Briefe eines europäischen Flaneurs
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-8412-1398-3
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alfred Kerr, der einflußreichste deutsche Kritiker und Essayist, wurde 1867 in Breslau als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren. Er studierte in Breslau und Berlin, wo er seit 1887 lebte und für große Zeitungen und prominente Zeitschriften seine maßstabsetzenden Theaterkritiken schrieb: für das 'Magazin für Literatur', den 'Tag' und das 'Berliner Tagblatt' wie für die 'Neue Deutsche Rundschau'. Seine Bücher wurden 1933 von den Nazis verbrannt und er floh über die Schweiz und Paris nach London. Kerr starb 1948 in Hamburg.Von seinen Werken seien genannt: Die Welt im Drama (1917); Die Welt im Licht (1920); Es sei wie es wolle,/Es war doch so schön (1927); Die Diktatur des Hausknechts (1931).Günther Rühle, Herausgeber von Kerrs Berliner Briefen, wurde 1924 in Gießen geboren. Er arbeitet 25 Jahre als Kulturredakteur der FAZ, bevor er 1974 deren Feuilleton übernahm. 1985-1990 war er Intendant am Schauspiel Frankfurt und anschließend Feuilletonchef des Berliner 'Tagesspiegels'. Seit 1995 lebt er in Bad Soden. Günther Rühle ist Autor umfangreicher Publikationen zum deutschen Theater und Herausgeber der Gesammelten Werke von Marieluise Fleißer und Alfred Kerr.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1895
1. Januar 1895
Der Berliner Westen – diese elegante Kleinstadt, in welcher alle Leute wohnen, die etwas können, etwas sind und etwas haben und sich dreimal soviel einbilden, als sie können, sind und haben – hat in dieser Woche zwei Jubelgreise gefeiert. Ludwig Pietsch und Theodor Fontane. Pietsch ist siebzig, Fontane fünfundsiebzig Jahre geworden. Aber es gibt zwischen ihnen mehr Unterschiede als diese fünf Jahre. Der eine ist ein Temperamentsmensch, der andere ist ein nachdenklich-skeptischer Betrachter. Der eine ist ein lauter, aufgeknöpfter Amüseur, der andere ein stiller, zurückgezogener Mann. Der eine betrachtet die Erscheinungen, und es kommt ihm darauf an, äußere Eindrücke zu beschreiben; der andere betrachtet gleichfalls das äußere Leben, aber es kommt ihm darauf an, dabei seelische Zusammenhänge zu schildern. Der eine ist, kurz, ein Journalist, der andere ist ein Dichter. Nun hat der Journalist den Professortitel bekommen; der Dichter durfte nur, versehen mit den Tröstungen des Dr. phil. honoris causa, ins sechsundsiebzigste Lebensjahr schreiten. Ein alter, großgewachsener Herr ist Theodor Fontane, mit schmalem Seitenbärtchen und grauem Schnurrbart. Ein großes Tuch um den Hals gelegt, das über dem dicken Mantel sitzt, schreitet er die Potsdamer Straße entlang. Er geht gewöhnlich dicht an den Häusern, weil es ihm keinen Spaß machen würde, von den hundert Bekannten, die dort jeder Bewohner des Westens täglich trifft, angehalten zu werden. Nicht als ob er unfreundlich wäre. Aber es lohnt wahrhaftig nicht, ein paar Banalitäten auszutauschen und sich dafür zu erkälten. Vor dem Erkälten hat er nämlich große Angst; und darum hält er das berühmte graugrüne Tuch stets vorn mit der Hand zusammen. Unter dem Hut blicken die guten und klugen und großen grauen Augen in die Ferne, und mit raschen Schritten geht er, etwas nach vorn geneigt, unaufhaltsam seines Weges. Wenn es windig ist, schreitet er rascher, und er hält das Tuch fester und höher, bis über den Mund weg. Die grauen Locken bewegen sich dann leise, die dem alten Herrn über dem Nacken schweben. Es sind keine Künstlerlocken! Er sieht nicht aus wie ein greiser Barde, von dem zu befürchten ist, daß er eine Leier aus der Manteltasche zieht. Er hat etwas