E-Book, Deutsch, Band 47, 128 Seiten
Reihe: pulp master
Kersh Hirn und zehn Finger
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-946582-25-0
Verlag: PULP MASTER
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 47, 128 Seiten
Reihe: pulp master
ISBN: 978-3-946582-25-0
Verlag: PULP MASTER
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jugoslawien, 1943. Eine kleine versprengte Truppe wacher, verzweifelter Männer flieht in den Wald, nachdem sie ein Munitionsdepot der italienischen Besatzer überfallen hat. Ihre Beute: Dynamit und Zünder für den Widerstand. Einer stirbt für den anderen, damit der Rest an einem anderen Tag weiterkämpfen kann. Darunter ist der junge Andrej, dessen Dorf in Slowenien von den Faschisten dem Erdboden gleichgemacht wurde und der hier in ebenfalls versprengten Serben und Kroaten Gleichgesinnte gefunden hat. Doch die rettende Holzbrücke wurde vom Hochwasser fortgerissen und die Verfolger sind nicht mehr weit ...
Nach dem kurzen, mächtigen Roman über das Massaker von Lidice verneigt sich Kersh nun vor den Menschen des Widerstands, vor aufrechten Menschen, denen ein inneres Licht innewohnt, das in der Dunkelheit sichtbar wird und zur Hoffnung der Menschheit gerät.
Gerald Kersh (1911 - 1968) wurde in Teddington-on-Thames, London geboren und verstarb mittellos als amerikanischer Staatsbürger in Kingston, New York. Im Alter von zwei Jahren wurde er bereits für tot erklärt, lebte dann aber noch lang genug, um über 1000 Artikel sowie 400 Kurzgeschichten und 19 Romane schrei ben zu können. Während des Zweiten Weltkriegs avancierte er zum Bestsellerautoren und startete eine schillernde Karriere, doch Steuerschulden, Krankheiten und persönliche Probleme im spä teren Leben machten ihm dann einen Strich durch die Rechnung.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1. Kapitel
»Wer viel durchleidet, erinnert sich an viel!«
Andrej, der Junge, beginnt mit der Geschichte ...
Podgora war mein Dorf, aber jetzt ist es kein Ort mehr. Vergebt mir, Brüder, wenn meine Geschichte kurz ist! Mein Vater und meine Mutter sind Staub. Meine Heimat liegt in Trümmern. Ich habe keinen Flecken mehr, habe nichts als meinen Namen: Andrej. Ich bin ein Niemand. Ich war noch nie mit einer Frau zusammen. Wäre ich dunkelhaarig, wäre mein Schnurrbart vielleicht schon gewachsen. Mir einen Schnurrbart stehen zu lassen war schon immer mein größter Wunsch, aber Gott hat es anders gewollt. Könnte ich noch einen Monat weiterleben, würde ich siebzehn Jahre alt werden. Doch ich muss morgen sterben oder vielleicht übermorgen, und dann wird auch mein Name verloren gehen. Niemand wird sich meiner erinnern; wenn nicht, vielleicht, einer meiner Freunde es fertigbringt, so lange zu leben, bis Frieden auf der Welt herrscht, und dann sagt er vielleicht zu seinen Kindern: »Kinder, ich war mit Marko und Klemen zusammen, und der Junge Andrej war auch dabei, und er hat seinen Beitrag geleistet wie ein Mann.« Klemen wird leben. Er ist wie ein Baum, eine starke Eiche, und wenn du ihn ansiehst, spürst du, dass er immer so bleiben wird: immer in voller Größe. Ich war an seiner Seite: Er wird sich an mich erinnern. Er wird sagen, dass ich keine Angst gehabt und ebenso gut gekämpft habe wie der Rest. Er war mein Freund, liebenswürdig und treu. Es passierte nachts. Mit anderen Kämpfern stand ich unter Markos Kommando. Marko war auch ein sehr feiner Mensch. Er war Serbe und hatte ein Gesicht wie ein Felsen. In dieser Nacht waren dreißig von uns an seiner Seite. Wir mussten Dynamit, Zündschnüre und Sprengkapseln beschaffen, also überfielen wir das Lager der Italiener. Es regnete und so konnte uns niemand hören, während wir uns durch den Wald bewegten. Es war Mitternacht, als wir die Bäume hinter