Kerschke-Risch / Hauser / Schultz | Sexualisierte Gewalt gegen Kinder | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 172 Seiten

Kerschke-Risch / Hauser / Schultz Sexualisierte Gewalt gegen Kinder

Hintergründe - Zusammenhänge - Erklärungen

E-Book, Deutsch, 172 Seiten

ISBN: 978-3-17-042032-8
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



The public has been shaken again and again by reports of abuse scandals and sexualized violence against children. Such violence can take a wide variety of forms, ranging from the commercial darknet and child pornography images to institutionally shielded violence in churches and educational or sports facilities, to individual violence within families and in the child=s immediate social context. Officially, 16,996 cases of sexual abuse against children were recorded in Germany in 2020, but it is assumed that the number of unreported cases is around 340,000. How is this alarming number of tragic individual stories to be understood against the background of a society that is committed to freedom and human dignity? The authors examine this sad phenomenon from various viewpoints and in the process bring us closer to an incomprehensible phenomenon & to which we must nevertheless not close our eyes.
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Fragen an die Gesellschaft
Pamela Kerschke-Risch
Berichte in den Medien über sexualisierte Gewalt gegen Kinder rufen in unserer Gesellschaft seit längerem ungläubigen Schrecken und nicht nur bei Eltern Angst und Entsetzen hervor. Dabei sind es nicht nur die jahrzehntelangen Skandale und Vertuschungen in den Kirchen, sondern auch unzählige Vergehen im Kontext sportlicher Aktivitäten, systematische Übergriffe im Kulturbereich und unaussprechliche Gräuel in pädagogischen Einrichtungen, sondern auch professionelle Pornoproduktionen im Darknet – teilweise mit kleinen Kindern oder sogar Säuglingen. Dies alles erscheint unfassbar, und es stellt sich die Frage, wie solche Dinge in einer Gesellschaft wie der Bundesrepublik überhaupt möglich sein können. Wie kann es sein, dass sexualisierte Gewalt offenbar so häufig vorkommt, zudem vielfach totgeschwiegen und von Individuen und sogar ganzen Institutionen gedeckt wird? Wie kann es sein, dass in einer Gesellschaft, die sich in besonderer Weise dem Ideal der Menschenwürde verschrieben hat, Übergriffe gerade auf die Schwächsten von uns möglich sind? Denn Gewaltanwendung läuft unseren grundlegenden Werten entgegen und dies gilt insbesondere für sexualisierte Gewalt gegen Kinder. Bei diesen Fragen geht es vorrangig nicht um spektakuläre Einzeltäter, wie zum Beispiel den sogenannten »Maskenmann«, der in den 1990er Jahren in Deutschland drei Morde verübte, sowie mehr als 40 Sexualdelikte an Kindern, vorwiegend in Schullandheimen, begangen hatte. Auch geht es nicht um einen anderen, medial stark ausgeschlachteten Fall in Österreich, bei dem Natascha Kampusch, ein zum Tatzeitpunkt 10-jähriges Mädchen, entführt, 3096 Tage gefangen gehalten und sexuell missbraucht wurde, bevor sie im Jahr 2006 fliehen konnte. Zwar prägen gerade diese Fälle die medial vermittelten Vorstellungen über Sexualstraftäter in der Bevölkerung. Doch die reale Bedrohung dieser Art Gefahr wird überschätzt – diese geht statistisch gesprochen gegen null. Das unmittelbare Grauen und der Schmerz für die Betroffenen kann von dieser Erkenntnis natürlich nicht gelindert werden. Daher muss das öffentliche Bewusstsein dafür geschärft werden, dass die weitaus größere Gefahr im sozialen Umfeld der Kinder zu verorten ist. Die Nachrichten über sexualisierte Gewalt, die wir seit Jahren in konstanter Regelmäßigkeit erhalten, sind jedoch von einer anderen Qualität und keineswegs Einzelfälle. Sie betreffen vielmehr zunächst die Gesellschaft als Ganzes. So erschütterten seit etwa Mitte der 80er Jahre ausgehend von den Vereinigten Staaten diverse Missbrauchsskandale die Öffentlichkeit.1 Breite internationale Aufmerksamkeit erhielt das Phänomen, als im Jahr 2002 in der liberalen Tageszeitung Boston Globe eine Reihe investigativer Artikel erschienen. Das Autorenteam begnügte sich nicht nur mit der Aufdeckung sexualisierter Gewalt gegen Kinder innerhalb der katholischen Kirche in Boston, sondern legte auch den erschreckenden Umgang der Kirche mit diesen Fällen offen. Die Ereignisse wurden zu dem äußerst sehenswerten Kinofilm Spotlight verarbeitet (siehe dazu https://www.imdb.com/title/tt1895587). Die Kirche verweigerte nicht nur Hilfe und Entschädigung der Opfer, sondern war auch nicht um Aufklärung bemüht. Ganz im Gegenteil: Die Kirche übte Druck auf die Betroffenen und auf die Journalist:innen aus. Verschweigen und Vertuschen waren das Mittel der Wahl. Als schließlich die Wahrheit trotz aller Vertuschungsversuche durch das Engagement Unzähliger ans Tageslicht kam, waren das Entsetzen und die Empörung der Gesellschaft zu Recht groß. Die moralischen Fundamente der abendländischen Gesellschaft schienen in Frage gestellt. Woran kann man noch glauben, wenn jene, die uns von der Kanzel das Wort Gottes predigen, uns