E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Keret Starke Meinung zu brennenden Themen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8412-3792-7
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Storys
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-8412-3792-7
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der neue Story-Band von Etgar Keret - von der New York Times als »Genie« gefeiert - zeigt den weltberühmten Schriftsteller einmal mehr in Bestform.
Etgar Keret ist Großmeister der kurzen Form und Meister darin, die Schrecken unserer Zeit in absurde, surreale und berührende Geschichten zu verwandeln. In seinem neuen Band entwirft er mit Originalität, Humor und tiefer Menschlichkeit apokalyptische Szenarien, die den existenziellen Fragen des Lebens nachspüren. Und schafft Welten, in denen man nur einmal »Ich liebe dich« sagen darf und unser letztes Wort Badminton ist; mit TV-Shows, in denen man ein Auge verliert, um der Freundin seine Liebe zu beweisen, und Welten, in denen Zeitreisen mit ihrem Schlankheitseffekt beworben werden. Inmitten dieser Endzeitstimmung präsentiert uns Keret eine weitere unwiderstehliche Halluzination in Buchform, die das Leben feiert.
Etgar Keret, geboren 1967 in Ramat Gan, Israel, ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Israels. Er gilt als Meister der Kurzgeschichte, seine Short-Story-Bände sind in Israel Bestseller und werden in 40 Sprachen übersetzt. Sein letzter Band »Tu's nicht« wurde mit dem National Jewish Book Award ausgezeichnet und stand auf den Jahres-Besten-Listen von The Guardian, The Times, Financial Times und vielen weiteren. Etgar Keret schreibt auch Drehbücher und Graphic Novels. Er lebt mit seiner Familie in Tel Aviv. Mehr zum Autor unter etgarkeret.com und aufbau-verlage.de. Barbara Linner studierte Judaistik, Orientalistik und südost-europäische Geschichte. Sie übersetzt auch Assaf Gavron, Yiftach Ashkenazy, Jehoschua Kenaz, Judith Katzir, Ron Leshem und Joshua Sobol. Sie lebt in München.
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Eine Welt ohne Selfie-Sticks
Im Nachhinein betrachtet, hätte ich Nicht-Debbie nicht anschreien sollen. Debbie selbst hat immer gesagt, dass Schreien überhaupt keine Lösung ist. Aber was soll der Mensch machen, wenn er eine Woche, nachdem er sich unter Tränen von seiner Freundin am Flughafen verabschiedet hat, weil sie für ihre Promotion nach Australien geht, in einer Starbucks-Filiale im East Village auf sie stößt und sie so tut, als sei nichts gewesen?
Als ich sie in dem Café sah, schikanierte sie gerade die Frau an der Kasse mit Fragen über deren Milchersatzprodukte, und als ich sie fragte, wie es kam, dass sie nach New York zurückgekehrt war, ohne mir etwas davon zu sagen, blickte sie mich befremdet an und sagte ungeduldig: »Hören Sie, Mister, ich weiß nicht, wer Sie sind. Sie verwechseln mich sicher mit jemand anders.« In der Sekunde brannten bei mir alle Sicherungen durch. Oder sagen wir, dass ich nach über zwei Jahren Beziehung eine angemessenere Reaktion erwartet hätte. Anstatt zu diskutieren, stand ich also einfach mitten im Starbucks und brüllte in allen Einzelheiten sämtliche ihrer intimen Erkennungsmerkmale heraus, inklusive der Narbe an ihrem Rücken vom Sturz bei unserem Ausflug im Yosemite-Park und dem fetten behaarten Leberfleck in ihrer linken Achselhöhle. Nicht-Debbie antwortete nicht, starrte mich nur mit schockiertem Blick an, während mich zwei Mitarbeiter der Filiale nach draußen zerrten.
Ich setzte mich auf eine Bank am Straßenrand und fing an zu weinen. Fünf Wochen vorher, als Debbie mir sagte, dass sie nach Australien gehen würde, war ich am Boden zerstört, aber ich verstand, dass diese Trennung Vorrang vor uns hatte: Ihr hatte man ein Promotionsstipendium an der Universität Sydney angeboten, und ich hatte gerade eine Position als Teamleiter in einem der renommiertesten Big Data Start-ups in New York erhalten. Der Abschied war echt schmerzhaft, aber lange nicht so schlimm und erniedrigend wie diese befremdliche Begegnung im Starbucks.
Während ich noch weinte, spürte ich eine zarte Hand auf meiner Schulter, und als ich den Blick hob, sah ich Nicht-Debbie vor mir. »Versteh doch«, sagte sie im Flüsterton zu mir, »ich sehe vielleicht aus wie Debbie, samt dem Leberfleck und allem, aber ich bin nicht sie, ehrlich nicht!«
Ich und Nicht-Debbie setzten uns in ein anderes, hübscheres Café an der Third Avenue. Sie bestellte einen schwachen Cappuccino mit viel Schaum, genau wie Debbie, und betrachtete mich mit einem prüfenden Blick, den ich kannte, und dann fing sie an, mir die verrückteste Geschichte zu erzählen, die ich je im Leben gehört hatte. Wie sich herausstellte, hieß auch Nicht-Debbie Deborah, aber sie war an diesem Morgen nicht aus Australien in New York eingetroffen. Sie kam aus einem Paralleluniversum. Kein Witz, das war es, was sie mir zwischen zwei Schlücken von ihrem schwachen Cappuccino erzählte. Und nein, sie war nicht infolge einer außerirdischen Offensive oder eines fehlgeleiteten wissenschaftlichen Experiments des amerikanischen Militärs hier gelandet, sondern im Rahmen einer TV-Gameshow, die sich »Es lebe der kleine Unterschied« nannte und momentan die höchsten Einschaltquoten in ihrem Paralleluniversum hatte.
Im Rahmen der Sendung werden fünf Kandidaten in ein Paralleluniversum geschickt, das alles enthält, was sie in ihrer eigenen Welt haben, bis auf eine Sache. Und genau darum geht es, die Teilnehmer müssen herausfinden, was in ihrer Welt existiert, in der neuen aber fehlt. Der erste Mitspieler, dem es gelingt, das fehlende Detail zu finden und mit lauter Stimme die Antwort auszusprechen, kehrt noch in der gleichen Sekunde ins Fernsehstudio seines eigenen Universums zurück und erhält unter dem Beifallssturm des Publikums den Preis von einer Million Dollar. Während der Gewinner die Million feiert, sind die anderen Teilnehmer des Wettbewerbs gezwungen, den Rest ihres Lebens in der Parallelwelt, in die sie geschickt worden sind, weiterzuleben. Was sich nach einem echt harten Preis für die Verlierer anhört, aber auch eine Menge Spannung ins Spiel bringt. In ihrem Fall jedoch juckte das Nicht-Debbie überhaupt nicht, weil sie keinen Freund hatte und schon seit Jahren nicht mehr mit ihren Eltern redete.
Diese komische Geschichte, die mir Nicht-Debbie erzählte, klang sogar für eine Lüge zu abseitig, und die Art, wie sie sie erzählte, war so dermaßen authentisch, dass ich sie glauben musste. In der letzten Runde, sagte sie, hatte ein Arbeitsimmigrant aus Ghana gewonnen, der herausgefunden hatte, dass das, was in der Parallelwelt fehlte, in die die Wettbewerbsteilnehmer geschickt worden waren, Selfie-Sticks waren. »Fucking Selfie-Sticks, kapierst du das?«, sagte Nicht-Debbie. »Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, da draufzukommen.« Ich fragte sie noch ein bisschen aus. Es stellte sich heraus, dass auch sie, wie Debbie, klinische Psychologie studiert hatte, aber nicht daran interessiert war, zu behandeln oder einen Doktor zu machen und deswegen auf einem Verwaltungsposten in irgendeinem reichen Upstate-College hängengeblieben war. Ich erzählte ihr von meinem Abschied von Debbie. Wie ich sie vor einer Woche zum Flughafen begleitet und den Terminal nicht verlassen hatte, bis ich ihr Flugzeug nach Australien aufsteigen sah. Sie nickte und meinte, das ergebe Sinn. Die Spielteilnehmer würden nie zu dem Erdteil geschickt, wo ihre Gegenstücke lebten, und wenn Debbie nicht nach Sydney geflogen wäre, dann wäre Nicht-Debbie wahrscheinlich, statt in New York aufzutauchen, in der Antarktis oder in Auckland gelandet. »Ich bin froh, dass sie weggegangen ist«, sagte sie und lächelte mich mit diesem Lächeln an, das mich zweieinhalb Jahre zuvor dazu gebracht hatte, mich in Debbie zu verlieben. »Auckland in allen Ehren, aber nichts geht über New York.«
Nachdem wir den Kaffee ausgetrunken hatten, beharrte Debbie darauf zu bezahlen, und eine Sekunde bevor wir uns trennten, sie war praktisch schon am Gehen, bot ich an, ihr dabei zu helfen, den Wettbewerb zu gewinnen. Um herauszufinden, was in dieser Welt gegenüber ihrer Welt fehlte, müsste sich Nicht-Debbie so viel Informationen wie möglich und so schnell wie möglich beschaffen, wobei ich ihr als Computermensch, der auf Datenbanken spezialisiert war, sehr behilflich sein könnte. Ich sah, dass Nicht-Debbie zögerte, und schränkte sofort ein, falls eine Hilfe von mir oder die Benutzung von Computern etwas sei, das gegen die Spielregeln verstieße, dann … Aber Nicht-Debbie unterbrach mich lächelnd.
»Das ist es nicht«, sagte sie. »Ich will dich einfach nicht in die ganze komplizierte Geschichte mit reinziehen … Ist ja nicht so, dass ich bloß irgendeine für dich bin.«
Ich erklärte ihr, dass das überhaupt nicht kompliziert sei. Ich war zwar zweieinhalb Jahre mit Debbie zusammen gewesen, aber sie sei Nicht-Debbie und wir hätten uns erst heute getroffen, und wenn es ihr passen würde, würde ich ihr gerne dabei helfen, die fehlende Sache zu suchen. Und wer weiß, nebenbei vielleicht sogar ein Fernsehstar im Paralleluniversum werden (Nicht-Debbie hatte mir nämlich erklärt, dass die Mitspieler rund um die Uhr gefilmt wurden und die Zuschauer jeden von ihnen auf einem eigenen Kanal verfolgen konnten).
Gegen vier Uhr morgens, nach neun Stunden pausenloser Suche durch technologische, geographische und kulinarische Datenbanken (in einer der Folgen der Show war die Parallelwelt eine Welt ohne Ahornsirup gewesen, ist das zu glauben?), sagte Nicht-Debbie, sie könne die Augen nicht mehr offen halten. Ihr zu Ehren bezog ich das Bett in meinem kleinen Appartement frisch, und sie schlief innerhalb einer Sekunde ein. Ich setzte mich hin und betrachtete die schlafende Nicht-Debbie. Es war seltsam, aber ich hatte das Gefühl, dass ich sie in den neun Stunden besser kennengelernt hatte als meine Debbie in den ganzen zwei und nochwas Jahren, die wir zusammengewohnt hatten. Die Möglichkeiten, die sie im Laufe der Suche nach dem fehlenden Element aufgeworfen hatte, offenbarten ihre Träume, Sehnsüchte und Ängste. Nicht dass sie meiner Debbie nicht ähnlich gewesen wäre, aber sie hatte auch etwas anderes an sich: Sie war offen, mutig, faszinierend und wild. Ich weiß nicht genau, wie man das nennen soll, wenn so was mit einer passiert, die zugleich deine Exfreundin ist, der du aber vorher nie begegnet bist – jedenfalls verliebte ich mich. Und während Nicht-Debbie bei mir in der Wohnung schlief, so nah, dass ich das...