Phantomwahrnehmungen - auf den Spuren eines rätselhaften Phänomens
E-Book, Deutsch, 312 Seiten
ISBN: 978-3-456-76013-1
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Zielgruppe
Ärzte, Orthopäden, Schmerztherapeuten
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizin, Gesundheitswesen Medizintechnik, Biomedizintechnik, Medizinische Werkstoffe
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Physiotherapie, Physikalische Therapie Orthotik, orthopädische Technik
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Klinische und Innere Medizin Muskuloskelettales System, Bewegungsapparat
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Chirurgie Orthopädie- und Unfallchirurgie
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizin, Gesundheitswesen Labormedizin
- Technische Wissenschaften Sonstige Technologien | Angewandte Technik Medizintechnik, Biomedizintechnik
Weitere Infos & Material
|17|Zur Entstehung dieses Buches
Ende der Achtzigerjahre begegnete ich während meiner Zeit als Assistenzarzt der Unfallchirurgie erstmals amputierten Patienten. Ich lernte die chirurgische Sicht auf dieses Problem kennen, interessierte mich für Sportmedizin und Chirotherapie und begann, mich besonders mit Schmerzen zu befassen. Aber ich erinnere mich nicht, dass mir damals Phantome begegnet wären. Später, in der Ausbildung zum Facharzt für Anästhesie, begann ich mit Freunden, das Fach Schmerzmedizin im Krankenhaus zu etablieren, was damals recht schwierig war. Erst 1996 hatte der Deutsche Ärztetag eine Zusatzbezeichnung in Schmerztherapie beschlossen und der Widerstand der Kollegen begann zu bröckeln. Erst Jahre später, mittlerweile Oberarzt, konnte ich zum Ausbau einer Schmerzambulanz, einer Schmerztagesklinik und einer Bettenstation in unserem großen Krankenhaus beitragen. Und nun begegneten mir auch vermehrt Patienten mit Phantomschmerzen. Dass dies allerdings dazu beitragen sollte, dass ich, nun schon im fortgeschrittenen Alter, plötzlich Studien durchführen und Publikationen schreiben würde und ein Jahrzehnt später dann aus meiner Praxis heraus sogar meine Habilitation zum Hochschullehrer mit diesem Thema erlangen würde, ahnte ich damals freilich nicht. Gezündet wurde diese Entwicklung durch ein einziges Ereignis an einem heißen Sommertag im Jahr 2002. Das Wartezimmer der Schmerzambulanz war voll, als meine Tür aufging und die Ambulanzschwester mich bat, dringend ins Wartezimmer zu kommen. Dort fand ich einen 70-jährigen Patienten mit schmerzverzerrtem Gesicht. Herr Mitsch (alle Patientennamen im Buch sind geändert), ein freundlicher und bescheidener Ruheständler, der vor Jahren sein Bein wegen Arterienverkalkungen |18|verloren hatte, erlebte eine fürchterliche Schmerzattacke in seinem gar nicht mehr vorhandenen Fuß. Das Bild, das sich mir bot, habe ich noch klar vor Augen. Mit hochrotem Kopf, nass geschwitzt und den Oberschenkelstumpf fest mit den Händen pressend, saß er kaum ansprechbar dort und schrie vor Schmerzen. Die Attacke war nur kurz, zu kurz für ärztliche Gegenmaßnahmen. Nach gemeinsamer Hilflosigkeit angesichts dieser eindrucksvollen Situation erzählte mir der tapfere Mann, dass ihn solche Attacken täglich begleiteten und, wären sie nicht so kurz, ihn schon längst dazu gebracht hätten, sich das Leben zu nehmen. Alle erdenklichen medizinischen Maßnahmen waren zur Behandlung erfolgt, nichts hatte sein Leiden befriedigend lindern können. Seine Krankenakte las sich wie ein Lehrbuch der Schmerztherapie, viele ebenfalls erfolglose alternative Therapieversuche eingeschlossen. Später, nachdem ich irgendwann eine Injektion in seinen Amputationsstumpf vorgenommen hatte, berichtete mir genau dieser Patient etwas ausgesprochen Verwunderliches: „Wissen Sie, was komisch ist, Herr Doktor?“ sagte er, „ich hatte ja jeden Morgen und jeden Abend meine beiden Füße regelmäßig bewegt, so eine Art Gymnastik!“ (Er konnte also auch seinen amputierten Fuß willentlich und vollständig bewegen!) „Aber nur wenige Tage nach der Spritze konnte ich das einfach nicht mehr“. Eine ärztliche Maßnahme am peripheren Körper hatte sozusagen absichtslos in das Bewegungsprogramm seines Gehirns eingegriffen und ein vorher mental problemlos bewegliches Phantom zum Schweigen gebracht?! Ich war verblüfft, ich war ratlos. Am Abend, über den Tag nachdenkend, wich meine Betroffenheit über das Schicksal des Mannes nach und nach einer Faszination für Phantomphänomene, die bis heute anhalten sollte. Eine Reise in eine Welt voller Merkwürdigkeiten, voller scheinbar autonomer Phantome, skurriler Darstellungen und kaum glaubhafter klinischer Beobachtungen begann. In eine Welt voller Neugier auf die Literatur, die es