uns ließen und den kleinen Hang hinaufgingen. Da war Stacheldraht, aber Marko durchtrennte ihn. Er wickelte kleinere Stofffetzen um den Draht, bevor er ihn zerschnitt, um das Knacken der Zange zu dämpfen. Dann schlich er sich von hinten an den Wachposten heran und stach ihm seitlich in den Hals, nah am Schlüsselbein, mit einem Fleischermesser. Sticht man auf diese Weise auf einen Mann ein, so füllen sich seine Lungen sofort mit Blut und er kann nicht mehr aufschreien. Schließlich krochen wir durch die Öffnung. Unter normalen Umständen, hatte Marko gesagt, müssten es fünfzehn von uns zurück schaffen. Die Italiener schienen zu schlafen. Wir wussten, wie man sich ruhig verhält. Wir hatten wie Wölfe gelebt. Wir waren fast bis zu der Stelle vorgedrungen, wo sie Munition und anderes Zeug lagerten, als uns jemand sah und das Feuer eröffnete. Danach mussten wir uns nicht länger ruhig verhalten. Einige von uns hatten kleine Maschinenpistolen dabei, manch andere Gewehre und Pistolen. Jeder von uns hatte Handgranaten. Wir hatten uns mit Schlamm getarnt und waren ungestüm wie Keiler, als wir angriffen, und die Italiener bekamen Angst: Sie wussten nicht, wie viele es von uns gab, bis jemand eine Leuchtpatrone abschoss. Sie ging am Himmel auf wie eine Dose Lampenöl, ein helles, unstetes grünliches Licht, und es war wie ein Traum, mit mehr Schatten als Männern und alles hüpfte und tanzte wie eine Dorfgemeinschaft auf einer Hochzeit. Anschließend hätte man denken können, alle Waffen auf der Welt würden zur gleichen Zeit abgefeuert. Es hätte euch gefallen. Es war großartig. Ich hatte eine kleine Maschinenpistole, die sie Beretta nannten. Ich war direkt hinter Marko. Er bewegte sich vorwärts wie ein Stier, feuerte ohne Unterlass, und ich machte es ebenso. Ich kann mich nicht an sehr viel erinnern. Irgendwie war es wie ein Traum. Ich weiß, dass es passiert ist, aber ich kann euch nicht alles schildern, es ging zu schnell, war zu grell. Wir gelangten ins Lager. Marko übergab mir eine Kiste mit Dynamit und ich reichte sie an Klemen weiter, der, wie zuvor abgesprochen, damit loslief, zu der Öffnung im Stacheldraht, sich dabei mit Schüssen aus seiner Pistole verteidigte. Marko reichte mir zwei Büchsen mit Sprengkapseln und Zündschnürren, und ich stopfte mir beides unters Hemd. Marko schnappte sich noch eine Kiste mit Dynamit und wir liefen raus. Zu diesem Zeitpunkt hatte es bereits viele unserer Kämpfer erwischt. Ich blieb dicht hinter Marko. Urplötzlich verkrallte er sich in seine Mitte und fiel hin. Ich weiß nicht, weshalb Gott mich verschont hat, denn Kugeln zerfetzten meine Jacke zu Streifen und doch blieb ich unversehrt. Aber als ich Marko fallen sah, vergaß ich alles um mich herum, denn er war eine Art Gott für mich: kein Freund wie Klemen, sondern so etwas wie ein Stern – irgendwas Strahlendes hoch oben. Ich stand über ihn gebeugt, als er sich aufrichten wollte. Er war entsetzlich verwundet. Alles, was von unserer Truppe übrig war, befand sich auf dem Rückzug. Ich hörte Marko etwas rufen. Ich konnte aber nicht verstehen, was er rief. Als er sich aufrichtete, erwischte ihn eine weitere Kugel, und er fiel zurück auf den Boden. Ich weiß nicht, was für eine Kraft das ist, die einem Mann gegeben ist, wenn er in Stücke gerissen wird und dennoch weitermacht. Marko war eine einzige große Wunde und er bot einen schrecklichen Anblick. Sein Gesicht hatte nichts mehr von einem Gesicht. Noch immer hing seine Pistole an einer Fangschnur. Ich konnte es im Licht eines weiteren Leuchtgeschosses sehen und zugleich den Regen, der wie ein Vorhang niederging. Marko schrie mich an: »Hau ab!«
