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E-Book, Deutsch, 496 Seiten

Kepel Chaos

Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen

E-Book, Deutsch, 496 Seiten

ISBN: 978-3-95614-342-7
Verlag: Kunstmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mit wegweisender Klarheit und profundem Wissen durchdringt Gilles Kepel die komplexen Krisen und Konflikte, die seit Jahrzehnten den arabisch-islamischen Raum, seine Gesellschaften und die Welt in Atem halten. Wer Lösungen für die Zukunft des Nahen Ostens sucht, muss dieses Buch lesen.
Die Lage im Nahen Osten ist unübersichtlich: Krieg und humanitäre Katastrophen in Syrien und Jemen, das komplexe Kräftemessen zwischen Schiiten und Sunniten, die latente Bedrohung durch die verbleibenden IS-Kämpfer in der Levante, widerstreitende geopolitische Interessen. Zudem ist die ganze Region mit demografischem Druck und der Notwendigkeit eines Wandels überholter Wirtschaftssysteme konfrontiert.
Kaum einer kennt den Nahen Osten besser als der renommierte französische Soziologe und Arabist Gilles Kepel. Als Zeuge vor Ort, Beobachter und Chronist verfolgt er seit Jahrzehnten die zunehmende Islamisierung der politischen Ordnung. In seiner Darstellung der letzten fünfundvierzig Jahre zeichnet Kepel nach, wie die gewaltigen Öleinnahmen und die Durchsetzung des politischen Islams den chaotischen Kreislauf antrieben, der mit dem Oktoberkrieg 1973 begann und, paradoxerweise, sowohl über die Ausweitung des Dschihads als auch über die zunächst so hoffnungsvoll begrüßten Aufstände des Arabischen Frühlings 2011 in dem monströsen 'Kalifat' des IS und der Zerstörung der Levante mündete. So kenntnisreich wie präzise entschlüsselt Kepel die gewaltigen Herausforderungen, vor denen der Nahe Osten und der Westen heute stehen. Ein unverzichtbares und zukunftsweisendes Buch.
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EINLEITUNG
EIN GRAB FÜR SYRIEN
Von 1977 bis 1978, also vier Jahrzehnte bevor dieses Buch entstand, hielt ich mich als Stipendiat der arabischen Sprache für ein Jahr in Syrien auf, am Institut Français in Damaskus. Für uns angehende Arabisten war dies Pflicht und zugleich ein Sesam-öffnedich zu den faszinierenden, uns noch verborgenen grammatikalischen und phonetischen Geheimnissen des Orients. Bis auf wenige Ausnahmen gelang niemandem in unserer Zunft eine Karriere, der nicht im »Scham« geweilt hatte. Mit dem alten und im lokalen Dialekt noch gebräuchlichen semitischen Wort bezeichneten wir unter uns sowohl die Levante als auch deren traditionelle Hauptstadt. In der muslimischen Geografie, in der man sich vom Westen her gen Mekka beugt, steht der Scham für links oder den Norden, und der Jemen für rechts beziehungsweise den Süden. Weder meine Studienkollegen noch ich hätten uns damals vorstellen können, dass der Begriff des Scham vierzig Jahre später zum verbindenden Schlagwort der Dschihadisten in den französischen Banlieues werden würde, die sich den Kämpfern des sogenannten »Islamischen Staats« (oder Daesh) anschlossen, um »Abtrünnige« zu massakrieren. Zu ihren Opfern gehörten zunächst vor allem Alawiten, also Gläubige jener esoterischen Konfession, zu der sich auch der syrische Präsident Hafiz al-Assad bekannte. Dann kamen sie zurück, um ihre »ungläubigen« Landsleute im Bataclan oder dem Stade de France zu töten. Und in meinen schlimmsten Albträumen hätte ich mir nicht ausmalen können, als erfahrener Arabist im Juni 2016 von einem franko-algerischen IS-Kämpfer zum Tode verurteilt zu werden. Ursprünglich aus Roanne stammend, war er in Oran aufgewachsen, befand sich nun aber in der syrischen Stadt Raqqa, wo der sogenannte »Islamische Staat« seine kurzlebige Hauptstadt errichtet hatte. Verkündet wurde das Urteil über Facebook.live von einem seiner Handlanger, einem Franzosen mit marokkanischen Wurzeln, der in Magnanville einen