Altfränkisch-Militärisches. Er hat das Gesicht eines friedlichen pensionierten Offiziers aus den dreißiger Jahren. Über dem ganzen Mann schwebt im Äußeren, auch in der Kleidung, bis auf Halsbinde und Kragen ein Hauch der guten alten Zeit. Und das Staunenswerte ist: diese unmoderne Persönlichkeit hat unglaublich moderne Ansichten. Der älteste unter den deutschen Literaten ist zugleich der entschlossenste Parteigänger der jüngsten. Er wird von ihnen geliebt wie kein zweiter. Nicht minder von demjenigen Kreis der übrigen literarisch Interessierten, welcher nicht in rohen Bumbum-Effekten und verlogenen Sentimentalitäten den Gipfel der Kunst erblickt, sondern sich zu ehrlicher Lebensabschilderung und feinerer Seelenkunde hingezogen fühlt. Sie alle bestaunen ein Phänomen in dem Manne, der sich, im zarten Alter von sechzig Jahren, entschloß, ein naturalistischer Dichter zu werden; der sich hinsetzte und in »Irrungen und Wirrungen« flugs den besten Berliner Roman schrieb; der heut mit fünfundsiebzig Jahren noch ein wundervolles, lebenstiefes Abendstück von reifer und inniger Kunst zustande bringt. Der neue Reichstag, eingeweiht am 5. Dezember 1894, als Kerr seine Berliner Briefe zu schreiben begann Der Alte hat ein lebendiges Interesse an allem, was auf literarischem Felde vorgeht. Und was er für bedeutsam und tüchtig hält, dem spendet er unaufgefordert, in jugendlicher Herzlichkeit, sein Lob. Er braucht einen Menschen nicht zu kennen und tritt ihm plötzlich – ich hab es mit tiefer Freude an mir erfahren – durch einen Brief näher, weil ihm irgend etwas auffiel und gefallen hat. Und er ist ein Kritiker. Er hat in den langen Jahren, in denen er die zeitgenössische Dramatik, berufsmäßig richtend, verfolgte, unendlich fördernde, herbfrische, knappe Kritiken geschrieben, zugleich knorrig und fein, zugleich scharf scheidend und schmiegsam nachfühlend. Er schrieb sie für die Vossische. Und für die Vossische schrieb auch sein Leben lang der andere: Pietsch. Das ist wieder eine ganz andere Nummer! Ein großer, kräftiger, jünglinghafter Greis, mit geröteten Wangen, die Silberhaare künstlerisch drapiert, in den feurigen, grauen Augen ein rheinweinfeuchter Schimmer, die Manieren elegant, sicher, verbindlich, dabei in allem Tun und Lassen ein leiser Rest von Bohème und Sichgehenlassen, was die ungewöhnliche Liebenswürdigkeit, die von dem Mann ausgeht, wirkungsvoll steigert. Er ist ein Draufgänger, mit seinen siebzig Jahren, aus allen Gliedern zuckt ihm die joie de vivre, er lebt aus dem vollen, er hat schwerlich die Hoffnung aufgegeben, Frauen noch gefährlich zu werden, er ist bei jedem notablen Festessen, bei jeder Première, in jeder Ausstellung, bei jeder Einweihung. Er geht mit dem Kaiser nach England und beschreibt Flottenmanöver, er geht zum Zarenbegräbnis nach Moskau und ist am Abend nach der Rückkehr im Opernhaus, um am nächsten Vormittag ein Champagnerfrühstück mitzumachen, um dann bei Schulte gesehen zu werden, einen Spaziergang durch den Tiergarten zu machen, eine Redaktionskonferenz abzuhalten, rasch einen Artikel zu schreiben, abends Gäste bei sich in der Landgrafenstraße zu empfangen und schließlich mit ihnen ins Café zu gehen. Er ist mit allen einflußreichen Künstlern intim, duzt sich mit Ministerialdirektoren und kommandierenden Generälen, drückt im Vorübergehen einem Kommerzienrat die Hand, küßt einer Schauspielerin den Ellbogen und kneipt mit Eugen Zabel von der »Nationalzeitung«, dem Maler Warthmüller und einer Handvoll Premierlieutenants an dem berühmten runden Tisch bei Hausmann. Bei allen Frauen hat er einen Stein im Brett; denn wenn er sie schon durch seine Persönlichkeit bezaubert, wissen sie doch, daß