann kann sie eine lebhafte Gesellschafterin sein, der zuzuhören sich lohnt; mit einem humorigen Erzählstil, lebendig wiedergegebenen Anekdoten und Geschehnissen rund um Menschen, die sie gekannt hat. Denn sie verfügt über einen scharfen Blick, ein gutes Ohr und ein exzellentes Gedächtnis — alles im Grunde zu gut. In dem Moment jedoch, wenn sie am fröhlichsten und am ausgelassensten ist, bleibt ihr plötzlich ein vertrockneter Krümel dessen, was sie so hartnäckig zu vergessen sucht, im Halse stecken und bringt die Erinnerung zurück. Es schnürt ihr die Kehle zu. Sie verfällt in Schweigen, schluckt, hustet, schluchzt und weint schließlich mit rauer, lauter, heulender Stimme. Ab diesem Augenblick wird aus der angenehmen Gesellschafterin eine höchst unangenehme. Catchy streckt ihre Hände aus wie Enterhaken, packt dich und versucht, dir etwas zu erzählen, was keinen Sinn ergibt, irgendetwas hoffnungslos Unzusammenhängendes. Es ist erschütternd, ihr unkontrolliertes Schluchzen und Wimmern zu hören. Da lastet etwas auf dem unglücklichen Herzen dieser Frau, von dem niemand eine Vorstellung hat, was es sein könnte. Wenn sie plötzlich aufhört zu reden und in ihrer Kehle ein Geräusch zu hören ist, als würden die Haken eines eng geschnürten Korsetts aufspringen, zieht man sich zurück, wenn man klug ist — man zieht den Kopf ein wie seinerzeit, wenn eine V1-Rakete über einen hinwegzischte. Man weiß, was droht, und hofft, es möge einen verschonen. Sie haben alle ihre Sorgen, ihre nicht mitteilbaren Sorgen, diese gebrochenen Menschen, die den wilden Zwanzigern entstammen, sich hauptsächlich vom Schnaps anderer zu ernähren scheinen und nur in den eigenen rührseligen Tränen baden — diesen Pumpstationen an den Küsten eines toten Meeres. Am besten hört man ihnen gar nicht zu, sonst ist es am Ende an einem selbst, sie in einem Taxi nach Hause zu begleiten. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass sie umfallen und sich die Köpfe aufschlagen oder einem auf die Schuhe kotzen. Man ist gut beraten, sich nicht auf den beispiellosen Kummer von Mercedes einzulassen, die einst einen Mann liebte, der ihre Liebe nicht erwiderte. Es ist das Klügste, sich außerhalb der Reichweite des Flammenwerfers von Fifis Zorn aufzuhalten, die von ihrem geliebten Gatten geschieden wurde, weil dieser nicht progressiv genug war, um mit ihrer Leidenschaft für eine Buchkritikerin klarzukommen. Catchys Stimme, wenn Catchy mit der Geschichte ihres großen Kummers anfängt, gleicht der Stimme einer Katze in der Nacht — dieses Aufschreien, das einen vom Übergang zum Schlaf zurückholt, weil das umwölkte Bewusstsein einem sagt, dass da ein Mensch sein Herz ausschüttet, ein Herz, angefüllt mit so viel Kummer, dass, obwohl Worte nicht ausreichen, er einem dennoch etwas sagen will. Man setzt sich auf und da ist nur das Heulen eines Tieres in der Nacht. Also fällt man wieder in den Schlaf zurück. Wenn Catchy also zu weinen beginnt, befindet man sich für einen Moment in einem Zustand ängstlicher Wachsamkeit, falls man sie nicht kennt. Aber man kennt sie. Und so wird nichts, was sie sagt, von Bedeutung für einen sein: »Oh, warum, warum, warum? Sag’s mir, Schatz — Schatz, mein Schatz, um Gottes willen, lass mich nicht im Stich, sondern sag mir, warum! Du verstehst, du verstehst doch wirklich — nicht wahr? Ja, das tust du! Dann sag mir, um Himmels willen, sag mir, was hab ich denn getan? Ach, lieber Gott, wenn du wüsstest — wenn du nur wüsstest, wie unglücklich ich bin, wie elend! Hilf mir! Ich hab nicht den Mut dazu. Töte mich! Tu mir den Gefallen, töte mich, töte mich und ich werde nicht schreien. Schatz, ich bin tapfer, so viel tapferer, als du denkst! Töte mich! Welches Recht habe ich noch zu leben? Tu mir etwas an! Tu mir etwas Schreckliches an! Verbrenn mich mit einem heißen Bügeleisen ... Du glaubst, ich habe Angst, ha ha ha! Ich und Angst!?« An diesem Punkt drückt sie eine glühende Zigarette in der Hand aus, beugt sich vor und sieht einen mit einem flackernden Blick aus ihren wilden braunen Augen an. »Ich hab keine Angst. Sieh her, siehst du das? Und das? Angst, von wegen! Du hast Angst, nicht ich! Du bist ein Feigling, ein dreckiger, schäbiger Feigling! Ich hab...


Gerald Kersh (1911-1968) wurde in Teddington-on-Thames, London geboren und verstarb mittellos als amerikanischer Staatsbürger in Kingston, New York. Im Alter von 2 Jahren wurde er bereits für Tod erklärt, lebte dann aber noch lang genug, um über 1000 Artikel, 400 Kurzgeschichten und 19 Romane schreiben zu können. Während des zweiten Weltkrieges avancierte er zum Bestsellerautoren und startete eine schillernde Karriere, doch Steuerschulden, Krankheiten und persönliche Probleme im späteren Leben machten ihm dann einen Strich durch die Rechnung.



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