Ich zögerte, denn es war meine Pflicht, ihm zu gehorchen, aber es war auch meine Pflicht, mit ihm zu sterben. Er kam wieder auf die Beine und begann loszulaufen, aber nicht zurück zu der Öffnung im Stacheldraht, sondern vorwärts, Richtung Lager: Sie schossen auf ihn und erwischten ihn dutzendmal. Ich weiß nicht, warum ich nicht getroffen wurde. Dann leistete ich Marko Folge und rannte wie die anderen. Als ich durch die Öffnung stieg, fegte ein Geschoss aus einem Maschinengewehr dicht über meinen Kopf hinweg und riss mich zu Boden, aber ich stand schnell auf und rannte bei dem Gedanken, dass Sprengkapseln und Zündschnüre unter meinem Hemd steckten und wir sie dringend brauchten. Am Fuße des Abhangs hatte ich die anderen eingeholt, und ich vermute, die Italiener fürchteten sich davor, uns zu verfolgen, wussten sie schließlich nicht, wie viele von uns es noch geben mochte. In dem Moment, als wir zwischen die Bäume tauchten, sah ich mich um und alle Aufregung verflog und ich stand da wie ein verirrtes Schaf. Ich war traurig, denn ich wusste, ich sollte Marko niemals wiedersehen. Und jetzt »kein Marko mehr« zu sagen, war, als sagte man »keine Sonne mehr, kein Mond«. Dann krachte alles zusammen. Zunächst gab es eine Art Blitz: Das musste Markos Kiste mit dem Dynamit gewesen sein. Dann ein leichtes Donnergrollen, das mussten Kisten mit Granaten gewesen sein. Und danach zersprang alles, die Welt, der Himmel, alles! Das ganze Lager ging in die Luft. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Als wäre die Hölle am Kotzen. Allein der Krach war wie ein Schlag mitten in den Kopf, und der starke Wind, ein heißer Atem, toste über unser Köpfe hinweg, zerrte an den Baumkronen und wirbelte Äste durch die Luft. So starb Marko. Ich wünschte, ich könnte auch auf diese Weise sterben anstatt auf meine. Ich weiß nicht, ob die Explosion die Wolken weggeblasen hatte. Möglich wär’s. Doch es hörte plötzlich auf zu regnen und auch der Wind legte sich. Wir hasteten durch den Wald. Wir waren insgesamt nur noch zu neunt und einer von uns, Janez, war verwundet. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich nicht erkennen, wo er verletzt oder ob er schwer verletzt war. Klemen leistete ihm Unterstützung. Ich hörte Janez sagen: »Lasst mich zurück, lasst mich zurück und macht, dass ihr selber weiterkommt.«
Doch Klemen hob ihn hoch. Er hatte seine Kiste mit Dynamit an Jova übergeben, der damit davoneilte. Sah man Klemen zum ersten Mal an, dachte man, man würde einen fetten Mann sehen, was ein großer Irrtum war. Der ist ja klein, dachte man, aber auch das ein Irrtum. Er war so breit, dass es schien, als würde er nach unten gedrückt, und zwar so tief, dass er rundlich aussah. Aber er war der stärkste Mann, der mir je im Leben begegnet ist. Er war schwer wie Blei und hart wie Eisen, konnte sich aber zugleich so behände bewegen wie eine Ziege und besaß die Elastizität eines Radiergummis. Man brachte ihn nie bis zur Ermüdung. Ich hatte ihn Bäume fällen sehen und er hatte etwas von einer Maschine: Sein letzter Schlag war so kraftvoll wie sein erster. Also lud er sich Janez auf die Schulter, wie ich mir ein Lamm auf die Schulter geladen hätte, marschierte los und schien Janez nicht einmal wahrzunehmen. Janez sagte immer wieder: »Lasst mich zurück, lasst mich zurück«, doch Klemen nahm überhaupt keine Notiz von ihm. Es klarte auf und der Mond zeigte sich, ein schmaler Neumond, kaum größer als ein Stück abgeschnittener Daumennagel. Nach diesem fürchterlichen Knall, mit dem Marko die Welt verlassen hatte, schien alles ruhig, friedlich, eigenartig. Man hatte das Gefühl, dass all die Kümmernisse hinter einem lagen und dass Frieden herrschte und dass man sich nur ein, zwei Augenblicke später ... ich weiß nicht, wie ... auf dem Weg zurück nach Podgora wiederfinden würde. Man hätte singen mögen. Niemals zuvor hatte ich...