E-Book, Deutsch, Band 38 (272), 305 Seiten, Gewicht: 10 g
Reihe: Quellen und Forschungen zur Literatur- und KulturgeschichteISSN
Keppler Grenzen des Ich
1. Auflage 2008
ISBN: 978-3-11-020171-0
Verlag: De Gruyter
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Die Verfassung des Subjekts in Goethes Romanen und Erzählungen
E-Book, Deutsch, Band 38 (272), 305 Seiten, Gewicht: 10 g
Reihe: Quellen und Forschungen zur Literatur- und KulturgeschichteISSN
ISBN: 978-3-11-020171-0
Verlag: De Gruyter
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Die Studie unternimmt eine Re-Lektüre der wohl meistgelesenen Texte der deutschen Literatur. Goethes Romane und Erzählungen werden hier entschieden gegen den Strich aller ihnen unterstellten Gewissheiten und Erbaulichkeiten gelesen. In ständig verändernden und wiederkehrenden Konfigurationen halten sie die Ambivalenzen des Subjekts präsent. Denn gerade der Autor, der am mächtigsten „Ich“ zu sagen wusste, präsentiert seine Figuren nicht als zur Einheit geformte Identitäten, sondern als Schauplätze der Suche danach und der Verzweiflung daran.
Zielgruppe
Wissenschaftler, Institute, Bibliotheken / Academics, Institutes, Libraries
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
1;Frontmatter;1
2;Inhalt;7
3;Einleitung;11
4;I. „Unzählige Combination und Modification“ Goethes Erzählsystem und die Aporien der Textidentität;44
5;II. „Meine dargestellten Frauencharactere“ Der homo fictus als Träger von Subjektprädikaten;75
6;III. „Durch eigene Zuthat anzueignen“ Goethes subjektphilosophischer Horizont;103
7;IV. „Wenn wir uns selbst fehlen“ Aporien des Subjekts;152
8;V. „Dem Märchen ähnlich“ Mythopoetik und Desubjektivierung;206
9;Backmatter;253
(S. 34-35)
1. Analogien und genetische Entwicklungen
Goethes immanente Subjektkritik, seine poetische Artikulation der Zweifel am principium individuationis, findet – so die Leitthese des Folgenden – adäquat durch eine Erzählpoetik hindurch Ausdruck, welche die Grenzen zwischen den einzelnen Texten zu perforieren und Textgrenzen überschreitende Zusammenhänge herzustellen geneigt ist, wohlgemerkt ohne daß dabei ein neues Kontinuum, eine Einheit auf höherer Ebene, entstünde. Das „stückweise" Erzählen, mit dem Goethe selber seine narrative Technik beschreibt,1 transportiert ein Ich, das sich – wie initialer- und paradigmatischerweise Werther – als „zerstükt" (8,30) erlebt. Im Modus eines ornamental durchbrechenden und verflechtenden Erzählens stellt sich – wenn anders die Einheit einer Person als die Einheit einer erzählten oder erzählbaren Geschichte aufzufassen ist2 – gleichsam eine durchbrochene Personalität her, die das emphatische Individualitätsethos des Zeitalters im Grunde denunziert. Die hier avisierten Überbrückungen entstehen durch kalkulierte Ideen- und Motivverknüpfungen im Rahmen einer sozusagen werkimmanenten Intertextualitätsstrategie Goethes, d. h. durch die Konstitution von Isotopien oder Problemkonstanten, deren interne Homogenität die Homogenität der einzelnen Erzählprojekte aufbricht.3 Wenn man mit Wolfgang Iser Intertextualität als Selektionsakt auffaßt, der statt ins außersprachlich Reale in andere Texte eingreift, und davon den Kombinationsakt abhebt, durch den das Selegierte verknüpft wird,4 so wäre das Bauprinzip des Goetheschen Erzählsystems als ein Mittleres zu betrachten und zutreffend als Konfigurationsakt zu bezeichnen. Zugleich sind die Isotopien (wie der Leibdiskurs oder der Melusinenkomplex, vgl. unten IV u. V) auch thematisch von wesentlich subjekttheoretischer Relevanz. Die solchermaßen als ein Grundzug von Goethes Erzählen gegebene Iterativität einiger bestimmter idées fixes ist schwerlich den Grenzen seines Repertoires, umso weniger dem Zufall geschuldet. Vielmehr schlägt sich in ihr das Phänomen der Verschränkung und Korrelierung von Goethes Romanen und ihrer kleineren Begleiter zu einem Erzählsystem nieder – System verstanden als ein semiotisch konstruiertes semantisches Universum mit festen Beziehungen (Isotopien) zwischen seinen konstituierenden Elementen unter dem ständigen Zufluß neuer Informationen (beispielsweise den Reflexen subjektphilosophischer Entwicklungen, vgl. unten III).5 Unter den konstituierenden Elementen ragen diejenigen literarischen Figuren heraus, die wie Mignon, Ottilie und Makarie mit ihrem Ursprung in Werther als geheimnisträchtige Revenants agieren und nur wie in einem Spiegelkabinett zu haben sind. Die Beschreibung dieses Erzählsystems, seiner Genese und Funktionsweise, sowie die Analyse von Goethes Figurenpoetik (vgl. unten II) und seiner narrativen Subjektverhandlungen bedingen einander.
Das Aufspüren von Ähnlichkeiten und Sympathien, das Vergleichen und Ins-Verhältnis-Setzen, kurz: die Denkbewegungen der Analogie, gehören zu Goethes originären Erkenntnisverfahren.6 Er hält sie für so bedeutend, daß er ihr eine eigene Art der Einbildungskraft beimißt: Die Imagination „ist zuerst nachbildend, die Gegenstände nur wiederholend. Sodann ist sie productiv, indem sie das Angefaßte belebt, entwickelt, erweitert, verwandelt. Ferner können wir noch eine umsichtige Einbildungskraft annehmen, die sich bey’m Vortrag umherschaut, Gleiches und Ähnliches erfaßt, um das Ausgesprochene zu bewähren. Hier zeigt sich nun das Wünschenswerthe der Analogie, die den Geist auf viele bezügliche Puncte versetzt, damit seine Thätigkeit alles das Zusammengehörige, das Zusammenstimmende wieder vereinige".7 Diese „Geistesoperation[ ]"8 empfiehlt sich zugleich als Leseanleitung für die Erzählprojekte und als tragendes Prinzip ihrer Deutung. So lesen und kommentieren die Wanderjahre das Gesetz ihres Erzählens selber mit der Bemerkung: „Analogie hat den Vorteil, daß sie nicht abschließt und eigentlich nichts Letztes will, dagegen die Induktion verderblich ist, die einen vorgesetzten Zweck im Auge trägt und, auf denselben losarbeitend, Falsches und Wahres mit sich fortreißt" (10,571). Das Verfahren der Analogie wird als ein Drittes zwischen Induktion und Deduktion entworfen.