E-Book, Deutsch, Band 4, 271 Seiten
Reihe: Batterien
Kepler Der Traum, oder: Mond-Astronomie
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-88221-158-0
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Somnium sive astronomia lunaris. Mit einem Leitfaden für Mondreisende von Beatrix Langner
E-Book, Deutsch, Band 4, 271 Seiten
Reihe: Batterien
ISBN: 978-3-88221-158-0
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie im Rausch schrieb Johannes Kepler 1609 in zwei Nächten diese geheimnisvolle Traumerzählung einer Reise zum Mond. In seinen letzten Lebensjahren ergänzte er sie um einen umfangreichen
astronomisch-mathematischen Anmerkungsteil, erst nach seinem Tod konnte diese Schrift veröffentlicht werden. Von zeitgenössischen Astronomen als "bizarr" und "seltsam" abgelehnt, steckt in ihr mehr als eine mutige Verteidigung des kopernikanischen Weltbilds. Zum ersten Mal erscheint nun diese Traumerzählung voll blühender Phantasie in einer textkritischen Übersetzung nach der Originalausgabe von 1634 vollständig
auf Deutsch mit einem Essay von Beatrix Langner, in dem sie die Träumereien dieses äußerst ungewöhnlichen Mathematikers, Astronoms und Denkers des deutschen Humanismus vor dem Hintergrund der religions- und naturphilosophischen Debatten seiner Zeit nachzeichnet und deren Spur bis heute verfolgt.
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Johannes Kepler
Der Traum, oder: Mond-Astronomie
Als im Jahr 1608 Streit zwischen den Brüdern Kaiser Rudolf und Erzherzog Matthias entbrannt war, und man ihre Handlungen allgemein auf Beispiele zurückführte, die aus der Geschichte Böhmens herangezogen waren, wurde ich durch die allgemeine Neugier erregt und wandte mich der Lektüre böhmischer Literatur zu. Dabei stieß ich auf die Geschichte der Heldin Libussa, einer hochberühmten Zauberin; so kam es, dass ich eines Nachts, nachdem ich den Mond und die Sterne betrachtet hatte, behaglich im Bett lag und in tiefen Schlaf fiel. Und ich sah mich im Schlaf ein Buch durchlesen, das ich in Frankfurt auf der Messe erworben hatte, dessen Text folgender war: Mein Name ist Duracotus1, mein Heimatland Island2, das die Alten Thule nannten. Meine Mutter3 war Fiolxhilde, die, da sie jüngst4 gestorben ist, mir die Erlaubnis zum Schreiben erteilte, auf die ich längst gewartet hatte. Solange5 sie lebte, gab sie sich alle Mühe, mich vom Schreiben abzuhalten. Sie pflegte nämlich zu sagen, es gebe viele gefährliche Feinde der Künste, die6 das, was sie wegen der Stumpfheit ihres Geistes nicht fassen können, anprangern und dem Menschengeschlecht ungerechte Gesetze7 auferlegen würden. Tatsächlich seien nicht wenige aufgrund dieser Gesetze8 verurteilt und vom Schlund des Hekla9 verschlungen worden. Den Namen10 meines Vaters hat sie selbst niemals genannt. Sie behauptete stets, er sei ein Fischer11 gewesen und als Greis von 150 Jahren gestorben. Als ich drei Jahre alt war, habe er rund 70 Jahre seiner Ehe hinter sich gehabt. In meinen ersten Knabenjahren führte mich meine Mutter oft, indem sie mich an der Hand nahm, manchmal auch auf die Schulter setzte, auf die niedrigeren12 Bergjoche des Hekla, besonders13 um die Zeit des Johannistages, wenn die Sonne 24 Stunden sichtbar ist und die Nacht verdrängt. Sie selbst14 sammelte Kräuter unter allerlei Riten, kochte sie zu Hause, nähte Säckchen15 aus Ziegenfell, füllte sie und brachte sie zum Verkauf an Schiffsherren zum nahe gelegenen Hafen. So verdiente sie sich den Lebensunterhalt. Einmal zerriss ich aus Neugier ein Säckchen, das meine ahnungslose Mutter verkaufen wollte, nahm die Kräuter und Leinenläppchen16, in welche die verschiedenen Sortenzahlen eingestickt waren, auseinander und brachte so meine Mutter um den Gewinn. Zornentbrannt übergab sie mich anstelle des Säckchens dem Schiffsherrn als Eigentum, um selbst das Geld behalten zu können. Und dieser Schiffsherr brach tags darauf unversehens aus dem Hafen auf und steuerte unter günstigem Wind Bergen17 in Norwegen an. Als sich nach einigen Tagen der Nordwind18 erhob, wurde er zwischen England und Norwegen verschlagen, steuerte Dänemark an und fuhr durch die Meerenge, da er einen Brief des isländischen Bischofs19 dem Dänen Tycho Brahe überbringen sollte. Der wohnte auf der Insel Hveen. Ich aber erkrankte heftig wegen des Schwankens des Schiffes20 und der ungewohnten Wärme der Luft. Ich war ja noch ein Junge von 14 Jahren. Der Schiffsherr landete und setzte mich21 zusammen mit dem Brief bei einem Fischer der Insel ab. Er versprach zurückzukommen und legte ab. Als Brahe den Brief erhalten hatte, war er hocherfreut und begann, mich vielerlei zu fragen22. Ich verstand das23 nicht, weil ich seine Sprache nicht konnte, außer wenigen Worten. Daher gab er seinen Studenten, von denen24 er eine große Zahl betreute, den Auftrag, häufig mit mir zu sprechen. Die Großherzigkeit25 Brahes und wenige Wochen Übung