E-Book, Deutsch, 96 Seiten
Kerkhoff / Neumann / Neu Ratgeber Neglect
2., aktualisierte Auflage 2020
ISBN: 978-3-8444-3098-1
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Leben in einer halbierten Welt
E-Book, Deutsch, 96 Seiten
ISBN: 978-3-8444-3098-1
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nach etwa einem Drittel der Schlaganfälle entwickeln die Betroffenen einen Neglect: Sie verhalten sich so, als ob eine Raum- und Körperhälfte für sie nicht mehr existiere – so als haben sie sie einfach vergessen. Da die eigene Krankheit in der Akutphase nicht wahrgenommen werden kann, fällt die Motivation zur Therapie oft schwer. Eine intensive Behandlung ist jedoch von zentraler Bedeutung.
Die aktualisierte Auflage des Ratgebers fasst in allgemeinverständlicher Form die wichtigsten Informationen über das neurologische Krankheitsbild zusammen. Es werden die Ursachen, Symptome, der Krankheitsverlauf und die Behandlungsmöglichkeiten dargestellt. Ebenso werden Fachbegriffe erläutert und häufig gestellte Fragen beantwortet. In der Neuauflage des Ratgebers werden zusätzlich neu entwickelte Therapieformen sowie neue Erkenntnisse zur Ursache, Anatomie und Diagnostik dargestellt. Listen mit Behandlungseinrichtungen, Selbsthilfegruppen sowie hilfreichen Internetseiten runden den Ratgeber ab.
Zielgruppe
Angehörige, Betroffene und therapeutisches Fachpersonal
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Physiotherapie, Physikalische Therapie Rehabilitation
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Biologische Psychologie, Neuropsychologie
- Sozialwissenschaften Pädagogik Schulen, Schulleitung Universitäten, Hochschulen
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Klinische und Innere Medizin Neurologie, Klinische Neurowissenschaft
Weitere Infos & Material
|23|5 Erscheinungsformen von Neglect
5.1 Bereiche des Raumes
Neglect kann mehr oder weniger ausgeprägt in verschiedenen Erscheinungsformen auftreten. Häufig sind gleich mehrere Sinne betroffen. Mit unseren Sinnen, wie Sehen, Hören, Riechen oder Tasten, nehmen wir die Welt wahr. Dabei unterliegt jeder Sinnesbereich bestimmten Begrenzungen. Zum Beispiel können wir jemanden über größere Entfernung sehen, ihn aber nicht mehr hören oder wir können etwas hören, es aber nicht ertasten. So lässt sich der Raum, der uns umgibt, in unterschiedliche Bereiche, sogenannte Raumsektoren, unterteilen, ganz in Abhängigkeit davon, wie weit ein bestimmter Bereich von unserem Körper entfernt ist. Diese Raumsektoren umgeben unseren Körper etwa so wie die verschiedenen Schichten einer Zwiebel (siehe Zeichnung). Am weitesten entfernt liegt der Fernraum (extrapersonaler Raum). Dieser Raumsektor liegt außerhalb der Reichweite unserer Arme. Geschehnisse in diesem Bereich können wir zwar mit unseren Augen (visuell) und Ohren (auditiv) wahrnehmen, jedoch nicht berühren. Im Greifraum (peripersonalen Raum) können wir zusätzlich den Tastsinn unserer Hände (taktil) benutzen. Neben diesen Sektoren existiert noch der den Körper wenige Zentimeter umgebende sog. Ultranahraum. Hier können wir – neben Sehen und Hören – mit unserem Tastsinn (taktil) über die Haut wahrnehmen sowie über unseren Geruchssinn riechen (olfaktorisch). Unseren eigenen Körper nehmen wir im Körperraum war, dem sog. personalen Raum. Darüber hinaus existiert „Raum“ auch in unserer Vorstellung, z.?B. beim Erinnern an eine Wegbeschreibung oder ein Bild. Dieser vorgestellte Raum wird als repräsentationaler Raum bezeichnet. |24|Ob Neglect einen einzelnen Sinnesbereich oder mehrere Sinne gleichzeitig betrifft, die Konsequenzen einer halbseitigen Vernachlässigung können gravierend sein. Einen Einblick in Erscheinungsformen und deren Symptome geben die nachfolgenden Beschreibungen. Da Neglect meist nach Schädigungen der rechten Hälfte des Gehirns auftritt, beziehen sich nachfolgende Symptombeschreibungen auf eine Vernachlässigung der linken Seite des Raumes oder Körpers. 5.2 Vernachlässigung beim Sehen – Visueller Neglect
Die Vernachlässigung beim Sehen wird als visueller Neglect bezeichnet. Sie ist die häufigste und sicherlich bekannteste und offensichtlichste Form eines Neglects. Patienten mit diesem Störungsbild haben Probleme beim Suchen nach Gegenständen, z.?B. nach einer Gabel auf einem Tisch. Sie beginnen ihre Suche nach Objekten oder Personen nahezu immer auf der rechten Seite. Meist suchen sie diese Raumhälfte wiederholt ab, auch wenn die Suche erfolglos bleibt. Die linke Raumhälfte beziehen sie nicht mit ein. Darüber hinaus ist ihr Überblick erheblich eingeschränkt: |25| Die Abbildung zeigt das Suchmuster eines Patienten mit Neglect (schwarze Linien). Die Aufgabe bestand darin, den Pürierstab zu suchen. Personen, Gegenstände und Hindernisse auf der linken Seite werden von betroffenen Patienten nicht beachtet oder erst sehr spät wahrgenommen. Die Augen und auch der Kopf sind bei ausgeprägter Symptomatik zudem auf die intakte Körperseite gerichtet – meistens nach rechts. Das erschwert es zusätzlich, Blickbewegungen über die Mitte des Körpers hinaus zu richten und die „andere Hälfte der Welt“ wahrzunehmen. 5.3 Vernachlässigung beim Hören – Auditorischer Neglect