Polizisten und dessen Ehefrau ermordete. Ich hätte auch nie geglaubt, dass ich in der Folge gezwungen sein würde, mitten im Pariser Quartier Latin unter Polizeischutz zu leben. Zu meinen Studienzeiten war das Internet natürlich noch unbekannt, ja sogar unvorhersehbar oder undenkbar, und in einem zweidimensionalen Atlas sah man Staaten, deren Staatsgebilde und Territorien eindeutig durch schwarze Linien gekennzeichnet waren. So wie auf der Karte des Römischen Reichs, die 1974, also vor meinem orientalischen Traum, im Unterrichtsraum für Geisteswissenschaften hing und mich dazu verführte, im folgenden Sommer in Venedig ein Schiff zu besteigen. Ich wollte in Istanbul, in der Levante und Ägypten mit eigenen Augen all die Gegenden entdecken, die auf der Karte zu sehen gewesen waren. Niemand konnte damals die zahllosen Zusammenstöße antizipieren, die die digitale Welt und die sozialen Netzwerke in den Köpfen der Menschen und den Darstellungen der Welt auslösen sollten. Niemand ahnte die geistige Verwirrung voraus, die mit dem Verschwinden von Distanzen und Perspektiven einhergehen sollte, mit der Auflösung von räumlichen und zeitlichen Bezugspunkten, die uns vierzig Jahre später die Orientierung hat verlieren lassen. Auch wenn in Damaskus Ende der 1970er-Jahre Ruhe herrschte, so wütete das Chaos bereits im benachbarten Libanon. Der Bürgerkrieg mit seinen Gräueltaten tobte entlang politisch-konfessioneller Linien und verdeutlichte damit die Verwirrung, die zwischen den beiden Identitäten, »islamisch-progressiv« und »christlich-konservativ«, herrschte. Diese hybriden Bezeichnungen standen für den Konflikt um die bewaffneten palästinensischen Flüchtlinge im Libanon, bei dem die immer weniger werdenden Maroniten, in der Mehrheit pro-westlich eingestellt, mit den Sunniten um die Macht rangen. Da die Sunniten sich eher für den Sozialismus begeisterten, versah man sie mit dem Attribut »progressiv«, auch wenn dies heute eher unangemessen oder veraltet wirkt. Was damals nur wenige Beobachter bemerkten: Die Ölmonarchien der arabischen Halbinsel und des saudischen Wahhabismus waren nach dem Oktoberkrieg 1973 durch den atemberaubenden Anstieg des Erdölpreises unglaublich reich geworden und entwickelten sich nun zu den wichtigsten Akteuren der um sich greifenden Reislamisierung der Region und versuchten, den kosmopolitischen Geist der Levante, wie ich ihn in meiner Jugend kennengelernt hatte, zu ersticken. Und niemand hätte gedacht, dass die Iranische Revolution, die wenig später ausbrach, aus den ehemals eher unbedeutenden, inzwischen aber durch eine konkurrierende islamistische Doktrin radikalisierten Schiiten die wichtigste politische Kraft des Libanon machen würde, die dann über Syrien und den Irak auch Persien erreichte. Meine Kollegen am Institut Français in Damaskus und ich waren Ende der 1970er-Jahre von der syrischen Kultur fasziniert, in die wir unsere bunt gemischten Wunschvorstellungen hineinfantasierten. Zumeist hatten wir nur wenig gelesen und waren kaum mit den in Vergessenheit geratenen Texten von Orient-Reisenden wie Volney oder Chateaubriand vertraut. Wir waren in der Regel oberflächlich links, mit einer Ideologie ausgestattet, die in den zehn Jahren nach dem Mai 1968 den studentischen Mikrokosmos beherrschte. In dem Jahrzehnt hatte dieses Linkssein jedoch seinen ursprünglichen Dogmatismus verloren, und es blieb nur eine vage Lehrmeinung übrig, eine wirre Vision der Welt, zu der einige wenige feste Überzeugungen wie Antiimperialismus und Antizionismus gehörten. In der Erwartung, dass diese zusammenbrechen würden, applaudierten wir a priori Syrien unter Hafiz al-Assad als Speerspitze des Widerstands gegen Israel und als Vorreiter des arabischen Progressivismus. Ich habe meine Illusionen recht schnell aufgegeben. Ich liebte die Landschaften Syriens – sie erinnerten mich an die vertraute