bewirkten, dass ich einigermaßen gut Dänisch sprechen konnte. Und ich erzählte genauso bereitwillig, wie jene fragten. Da hatte ich freilich viel Ungewohntes zu bestaunen, aber ich konnte aus meinem Vaterland auch viel Neues berichten, das die Zuhörer in Erstaunen versetzte. Schließlich kehrte der Schiffsherr zurück und wollte mich abholen; aber er holte sich eine Abfuhr26, worüber ich mich sehr freute. Auf wunderbare Weise27 lachten mich die astronomischen Studien an. Denn Brahe und die Studenten betrachteten ganze Nächte lang mit erstaunlichen Geräten den Mond und die Sterne; das erinnerte mich an meine Mutter, die ja auch selbst28 unablässig mit dem Mond zu sprechen pflegte. Durch diese günstigen Umstände gelangte ich, von Herkunft ein Halbbarbar, an Vermögen völlig mittellos, zur Kenntnis der göttlichen Wissenschaft. Die ebnete mir den Weg zu Höherem. Als ich nämlich ein paar Jahre auf dieser Insel zugebracht hatte, verlangte mich schließlich danach, mein Vaterland wiederzusehen. Ich glaubte nämlich, es könnte mir nicht schwerfallen, mit der erworbenen Wissenschaft bei meinem ungebildeten Volk zu einem gewissen Ansehen zu gelangen. Also verabschiedete ich mich von meinem Gönner, erhielt die huldvolle Erlaubnis zur Abreise und kam nach Kopenhagen. Dort gewann ich Reisegefährten, die mich wegen meiner Sprach- und Ortskenntnis in ihren Schutzbund aufnahmen. Im fünften Jahr, nachdem ich es verlassen hatte, kehrte ich in mein Vaterland zurück. Das erste Glück meiner Rückkehr war, dass ich meine Mutter noch lebend antraf, in genau derselben Weise beschäftigt wie einst. Ihrer unablässigen Reue darüber, dass sie ihren Sohn durch Unbesonnenheit verloren hatte, setzte ich dadurch ein Ende, dass ich lebendig und angesehen war. Damals neigte sich29 das Jahr zum Herbst, und es folgten30 darauf unsere langen Nächte. Denn im Monat der Geburt Christi taucht die Sonne kaum ein wenig auf, um sich auf der Stelle wieder zu verbergen. So war31 meine Mutter frei von ihrer Tätigkeit und heftete sich an mich, wich nicht von meiner Seite, wohin ich mich auch mit meinen Empfehlungsschreiben begab. Bald fragte sie mich aus über die Länder, die ich bereist hatte, bald über den Himmel. Dass ich diese Wissenschaft studiert hatte, freute sie ganz besonders. Sie verglich, was sie selbst erfahren hatte, mit dem, was ich erzählte, und rief immer wieder aus, jetzt32 sei sie bereit zu sterben, weil sie als Erben ihrer Wissenschaft, ihres einzigen Besitzes, ihren Sohn zurücklassen werde. Ich, von Natur begierig, Neues zu lernen, befragte sie meinerseits über ihre Künste, und welche Lehrer sie darin gehabt habe in einem Volk, das von den übrigen so sehr getrennt ist. Darauf legte sie an einem bestimmten Tag, an dem wir uns Zeit für ein Gespräch genommen hatten, die ganze Sache von den ersten Anfängen an dar, etwa auf folgende Weise: »Vorzüge, mein Sohn Duracotus, besitzen nicht nur die Länder, die du bereist hast, sondern auch unser Vaterland. Wenn uns nämlich auch Kälte und Finsternis bedrücken und andere Übel, die ich erst jetzt empfinde, nachdem ich durch dich vom Glück der übrigen Länder erfahren habe, so haben wir dagegen33 Überfluss an Begabungen. Uns34 stehen zu Diensten hochweise Geister, denen das viele Licht der anderen Länder und der Lärm der Menschen verhasst sind, und die deshalb unsere Schatten aufsuchen und mit uns freundschaftliche Gespräche führen. Von denen sind neun35 die vorzüglichsten, und einer davon36 ist mir besonders bekannt; er ist von allen gerade der sanfteste und unschuldigste37 und wird durch 21 Zeichen38 herbeigerufen. Mit seiner Hilfe39 werde ich oft in einem Augenblick zu anderen Küsten, die ich selbst bestimmt habe, entrückt; oder ich kann, wenn ich von irgendwelchen Zielen durch zu große Entfernung abgeschreckt40 werde, durch Nachfragen so großen Nutzen ziehen41, wie wenn ich selbst dort wäre: So hat er mir das meiste von dem, was du entweder mit eigenen Augen gesehen, durch Berichte vernommen oder aus Büchern geschöpft hast, genau so wie du berichtet. Besonders das Land, von dem er mir so oft gesprochen hat, wünsche ich mit dir gemeinsam zu erkunden. Sehr wundersam ist nämlich, was er von ihm erzählt. Levania42, so nannte er es.« Unverzüglich stimme ich zu, dass sie ihren Meister herbeiruft, und setze mich, um die ganze Beschaffenheit des Weges und die Beschreibung des Landes anzuhören. Es war schon Frühling43 und zunehmender Mond, der, sobald die Sonne unter den Horizont getaucht war, in Konjunktion mit dem Planeten Saturn im Zeichen des Stiers aufzustrahlen begann. Die Mutter44 ging voraus bis zur nächsten Weggabelung45, erhob ein Geschrei und brachte einige wenige Wörter46 hervor, mit denen die sie ihre Bitte äußerte. Nachdem sie ihre Riten47 vollendet hat, kehrt sie zurück, gebietet mit ausgestreckter rechter Hand48 Schweigen und setzt sich neben mich. Kaum hatten wir das Haupt49...