Die Vernachlässigung beim Hören wird als auditorischer Neglect bzw. akustischer Neglect bezeichnet. Hierbei werden z.?B. Geräusche, Töne oder Gespräche auf der betroffenen Hälfte nicht beachtet. Laute Geräusche aus der Umwelt, etwa das Knallen einer Türe, rufen beim gesunden Menschen eine sogenannte Orientierungsreaktion hin zur Schallquelle hervor. Anders ausgedrückt: wir wenden uns intuitiv einem Geräusch zu. Auch wenn jemand unseren Namen ruft, wenden wir uns ihm zu, um ihn zu sehen. Bei Patienten mit auditorischem Neglect fehlt diese Orientierungsreaktion. Sie wenden sich häufig nicht einer Person zu, die ihren Namen ruft – sofern sie von der vernachlässigten Seite her angesprochen werden. Manchmal kann es jedoch auch zu einer „fehlerhaften“ Orientierungsreaktion kommen. Hierbei wenden sich betroffene Patienten z.?B. nach rechts, wenn sie von der lin|26|ken Seite her angesprochen werden. So ist es etwa für Betroffene schwierig, bei Gesprächen mit mehreren Personen herauszufinden, wer gerade spricht, oder sie können einen Sprecherwechsel nicht mitverfolgen. Geräusche von hinten sind besonders schwer zu orten. 5.4 Vernachlässigung von Gerüchen – Olfaktorischer Neglect
Eine Beeinträchtigung beim olfaktorischen Neglect führt zu einer Vernachlässigung von Gerüchen in einer Raumhälfte, wobei das Geruchsvermögen selbst nicht geschädigt ist. Obwohl diese Form des Neglects durch wissenschaftliche Studien experimentell nachweisbar ist, spielt sie lediglich eine untergeordnete Rolle im Alltag. Gerüche verteilen sich sehr rasch im Raum und werden so über beide Seiten wahrgenommen. 5.5 Vernachlässigung am eigenen Körper – Personaler Neglect
Die Vernachlässigung einer Hälfte des eigenen Körpers wird als personaler Neglect bezeichnet, manchmal auch als somatosensibler oder taktiler Neglect. Sie bezieht sich auf den Körper des Patienten und auf den Nah- und Greifraum. Diese Form der Vernachlässigung kann den Betroffen in gefährliche Situationen bringen, ohne dass er sich dessen bewusst ist. Patienten zeigen beim personalen Neglect keine Reaktion auf Berührungs-, Temperatur- oder Schmerzreize auf der vernachlässigten Seite. Sehr häufig bemerken die Patienten nicht, wenn sich der beeinträchtigte Arm in einer unnatürlichen, unbequemen Position befindet, beispielsweise in die Speichen des Rollstuhls herabhängt. Dies kann zu Verletzungen führen und verursacht wegen der unnatürlichen Körperhaltung oft zusätzlich starke Schulterschmerzen. Berührungen werden teils fälschlicherweise auf der intakten Seite erlebt, obwohl sie auf der beeinträchtigten Körperhälfte erfolgten. |27|Ähnlich wie beim Suchen mit den Augen nach einem Gegenstand oder einer Person ist bei der Suche mit den Händen, etwa am eigenen Körper nach einem Schlüssel oder dem Brillenetui, das Suchmuster beeinträchtigt: Es wird mit der intakten, nicht gelähmten Hand wenig bis gar nicht und/oder unsystematisch im beeinträchtigten Halbraum gesucht. Die intakte Seite wird dagegen oft wiederholt abgetastet. Im Alltag beobachtbar sind derartige Beeinträchtigungen besonders bei der Körperpflege, wie beim Waschen, Schminken, Rasieren oder Ankleiden. 5.6 Mangelnde Benutzung von Arm und Bein – Motorischer Neglect
Motorischer Neglect im engeren Sinn bezeichnet eine verminderte Benutzung von Arm und Bein einer Körperhälfte, ohne dass dies hinreichend durch eine Lähmung erklärbar ist. Im weiteren Sinn lassen sich unter diesem Begriff zwei zusätzliche, typische Verhaltensmuster zusammenfassen: Zum einen werden die Greif- und Suchbewegungen, mit denen der betroffene Patient mit seinem gesunden Arm im vernachlässigten Halbraum (links) sucht, meist zu kurz ausgeführt und zudem noch sehr langsam. Zum anderen können sehr einfache motorische Handlungen vom Betroffenen nicht über einen längeren Zeitraum ausgeführt werden, z.?B. die Augen geschlossen halten oder die Zunge herausstrecken. Bereits nach wenigen Sekunden werden diese Handlungen abgebrochen. 5.7 Vernachlässigung in der Vorstellung – Repräsentationaler Neglect
Die halbseitige Vernachlässigung kann auch den Raum in der Vorstellung betreffen. In Situationen, in denen ein Betroffener auf innere, mentale Vorstellungsbilder angewiesen ist, z.?B. bei der Orientierung...