E-Book, Deutsch, 165 Seiten
Kennett / Kennet Die Grünbarts (2). Zusammen klebt man besser als allein
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-401-80555-9
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 165 Seiten
ISBN: 978-3-401-80555-9
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weitere Infos & Material
Kapitel 1 Ein weiterer Schultag ist geschafft. Jetzt sind es nur noch acht Millionen sechshundertfünfundsiebzig Tage. Also grob geschätzt acht Millionen sechshundert. Aber wer zählt schon so genau? Als ich den Gang im Schulbus entlangtrottete, tauchte plötzlich über der vorletzten Sitzlehne Sams blonder Stachelkopf auf. Craig, Sams bester Freund, saß neben ihm und winkte aufgeregt. »Jo!«, rief er näselnd. »Superbart! He, Superbart!« Ich holte tief Luft und tat so, als hätte ich ihn nicht gehört. Superbart, das war ihr neuer Spitzname für mich. Zugegeben, er ist nicht gerade genial, aber immer noch besser als Zack Blödbart, daher habe ich mich damit abgefunden. »Ssuperbart«, wiederholte Sam und fuchtelte vor meinem Gesicht herum. »Wir haben dir einen Platss freigehalten. Hier!« Er deutete mit seinem dicken Finger auf die freie Sitzbank direkt vor ihm. Ich nickte kurz und ging dorthin. Von »freihalten« konnte keine Rede sein. Nur ein Idiot würde sich freiwillig vor Sam und Craig hinsetzen. Wie es das Pech wollte, war heute ich dieser Idiot. Bevor ich mich auf den Platz fallen ließ, suchte ich den grünen Kunststoffbezug nach Reißnägeln ab. Seit mein »Cousin« Waldi zum Internetsuperstar aufgestiegen war, hatten Sam und Craig mich zu ihrem allerallerbesten Freund erklärt. Aber drei Wochen Obercool-Status reichten meiner Meinung nach nicht, um die Erinnerung an zehn Jahre Leidenszeit auszulöschen. »Danke, Jungs«, murmelte ich, nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass es ungefährlich war, sich hinzusetzen. »Sshon gut«, lispelte Sam. Craig beugte sich über die Rückenlehne und ließ seine Arme wie zwei riesige Schinkenkeulen rechts und links von meinem Kopf baumeln. In Gedanken zeichnete ich Craig als gigantischen Fleischmenschen: ein Porterhouse-Steak als Brust, Schinkenschlegel als Arme, zwei Truthahnbeine – und als Kopf ein großer Fleischklops. Ich lachte glucksend, doch dann runzelte ich die Stirn, denn mir war eingefallen, dass ich nach dem heutigen Tag nie wieder zeichnen würde. Nie wieder. »Also«, grunzte Craig. »Wann kommt Waldi endlich zu Besuch?« Ich warf einen Blick auf die Uhr. Seit er diese Frage zum letzten Mal gestellt hatte, waren elf Minuten vergangen – und das auch nur, weil ich Craig elf Minuten lang nicht gesehen hatte. »Keine Ahnung«, antwortete ich. »Es ist eine ziemlich lange Reise.« (Genauer gesagt war es eine Reise aus dem Norwegen des zehnten Jahrhunderts bis in unsere Zeit. Aber das konnte ich den beiden natürlich nicht verraten, ohne unser Familiengeheimnis preiszugeben oder in Sams und Craigs erbsengroßen Gehirnen einen Kurzschluss auszulösen.) »Cool«, sagte Sam. »Aber du lädsst unss ein, wenn er kommt? Verssprochen?« »Hm-hm«, murmelte ich und beäugte misstrauisch die kräftigen Arme neben meinem Kopf. »Klar. Ihr erfahrt es natürlich als Erste.« Falls er jemals wiederkommt, was allerdings niemals passieren wird. »Supercool.« Sam und Craig ließen sich wieder in ihre Sitze zurückplumpsen und fingen an, lauthals »Wikinger! Wikinger!