Umgebung von Nizza, wo ich meine Kindheitsferien verbrachte, und zugleich an die Odyssee, die ich in Vorbereitung auf mein Studium kurz zuvor für einen Griechisch- und Lateinkurs gelesen hatte. Diese romantische Wiederkehr konnte jedoch nur kurz die Brutalität eines Regimes und die Gewalttätigkeit einer Gesellschaft überdecken, wie sie Riad Sattouf sehr anschaulich in den seit 2015 erschienenen Comics Der Araber von morgen beschreibt – und zwar genau so, wie ich es selbst erlebt habe. Im Pariser Quartier Latin war weder die Freiheit meiner Kollegen noch meine eigene je eingeschränkt gewesen, doch in Syrien mussten wir nun lernen, uns in der Öffentlichkeit bedeckt zu halten und anderen Menschen gegenüber misstrauisch zu sein. Wir entdeckten den Alltag in einer »linken« Diktatur und verstanden, dass wir weder von denen sprechen sollten, die in den Kerkern verschwunden waren, noch uns mit ihren Angehörigen zeigen durften. Am Institut Français in Damaskus lernte ich dann den acht Jahre älteren Michel Seurat (geboren 1947) kennen. Der hervorragende Arabist und von Alain Touraine inspirierte Soziologe widmete sich der Analyse des syrischen Regimes. Als er später mit seiner Frau und seinen kleinen Töchtern im Libanon wohnte, musste er seine Forschungsarbeit mit dem Leben bezahlen: Er wurde am 22. Mai 1985 am Flughafen Beirut von der aus Teheran und Damaskus gesteuerten, schwer zu fassenden »Organisation des islamischen Dschihad« entführt und starb 1986 in Gefangenschaft. Seine Mörder schmähten ihn als »spezialisierten Wissenschaftsspion«. Noch vor diesem traumatischen Ereignis, das mein Leben und meinen Blick entscheidend prägen sollte, war es vor allem die vom Schock der syrischen Realität ausgelöste Desillusionierung, die mich nach meiner Rückkehr nach Paris zu einer Entscheidung trieb: Ich gab das Studium der klassischen Geisteswissenschaften und der von ihnen verfremdeten alten arabischen Kultur auf und widmete mich fortan der Politikwissenschaft, um das Drama, das sich im Nahen und Mittleren Osten abspielte und meine simplen Gewissheiten ins Wanken brachte, zu verstehen. Kaum hatte ich 1978 mein Studium aufgenommen, sah ich mich mit einem weiteren Paradox konfrontiert: dem Ausbruch der »Islamischen Revolution« im Iran. Trotz meiner Zeit in Damaskus verfügte ich nicht über den inneren Abstand, der es mir erlaubt hätte, die »revolutionäre«, schiitische und antiimperialistische Islamisierung in Teheran mit ihrem »reaktionären«, sunnitischen und antisozialistischen Gegenstück in Riad in Verbindung zu bringen. Dabei begann in den 1970er-Jahren jener chaotische Kreislauf, zu dessen Motor zum einen die gewaltigen Einnahmen durch den Ölverkauf und zum Zweiten das Wachstum des politischen Islam wurden – was zur Zerstörung der Levante führte. Das Zusammenspiel dieser beiden Phänomene prägte die vergangenen fünfzig Jahre und damit zwei Generationen von Menschen. Mit der Ausrufung des »Kalifats« durch den sogenannten »Islamischen Staat«, zu Beginn des Ramadan am 29. Juni 2014, erreichte dies im Land des Scham seinen monströsen Höhepunkt. Im selben Jahr sank der Rohölpreis um sagenhafte 70 Prozent, was uns dazu zwingt, die mittel- und langfristigen Perspektiven der Region zu überdenken, also auch ihre politische, wirtschaftliche und soziale Zukunft, darunter auch die Frage nach der Stellung der...


Gilles Kepel wurde 1955 in Paris geboren und studierte Soziologie, Anglistik und Arabistik. Er gilt als einer der bedeutendsten Soziologen Frankreichs und renommierter Kenner der arabischen Welt sowie des politischen Islam und des radikalen Islamismus. Er ist Professor am Institut d'Études Politiques de Paris und Autor zahlreicher Bücher, u.a. Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa und Der Bruch. Frankreichs gespaltene Gesellschaft.


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