hierzu wohl geben würde, eine Welt der Begeisterung für die Neurowissenschaften und unser Gehirn. Ein Gehirn, welches ich bis dahin als Anästhesist immer nur zu betäuben hatte. Herr Mitsch, quasi zufälliger Geburtshelfer meines nicht enden wollenden Staunens über Phantome, besuchte mich noch oft in der Schmerzambulanz und teilte mit mir noch viele seiner Erlebnisse: von seiner Amputation, den Nachamputationen wegen Wundheilungsstörungen |19|und seiner Verzweiflung, nicht mehr gut laufen zu können. Aber er schilderte mir auch, wie interessiert er sich mit seinem Phantom, diesem Nebelgefühl, auseinandersetzte. Für ihn war es nach einiger Zeit selbstverständlich, die Zehen und Füße zeitgleich bewegen zu können. An beiden Beinen – dem vorhandenen und dem nicht mehr vorhandenen! Er machte mir klar, dass sein Bein für ihn genauso da sei, wie meines für mich. Es hatte sich trotz der Amputation für ihn nichts geändert. Sein Bein war noch da. So sehr, dass er einmal beim Aufstehen aus seinem Fernsehsessel völlig vergaß, dass er keine Prothese anhatte und hinfiel. So sehr, dass er nachts mit einem kalten Phantomfuß erwachte und immer, wenn dies der Fall war, bemerkte, dass ihm die Decke verrutscht war. Und so sehr, dass sein Phantom beim Laufen irgendwann mit der Prothese komplett „verschmolz“. Aber genauso intensiv, wie er die Körperform und Beweglichkeit spürte, kamen auch die Schmerzattacken. Attacken, die er auf einer Schmerzskala zwischen 0 (kein Schmerz) und 10 (stärkster vorstellbarer Schmerz), ohne mit der Wimper zu zucken, sofort auf 10 einstufte. Schmerzen, „als wenn mir jemand von unten bis oben ein Messer durch die Wade zieht, den Unterschenkel komplett um die eigene Achse dreht oder den Fuß in siedendes Wasser stellt“. Schmerzen, die sein Herz rasen ließen und zu Schweißausbrüchen und Schreien führten. Aber immer nur kurz. Manchmal für Sekunden, manchmal für einige Minuten. Er hatte gelernt, damit umzugehen. Er hatte gelernt, sich zurückzuziehen, da niemand diese Art Schmerzen verstand, hatte gelernt, in seiner engsten Umgebung eine Pause einzufordern, wenn er sie brauchte. Und er hatte gelernt, viel zu schlafen. Schlafen wegen der schmerzbedingten Erschöpfung, schlafen wegen der ständig unterbrochenen Nächte und schlafen wegen der müde machenden Wirkung der nur begrenzt wirksamen Medikamente. Von ihm habe ich viel gelernt und lehrreiche Mitteilungen, wie seine es waren, sollen das Herzstück dieses Buchs sein. Keineswegs alle Phantome tun aber weh. Es begegneten mir in der Praxis später auch eine Frau, die drei Arme zu haben schien, ein Armamputierter, der seine „Geister-Faust“ nicht mehr aufmachen konnte und eine ältere Dame, die entsetzt nach sechzehn Jahren erst feststellte, dass sie ihre amputierten Zehen bewegen könne. Als ich dann noch las, dass eine Frau ihr Phantom sogar sehen konnte und dabei ihr Sehzentrum im Gehirn tatsächlich aktiv war und es ein Mädchen gab, welches, ohne Hände geboren, ihre Rechenaufgaben in der Grundschule dennoch |20|immer an den mentalen Fingern abzählte, stand mein Entschluss fest: Ich würde solche Fälle beobachten, sammeln und irgendwann ein Buch dazu schreiben. Wir alle stehen staunend vor solchen Geschichten und ich möchte versuchen, deren Hintergründe zu erläutern. Hierzu werde ich mich, beabsichtigt wie zwangsläufig, immer wieder zwischen persönlichen Erlebnissen, Fallbeispielen und wissenschaftlichen Erläuterungen hin- und herbewegen. Im 19. Jahrhundert noch waren Berichte dieser Art für die Medizin essenziell. Viele klinische Fortschritte ergaben sich nur durch die Bemühungen Einzelner, Symptome und Syndrome exakt zu beobachten und zu beschreiben. In der heutigen Zeit ist es erheblich schwieriger, als Arzt eine Schilderung und Beobachtung „einfach so stehen zu lassen“, ohne dass Patienten oder Kollegen sogleich auch eine wissenschaftliche Begründung dafür einfordern. Bleibt diese dann aber zunächst aus, folgt schnell die ungeduldige wie ratlose, aber falsche Schlussfolgerung: „Das kann nicht sein, denn es ist ja nicht zu erklären“. Eine innere Stimme, unser Kausalitätsbedürfnis, verlangt von uns, die beobachteten Vorgänge körperlich, physiologisch oder psychologisch exakt zu erklären. Manchmal sind jedoch gerade Fallbeispiele, Beobachtungen und Überraschungen intuitiv ausgesprochen wertvoll. Sie rufen nämlich bei guten theoretischen Kenntnissen schnell Assoziationen hervor, welche einer Beobachtung dann weit mehr Bedeutung geben als deren alleinige Beschreibung. So will dieses Buch auch theoretische Grundlagen vermitteln, welche beim Leser, neben erstauntem Kennenlernen, vielleicht Interesse wecken und tatsächliches oder intuitives...