« zu grölen. Dabei stießen sie ihre Köpfe gegeneinander, sodass der ganze Bus erbebte. Ich legte meine Wange ans kühle Fenster und versuchte, die beiden zu ignorieren. Am liebsten hätte ich nicht nur die beiden Hohlköpfe, sondern gleich den ganzen Tag aus meinem Gedächtnis gestrichen. Bis vor Kurzem hatte ich allen Ernstes geglaubt, vor drei Wochen sei der schlimmste Tag meines Lebens gewesen. Damals hatte ein völlig verrückter Wikinger-Junge namens Waldemar, der aus der Vergangenheit kam, mit Mikey, einem noch viel verrückteren Jungen aus der Gegenwart, Plätze getauscht und sich in die Zeitreisemaschine meiner Familie geschmuggelt, um ins einundzwanzigste Jahrhundert zu gelangen. Aber ich hatte mich geirrt. Jener Tag hatte zwar ziemlich mies angefangen, doch am Ende war alles gut ausgegangen. Das Video meines Bruders, in dem Waldi zu sehen ist, wie er ein Dutzend Pizzas verschlingt, war in Windeseile ein echter Internet-Hit geworden und ich war seither beliebt (und seit vierundzwanzig Tagen nicht mehr von Sam und Craig vermöbelt worden – ein neuer Rekord). Mein Leben war viel einfacher geworden. Allerdings nur bis heute Morgen, genauer gesagt, bis zu Ms Reeds Unterrichtsstunde. Gerade hielt der Bus in meiner Straße. Ich nahm meine Sachen und schlurfte zur Tür. Sam und Craig hörten auf, die Köpfe aneinanderzustoßen und »Wikinger!« zu grölen. Stattdessen riefen sie: »Bis bald, Superbart.« »Bis dann, Jungs.« Lustlos winkte ich über die Schulter und trat auf den Gehsteig hinaus. Ich war einfach nur froh, dass der Schultag endlich vorbei war. Es war fast zum Lachen. Früher hätte ich mir nichts Schlimmeres im Leben vorstellen können, als von Sam und Craig eine Abreibung zu bekommen. Seit heute wusste ich, dass es viel schlimmer ist, wenn die eigenen Träume zunichtegemacht werden. Ich ging die Schöne Allee entlang zu unserem Haus am Ende der Straße. Im Garten stand meine Schwester Hojo wie eine Königin inmitten ihrer Hofdamen, wobei die Hofdamen ihre drei besten Freundinnen Jessa, Kayla und Sarah waren. Hojo war nicht einfach nur eine ganz normale Dreizehnjährige und das It-Girl der ersten Highschool-Klasse, sondern auch eine Samurai, sprich eine Kriegerin aus dem Japan des vierzehnten Jahrhunderts. Und manchmal vergaß sie, dass ihr Leben nicht mehr aus kriegerischen Handlungen bestand. Jessa, Kayla und Sarah hatten sich in einer Reihe aufgestellt, während Hojo vor ihnen auf und ab marschierte und ihre Outfits unter die Lupe nahm. Das Kinn auf die Hand gestützt und den Kopf zur Seite geneigt, blieb sie schließlich vor Jessa stehen. Jessa drückte den Rücken durch, als Hojos Blick über deren griechische Sandalen, Zwanzigerjahre-Kleid und Glitzer-Stirnband glitt. »Jessa, Jessa.« Hojo schüttelte den Kopf. Ihr akkurater schwarzer Bob wippte vor und zurück. »Wir gehen zu einer Jahrgangsstufen-Party und nicht zum Kostümball. Falls du es vergessen hast, wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, nicht in den 1920ern oder den 1970ern oder wo auch immer du deinen verrückten Mischmasch herhast.« »Ich wollte doch nur die zwei Stile kombinieren«, verteidigte sich Jessa. Sie sah Hojo hoffnungsvoll aus großen Augen an. »Ich wollte Trendsetter sein, so wie du!« Hojos Augenbrauen schossen in die Höhe. »Das würde ich an deiner Stelle lieber bleiben lassen«, erklärte sie. »Du willst zu viel auf einmal. