E-Book, Deutsch, 78 Seiten
Kerckhoff Berliner Briefe
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7557-4511-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 78 Seiten
ISBN: 978-3-7557-4511-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Susanne Kerckhoff: Berliner Briefe / Neu lektorierte 2021er Ausgabe, mit Fußnoten / Die ersten fünf Jahre nach dem Ende des Naziregimes erscheinen aus heutiger Sicht wie eine black box. Es war auf deutscher Seite eine Zeit der Scham, des sich Unsichtbarmachens, der kollektiven Verdrängung - was zur Folge hatte, dass es damals kaum literarische oder journalistische Zeitschau gab. Im Gegensatz dazu sind die Weimarer Republik und der Nationalsozialismus durch Reportagen und Dokumentationen ausgeleuchtet, wie keine anderen Abschnitte der deutschen Geschichte. - Susanne Kerckhoff schickt nun mit ihren Berliner Briefen, die erstmals 1948 publiziert wurden, aber für Jahrzehnte vergessen waren, ein krasses Lichtbündel in diese unmittelbare Nachkriegszeit, wirft Licht in die Düsternis des Vergessens, öffnet Augen und hilft verstehen. Das dürfte der Grund sein, warum das Büchlein von Rezensenten als »Wunder« (Thea Dorn) und »Literarische Sensation« (Dennis Scheck) gefeiert wurde.
Susanne Kerckhoff (1918-1950, bei Kriegsende 27 Jahre alt) war eine deutsche Journalistin und Autorin, die sich in den Nachkriegsjahren intensiv mit Schuld und Mitläufertum auseinandersetzte, klarsichtig den prekären moralischen Zustand des Landes sah und politisch um eine Neuorientierung in West- und Ostdeutschland rang. Jahrzehntelang von der Literaturwissenschaft übersehen, ist sie nun zu Recht wiederentdeckt.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Fünfter Brief Lieber Hans! Mit Ernst – Du besinnst Dich auf ihn? – stand ich im Jahre 1931 vor einer Nazifiliale, und er las mir, veralbert jiddelnd, das Verslein vor: »Und es lügt und verleumdet und mauschelt und zischt, wie wenn Mosse mit Ullstein sich menget!« Dann pfiffen wir, er reinlich und vollklingend, ich aus besten Kräften, die Internationale. Der braune Inhaber stürzte heraus, uns zu verjagen. Ein arischer Herrenmensch, blässlich, mit Pickeln im Gesicht. Er zankte mit uns, und wir pfiffen, standen breitbeinig und fest gewurzelt, die Hände in den Taschen, und blickten aggressiv und humorlos. Es war ein wundervoller Frühling, ein Steglitzer Frühling mit weißen Schleifen und holden Muffigkeiten. Es war ergreifend und unbegreiflich schön, auf der Seite der ›unterdrückten Klasse‹ zu kämpfen, Masken abzureißen, die Wahrheit genau zu kennen – Aufbruch der Vernunft zu einem tödlichen Frühling der Unvernunft. Meine Sehnsucht gipfelte darin, wieder mit der unterdrückten Klasse zu kämpfen. All die Jahre hat mich das bestimmt, was ich einmal nicht weiterleben durfte. Ich will Dir nicht verhehlen, dass ich diese Sehnsucht noch jetzt ganz und gar besitze, nur mit der Differenzierung – nein, das muss gründlicher gesagt werden. Ich war noch in der britischen Zone, als die Gründung von Parteien gestattet wurde. Jetzt hatte ich einen Rahmen für meine Sehnsüchte Das Wort ›Genosse‹ im Ursinn, nicht im Sinne eines anmaßenden Privilegs ›Wir, die dran sind‹ – Genossen, unsereins, für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Aber schon bei der ersten Versammlung in Osnabrück schlug eine Uhr: ›Tick-tack-Tak-tik-Tick-tack-Tak-tik!‹ Denke Dir, dass ich dachte: jetzt muss es um Wahrheit gehen! Dass ich fest glaubte, die Zeiten irgendeiner Art von Propaganda, von politischem Schleichhandel, seien vorüber. Ich fühle noch jetzt mein Erschrecken, weil ein Genosse ausführte, was alles an taktischem Geschick bei den Nazis zu lernen wäre! Er baute einen Schlachtplan auf, wie die sozialdemokratische Partei Schlüsselstellungen besetzen müsse – usw. In diesem Augenblick, wo ich das schreibe, sehe ich uns beide über den Fichtenberg gehen, wie vor vielen Jahren. Wer sich in den Kleinkram der Parteien zwängt – so sagtest Du damals –, hat auf Wahrhaftigkeit bereits verzichtet und kann auf Wahrheit erst ganz verzichten. Die Politik sei ein Geschäft, so meintest Du, und zwar ein schmutziges. Schmutzig, weil sie eine Tarnkappe von Idealen und Illusionen vor ihr wahres, gieriges, wirklichkeitssattes Gesicht halte. Sagst Du heute noch das Gleiche? Hast Du nicht eingesehen, dass wir uns den alltäglichen Wirklichkeitsfragen tätig stellen müssen? Unsere Aufgabe hat zu sein, dass die Politik kein schmutziges Geschäft aus Gier und Lüge sei! Warum kann, fragt sich der politische Naivling, und ist sich seiner Torheit voll bewusst, warum kann Politik nicht grundlegend geändert werden, nur dem Zweck dienen, der Menschheit jammervolles Chaos zu entwirren? Es gibt Ansätze dazu. Denke an den Nürnberger Prozess! Zu diesem Prozess gab es, daher wird er von trockenen Juristen gern begeifert, bisher keine geformte legale Grundlage. Und doch war die Grundlage vorhanden, tief und wahr vorhanden in allen Menschen, die das lasterhafte Schalten mit dem Leben und Gut von Untertanen als krasseste himmelschreiende Sünde erkannten. Aus diesem Prozess muss ein neues Gesetz, ein neuer Maßstab für politische Wege erwachsen. Nicht als einmalige Abrechnung mit einem Gegner, der Hybris hatte und dafür zahlen musste, kann er angesehen werden. Wird er nicht beispielhaft, fundamentierend, verbindlich für die ganze Welt, dann steht er als gespenstisches und tragisches Kuriosum da. Und geht es wirklich um Menschlichkeit und Ordnung, dann ist gleisnerische Taktik (nicht sinnvoll kluge Erziehung meine ich) ein überflüssiges Mittel einer überwundenen, einer schlechteren Epoche. Ich lief in Osnabrück nicht gleich davon. Ich konnte es mir gar nicht anders vorstellen, als dass ich tätiges Mitglied einer Partei sein müsste, mit den anderen zusammen die Kastanien aus dem Feuer des Zusammenbruchs retten. Ich will jetzt versuchen, über unsere Parteien nach dem Krieg zu sprechen. Es wird mir schwerfallen, ein System in meine Darstellung zu bringen. Vergeblich wirst Du nach einer fest umrissenen Meinung suchen. Ich bin nicht gegen Parteien. Ich bin für Parteien, mittels derer es dem Volk möglich ist, sich zu äußern. Ich bin für ein lebendiges Parteileben, für eine weitgehende Lockerung jeder Partei-Engstirnigkeit, die zu nichts anderem führt als zu einem überheblichen, dümmlichen Sektierertum. Es ist keineswegs eine Notwendigkeit, dass Anhänger des historischen Materialismus zu ›hysterischen Materialisten‹ werden (eine hübsche Prägung des Dichters Charles Morgan). Es ist auch nicht notwendig, dass im Rahmen einer Demokratie die Parteien über einen luftleeren Raum von Hass und Verständnislosigkeit miteinander zanken. Schwimmende Übergänge wären wahrhaftiger als abgehackte Einseitigkeit. Siehst Du, der politische Naivling glaubte nicht nur, dass die Völker sich nach diesem Krieg zu einer gradlinigen Friedensarbeit finden würden. Er nahm auch an, jetzt sei die Zeit gekommen, wo Vertrauen und Freundschaft aus dem Leid herauswachsen würden, die Entbehrungen gegenseitig leichter gemacht, die gegensätzlichen Meinungen mit wohltuender und wohlmeinender Schärfe aufeinanderprallen. Ein immer waches Bewusstsein davon, was die vergangenen Jahre an Unwürdigkeit und Spitzelsystem mit uns angerichtet haben. In Westdeutschland wurden die naiven Träume sofort enttäuscht. In Berlin soll anfangs dieser jubelnde Geist der Solidarität geherrscht haben. Anfangs. Dann gibt es traurige Kreuzgangstationen: etwa der missglückte Versuch, die sozialistischen Parteien vereinigen zu wollen – der unbändige, großzügige und kleinlichste Hass, der sich daraus entwickelt hat. Die Station der Berliner Wahlen vom vorigen Oktober war auch einen durststillenden Essigschwamm wert. Ich komme später darauf zurück. Selbstverständlich fühlt unsereiner sich heute unendlich viel glücklicher am Leben als in den Hitler-Jahren. – »Sehr schrecklich, Freunde, war das Schweigen.« – Jetzt bewegt man sich in Berlin frei, spricht und schreibt, was man denkt. ›Man‹ fühlt sich frei? Wir fühlen uns frei. In einer ganz vertrackten Weise ist unsere Denkrichtung ›oben‹. Wir sprechen nicht im Namen des deutschen Volkes. Man will unsere Mahnungen, unsere Deutungen nicht. Wir sind keine Führer geworden. Wer sind wir? Mit diesem Wörtchen umfasse ich alle geistigen und politischen Charaktere in Deutschland, die, in welcher Partei sie jetzt sein oder nicht sein mögen, bewusst prohumanitär, das heißt antifaschistisch gewesen – und geblieben sind. Letzteres ist nicht selbstverständlich! Es gibt neue Profaschisten zur Genüge. Sie vergnügen sich schelmisch und bitter. Die Witze, die sie über unsereinen einander zuschreien (Flüstern ist nicht mehr nötig!), erinnern in hässlicher Weise an jene Witzchen, die in den ersten Jahren des Naziregimes ziemlich friedlich meckerten. Weiß Ferdl erschien in München vor seinem Publikum, auf der einen Schulter eine Zwiebel, auf der anderen vier. »In der Nazizeit hat uns einer gezwiebelt – jetzt zwiebeln uns vier!« – Oder: Ein Deutscher, ein Amerikaner und ein Engländer stehen vor einem Lazarett: Der Amerikaner: »Wir haben eine so wunderbare Beinprothese, dass Amputierte jetzt schon Wettlauf und Weitsprung mit besten Erfolgen treiben!« Der Engländer: »Das ist noch gar nichts! Wir haben eine so wunderbare Handprothese, dass ein Amputierter den Weltrekord im Schreibmaschineschreiben errungen hat!« Der Deutsche: »Das ist ja gar nichts gegen uns: Wir haben eine so wunderbare Kopfprothese, dass jetzt Leute, denen der Kopf im Konzentrationslager abgeschlagen wurde, mit dem Holzkopf bei uns in der Regierung sitzen!« Das genügt wohl fürs Erste. Ideologisch sind wir ›an der Macht‹. (Mit unseren Holzköpfen.) Wir sind genau so wenig durch Stimmenmehrheit und Volksbewegung an diese ideologische Macht gelangt wie seinerzeit die Nazis. Wir sind genau so wenig beliebt wie jene in der ersten Zeit, ehe sie noch dazu kamen, das Volk mit Brot und Spielen zufriedenzustellen, es endlich zu einem Größenwahnsinn umzuerziehen, aus dem heraus es heute, hungernd und jämmerlich, gegen die Alliierten und uns marktschreit. Die Alliierten und wir – halte bitte die Definition des ›Wir‹, die ich oben gab, fest – führen eine schwierige Ehe. Eine Ehe ist es. Als die Alliierten kamen, um uns zu heiraten, gingen wir ihnen entgegen. Aber unsere Lämpchen hatten wir entweder verlöschen lassen, oder sie waren bessere Beleuchtung gewöhnt – jedenfalls verstanden sie nicht immer unsere Gesinnung und unsere Situation: Nur ein kleines Beispiel zur Illustration: Mir hat, fürwahr!, mein...