Kermani | In die andere Richtung jetzt | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 275 Seiten

Kermani In die andere Richtung jetzt

Eine Reise durch Ostafrika
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-406-81970-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Reise durch Ostafrika

E-Book, Deutsch, 275 Seiten

ISBN: 978-3-406-81970-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Navid Kermani ist vom Süden Madagaskars bis in die Nuba-Berge im Sudan gereist. Behutsam, am einfühlsam beobachteten Detail, läßt er den Osten Afrikas lebendig werden. Aber zugleich, aus neuer Perspektive, denkt Kermani über die Themen auch unserer Gegenwart nach, über Klimawandel, Krieg, Entwicklung und Identität sowie die grundsätzlichen Fragen der Existenz.

Bis heute gilt Afrika als der «vergessene Kontinent», dabei ist es spätestens seit dem 19. Jahrhundert vor allem der umkämpfte Kontinent. Europäische Kolonialmächte haben hier tiefe Wunden hinterlassen. Der arabische Norden trägt seine Religion und Kultur in den Süden, oft mit Gewalt. China und der Westen konkurrieren um Bodenschätze und Einfluß. Vergessen ist Afrika vor allem da, wo es nichts zu holen gibt, etwa auf Madagaskar. Hier haben die Vereinten Nationen die erste Hungersnot deklariert, die vom Klimawandel verursacht wurde. Hier beginnt die Reise, die Navid Kermani für DIE ZEIT unternommen hat. Sie führt ihn weiter über die Komoren, Mosambik, Tansania, Kenia und Äthiopien bis in den Sudan. Wo andere Schriftsteller Ursprünglichkeit suchten, entdeckt Kermani Bevölkerungen und Kulturen in Bewegung, oft auf der Flucht vor Krieg und Dürre. Vor allem aber haben sie schon immer kreativ neue kulturelle Einflüsse aufgegriffen und zu etwas Eigenem gemacht. Das zeigt sich nirgends so deutlich wie in der Musik. Sie bildet den heimlichen roten Faden des glänzend geschriebenen Buches, das einem unwiderstehlichen literarischen Rhythmus folgt.