er ihre Kostüme beschreiben kann … Ein Subskriptionsball kann ja ohne Pietsch gar nicht abgehalten werden! Er schildert die Lichter, den Glanz, die Pracht, die Farben, die Mull- und Tüllkleider und was sie nicht bedecken, er schildert die Parfums, die Musik, die Rosen und Heliotropen, die Fräcke, die Orden, die Gesichter, er schildert die jungen Mädchen – die Komtessen und die portemonnaie-aristokratischen –, er schildert die schönen Witwen und die glücklichen Gattinnen, die tapferen Krieger und die alten Exzellenzen, er schildert alles – bloß die Gedanken nicht, die seine Objekte im Herzen tragen. Hier macht er halt, und hier liegen auch die Grenzen seines Könnens. Er malt die Oberflächen, und er grämt sich nicht, daß er nicht mehr malen kann. Er ist mit sich zufrieden. Er schafft leicht, er verdient zwar keine Millionen, aber bei seinem Beruf führt er ohne Millionen ein Glanzleben. Er findet die Welt schön und will keinem Nebenmenschen Ursache geben, sie häßlich zu finden. Er verletzt niemanden, auch in seinen Kritiken nicht – höchstens die jüngeren Freilichtmaler bekommen ’mal ein paar Hiebe –, er ist der denkbar liebenswürdigste Kollege, auch gegen jugendliche Berufsgenossen von beschämender Kameradschaftlichkeit, seine Intimität mit den Granden steigt ihm nie zu Kopfe, und er scheint seinen versammelten Zeitgenossen in jeder Minute die Parole zuzuzwinkern: »Kindlein, liebet euch!« oder »Freut euch des Lebens« oder »Mensch, ärgere dich nicht« oder »O Gott, wie ist die Welt so schön, wenn man gesunde Glieder hat« … Daß dieser alte Jüngling an seinem siebzigsten Geburtstag ungewöhnlich zahlreiche Huldigungen empfing, ist begreiflich. Er verlebte das Jubiläum in etwas eigenartiger Weise. Es fiel auf den 25. Dezember; sein Wiegenfest begann also offiziell am 24. Dezember nachts zwölf Uhr. Da begann er denn auch mit der Feier. Er feierte in einer Tour von Weihnachten durch bis zum Anbruch des 26. Dezember. Er ging nicht schlafen, sondern – empfing. Die ganze Nacht durch waren Gäste da, sie kamen und gingen. Gegen Morgen entfernte sich der Jubeljüngling, nur auf fünfzehn Minuten, um eine kalte Douche zu nehmen. Er wollte dieser Gewohnheit nämlich nicht entsagen, da er ihr seit grade siebzig Jahren treu geblieben war. Die Gäste kamen und gingen. Er drückte unzählige Hände, ließ sich umarmen, teilte Küsse aus, tat gerührt, machte Honneurs, nahm ungezählte Telegramme und einen Professortitel entgegen, rauchte, trank Wein, stieß an und war glücklich. Man konnte kaum zur Tür hinein, so dicht gedrängt standen, saßen, schoben und pufften die Gratulanten; jeder, der zehn Minuten in dem von Kuchendünsten, Büffetdüften und Blumengerüchen angenehm geschwängerten Raum sich aufgehalten hatte, wurde abgespannt, nur einer nicht: der höllische Festgreis. Am 27. Dezember sah ich ihn bereits im Deutschen Theater, nachher waren wir bei Ronacher zusammen. Nachts um eins wandelte er behaglich nach Hause. Das Leben in Berlin muß doch nicht so aufreibend sein, wenn man sich so gut konservieren kann. Und doch – in dieser gefährlichen Gesellschaftsjahreszeit fühle ich mich kaputt und matt. Ich werde nächstens eine Schlafkur durchmachen – oder die deutsche Literatur wird den Verlust eines hoffnungsvollen jungen Mannes, so sagt man ja wohl, zu beklagen haben. Alle Tage kommt jetzt der Briefträger und bringt zwei bis drei Couverts von angenehmem Äußeren. Es stecken Einladungen darin »Th. N. und Frau geben sich die Ehre, Herrn … zum … am … den …ten … um … Uhr ergebenst einzuladen. Tiergartenstraße 8b. U. A. w. g.« Gewöhnlich erkennt man (nicht ohne leisen angenehmen Schauer) die Handschrift der Hausfrau: Denn ER,...