ermahnen, Gutes zu tun und uns sogar die Beichte abnehmen, sich selbst an Kindern vergehen oder als Institution Sexualstraftäter aus den eigenen Reihen decken? Gerade die Reaktionen der Menschen weltweit haben offenbar viele weitere Betroffene ermutigt, ihre teilweise Jahre oder jahrzehntelang zurückliegenden schrecklichen Erlebnisse öffentlich zu machen, sodass wenig später ähnliche Skandale die irische und seit etwa 2010 auch die deutsche Kirche erschütterten. Die Mechanismen in den Kirchen waren fast immer die gleichen: Verleugnen, Verheimlichen und den Opfern keinerlei Hilfe oder Unterstützung gewähren! Die Täter wurden in andere Gemeinden versetzt und konnten sich dort neue Opfer suchen. Wer nun die Alleinschuld bei der Kirche sucht, greift jedoch zu kurz. Wir müssen uns als Gesellschaft fragen, warum die Kirchen und ihre Vertreter für dieses Problem offenbar so anfällig sind. Warum konnte dies so lange im Verborgenen geschehen? Wie kann es sein, dass bei so schwerwiegenden Delikten die Kirche lediglich intern ermittelte? Und was müssen wir ändern, damit dieser Schrecken nachhaltig beendet wird? Allerdings ist die Kirche durchaus nicht die einzige Institution, in der es zu systematischen sexuellen Übergriffen und anschließenden Vertuschungen kam. Zu erinnern ist hier vor allem an die sich über Jahrzehnte hinziehenden sexuellen Übergriffe des Schulleiters der reformpädagogischen Odenwaldschule Gerold Becker und weiterer Lehrpersonen. Als im Jahr 1999 Jörg Schindler in einem Artikel in der Frankfurter Rundschau (Der Lack ist ab, 17.11.1999; https://web.archive.org) die Missstände durch die Aussage zweier Betroffener aufdeckte, blieb ein breites Echo der Öffentlichkeit zunächst aus und auch strafrechtlich verlief der Fall im Sand. Erst ab etwa 2009 kochte das Thema schließlich medial und juristisch hoch.2 Zu Tage traten unfassbare Ereignisse, bei denen Lehrkräfte die ihnen anvertrauten Kinder als Sexsklaven mit auf Urlaubsreisen nahmen oder sie auf ›Partys‹ Freunden zur Prostitution anboten, wobei Mädchen sogar geschwängert wurden. Unvorstellbar ist aber auch, dass die Schule bei Bekanntwerden der Skandale diese nicht unmittelbar und vorbehaltlos aufgeklärt hat. Vielmehr stand nach Aussage des Altschülersprechers Florian Lindemann »Eigenschutz im Vordergrund, mit dem Ergebnis: Die Opfer wurden vergessen, die Täter wurden geschont.«3 Und auch bei diesem Beispiel müssen wir uns als Gesellschaft fragen: Wie kann es sein, dass gerade im Kontext jener Institutionen, die sich dem Wohl und der Erziehung verschrieben haben, sexualisierte Gewalt gegen Kinder ausgeübt wird? Mehr noch: Wie kann es sein, dass mit dem Argument des »Selbstschutzes« Aufklärung verhindert wird? Wir müssen uns als Gesellschaft insgesamt fragen, welche Ideale von uns gepflegt werden, sodass solche Handlungsmuster, Rechtfertigungen und Argumentationsmuster überhaupt wirksam werden können. Kinderpornografische Darstellungen gibt es seit langem, jedoch war die Verbreitung in der Vergangenheit aufgrund der noch nicht vorhandenen technischen Möglichkeiten relativ begrenzt. Ein erschütterndes und spektakuläres Beispiel aus den 1980er und 1990er Jahren ist der Fall Marc Dutroux aus Belgien. Der Täter entführte, vergewaltigte und ermordete Kinder und junge Mädchen, u. a. um pornografische Videos zu erstellen. Die Fälle wurden zwar nie komplett aufgeklärt, doch wird vermutet, dass neben seiner Frau als Mittäterin weitere Personen involviert waren. Ermittlungspannen führten zu einer politischen Krise und erschütterten das Vertrauen in die belgische Justiz. Ein relativ neues Phänomen ist die Verbreitung von Kinderpornografie über das Internet. Hier steigen die Nutzerzahlen in einem erschreckenden Ausmaß an. So wurde etwa im Jahr 2017 die Plattform Elysium mit rund 100 000 Usern ausgehoben. Damals war dies die bis dato größte bekannt gewordene Plattform. Im Mai 2021 wurde die Darknet-Plattform Boystown mit bereits 400 000 Mitgliedern aufgelöst und gilt seitdem als eine der weltweit größten Plattformen für Kinderpornografie. Trotz dieser vereinzelten Ermittlungserfolge muss davon ausgegangen werden, dass sich das gesamte Ausmaß dieser riesigen Netze mit ihren vielen Opfern und unzähligen Täter:innen noch gar nicht abschätzen lässt. So viel ist aber allein schon anhand der angeführten Beispiele zu erkennen: Der ›Markt‹ für Kinderpornografie boomt! Laut den neuesten Zahlen ist die Anzahl der bekannt gewordenen Fälle im Jahr 2021 um fast 110 % im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Ein Grund dürfte darin liegen, dass der Zugang zu diesen Plattformen denkbar einfach war: Man musste lediglich ein Konto einrichten, indem man eine E-Mail-Adresse hinterlegt und Kontonamen und Passwort frei auswählt. Dadurch ist die Hemmschwelle, so einer Plattform beizutreten, offenbar sehr niedrig. Zu sehen waren hauptsächlich Darstellungen von...


Dr. Pamela Kerschke-Risch is a sociologist and criminologist. She teaches and carries out research at the University of Hamburg.


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