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13. August 2022 Salman Rushdie ist angegriffen worden. Am Flughafen Frankfurt das zweite Interview gegeben, das erste vier Stunden zuvor beim Packen, während im Fernseher Fußball lief. Die üblichen Sätze, mit denen man sich selbst versichert, auf der richtigen Seite zu stehen, aber stimmt es denn nicht auch? In diesem Fall? Wenn ein Schriftsteller ermordet, das freie Wort verboten werden soll? In den Nachrichten der Papst, der für die Mißhandlung der indigenen Kinder in kanadischen Heimen um Vergebung bittet. Irgendwann ist er den Rest der Menschheit durch. Scham ist auch das, was ich empfand, als ich mich für die Reise vorbereitete, jedenfalls die Hälfte der Zeit. Die Hälfte? Ja, weil die Bücher über Afrika sich auf zwei Stapel legen lassen: Von dem einen lernte ich, daß man den Kolonialismus, so schändlich er auch gewesen sei, nicht für alles verantwortlich machen könne, und erhielt viele plausible Gründe für diese Sicht, bis man sich am Ende fragt, ob nicht doch der Rassenunterschied als Ursache für die Misere gemeint ist. Ja, ich ertappe mich selbst bei Gedanken der Art, die Schwarzen kriegten es einfach nicht hin. Haiti und Liberia. Der zweite Stapel Bücher legt in kaum glaublichen Details dar, wie sehr die heutigen Verhältnisse von Bedingungen bestimmt werden, die der Kolonialismus geschaffen hat. So bekommt man den Eindruck, die neuen afrikanischen Nationen hätten erstens keine Chance gehabt, und die Chancen, die sie nie hatten, seien von den früheren Kolonialmächten und einem Weltwirtschaftssystem, das die Armen bestraft, auch noch systematisch zunichte gemacht worden, bis die Hilfsindustrie übernahm, von der – selbst von der – die Geberländer ebenfalls profitieren. Nicht wirklich herausgefunden habe ich, wie es den Menschen vor der europäischen Kolonisation ging, das wird auch von Landschaft zu Landschaft unterschiedlich gewesen sein; aber Unrecht, Grausamkeit, Hunger wird es gegeben haben, und nicht zu knapp, schon weil Unrecht, Grausamkeit, Hunger immer und überall herrschten vor der modernen Zivilisation, die mit großem Gleichheitspathos ein Reich der happy few schuf. Als Kind von Einwanderern gehöre ich glücklicherweise dazu. Die Berlinale-Gewinner Mohammad Rasoulof und Jafar Panahi nicht, die soeben in Iran verhaftet worden sind, zwei der bedeutendsten Filmregisseure der Welt, ohne daß sich die Bundesregierung während der Atomverhandlungen auch nur eine Erklärung abringt, Sicherheit schlägt Menschenrecht. Ich möchte die Vergangenheit nicht verklären, seit Kain und Abel bereits schlägt der eine Bruder den anderen tot. Aber viel klarer als bisher, nämlich im Detail, wurde mir dank des zweiten Stapels bewußt, daß nichts, was auf dem afrikanischen Kontinent heute geschieht, kein Krieg, kein Nepotismus, keine Hungersnot, ohne die Hinterlassenschaft des Kolonialismus zu erklären ist. Mit den von den Kolonialmächten eingesetzten Häuptlingen etwa geriet die kulturell tief verankerte Machtbeschränkung durch Ältestenräte und traditionelle Instanzen aus dem Gleichgewicht. Die Konzentration auf Exportprodukte, die sich in der jetzigen Nahrungskrise so dramatisch auswirkt, war bereits im 19. Jahrhundert von den Kolonialisten gewollt, ebenso wie die systematische Verhinderung der Industrie, damit ein ständiger Bedarf für verarbeitete Produkte blieb. Daß das Eisenbahnnetz und die wichtigsten Verkehrswege nicht verschiedene Regionen verbinden sollten, sondern fast ausschließlich dazu dienten, Rohstoffe aus dem Landesinneren an die Küste zu transportieren, macht sich bis heute bemerkbar, wenn man innerhalb eines Landes von Norden nach Süden unterwegs ist. Und das sind nur drei von unzähligen gut dokumentierten Beispielen, die den Stapel mit den Apologien wenn schon nicht widerlegten, so doch ziemlich alt aussehen ließen. Selbst ich, der in der Anklage des Westens häufig eine Ausrede erkennt, um vom autochthonen Versagen abzulenken, staunte Buch um Buch und Aufsatz um Aufsatz mehr, wie konkret die kolonialen Verbrechen den Kontinent bis heute belasten, die Ökonomie, die ethnischen Konflikte, die schlechte Regierungsführung … Danach findet man den Untergang des Abendlandes fast so gerecht wie Thomas Mann und Albert Einstein das Ende deutscher Staatlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Simone Weil, auf die ich in meinen Lektüren zum Kolonialismus überraschend häufig traf, und jedesmal brachte sie einen neuen Gedanken ein, so weltfremd sie auch war oder gerade deshalb, wegen ihres fremden Blicks – Simone Weil hat das Neuartige am Hitlerismus bereits Anfang der Vierzigerjahre charakterisiert als «Deutschlands Anwendung von kolonialen Eroberungs- und Herrschaftsmethoden auf den europäischen Kontinent und noch allgemeiner gesagt auf die weißrassigen Länder». Und vermutlich ohne sie gelesen zu haben, pflichtete Aimé Césaire ihr 1950 in seiner Rede über den Kolonialismus bei, als er von «Hitlerism before Hitler» sprach: So sei es auch nicht das Verbrechen an sich gewesen, das der Westen unverzeihlich fand, das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, «sondern das Verbrechen gegen den weißen Menschen und daß er, Hitler, kolonialistische Methoden auf Europa angewendet hat, denen bislang nur die Araber Algeriens, die Kulis Indiens und die Neger Afrikas ausgesetzt waren». Weil und Césaire bezogen den Vergleich nicht allein oder nicht sosehr auf die Schoah, vielmehr auf die Idee des deutschen Lebensraums. Kolonialismus und Nationalsozialismus waren für keinen von beiden identisch. Eher sahen sie wie später Hannah Arendt in ihrem berühmten Buch über «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» in dem Zivilisationsbruch der Europäer anderswo den Vorboten für den Zivilisationsbruch auf dem europäischen Kontinent selbst. Mit den drastischen Worten Césaires: «Der Kolonisator verwandelt sich selbst in ein Tier, wenn er sich, um ein gutes Gewissen zu haben, daran gewöhnt, im Anderen das Tier zu sehen, und sich darin übt, ihn als Tier zu behandeln.» Offensichtlich ist außerdem, daß erst die moderne Zivilisation Verhältnisse geschaffen hat, in denen die Menschheit die Grundlagen ihrer eigenen Existenz zerstört, Brandrodung, Klimawandel, Überbevölkerung, Maschinengewehre, Wachstum und Konsum. Allmählich bekommen es auch die happy few mit. Für die übrigen ist es womöglich schon zu spät. Please come immediately to the gate. * «Man redet mir von Fortschritten, von Errungenschaften, geheilten Krankheiten, von gestiegenem Lebensstandard», lese ich auf dem Flug weiter Aimé Césaire: «Ich aber rede von Gesellschaften, die um ihre Identität gebracht sind, von niedergetrampelten Kulturen, von ausgehöhlten Institutionen, von konfisziertem Land, von ausgelöschten Religionen, von vernichtetem künstlerischem Glanz, von vereitelten großen Möglichkeiten. Man wirft mir Fakten, Statistiken, Straßen-, Kanal- und Eisenbahnkilometer an den Kopf. Ich aber rede von Millionen, denen man ganz bewußt die Angst, den Minderwertigkeitskomplex, den Kniefall, die Verzweiflung, das Domestikentum eingebleut hat.» Die westlichen Apologien des Kolonialismus, die Césaire zitiert, über die Ungleichheit der Kultur, über die Werte, die man nicht relativieren dürfe, und damit implizit die eigene moralische Höherwertigkeit, könnten von heute sein. Auf der richtigen Seite stehen. 14. August 2022 Zwischenlandung in Addis Abeba: Eigentlich wäre ich schon vor zwei Wochen geflogen, allein, der PCR-Test, der für die Einreise nach Madagaskar vorgeschrieben ist, fiel positiv aus. Keine Ahnung warum, Symptome hatte ich nicht, der Schnelltest blieb negativ. In Deutschland kommen die Epidemiologen mit ihren Erklärungen nicht mehr hinterher, und der Gesundheitsminister sagt heute dies und morgen das Gegenteil, weil selbst er die Zahlen nicht mehr versteht. Lova Andrianaivomanana, der mich durch den Süden Madagaskars führen wird, war eigens in die Hauptstadt Antananarivo gefahren, um mich abzuholen. Fünfzig Stunden nonstop im Minibus auf holprigen Pisten und zurück ergibt hundert, wieder hin … hundertfünfzig Stunden im Minibus, und neu planen muß er die Reise außerdem. Er stöhnte nicht einmal auf, als ich ihm absagte, wunderte sich auch nicht sehr, sondern war freundlich und warmherzig wie eh. Take care of you, my friend, simste er nach unserem Telefonat, weil ich offenbar besorgt geklungen hatte oder genervt. Sein Gleichmut steckte mich in meiner Quarantäne an, das war schön. Oder ist das auch wieder nur Kitsch, afrikanischer ...


Navid Kermani ist habilitierter Orientalist und lebt als freier Schriftsteller in Köln. Für sein Werk wurde er u.a. mit dem Kleist-Preis, dem Breitbach-Preis, den Hölderlin-Preis und dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. 2024 erhält er den Thomas-Mann-Preis.



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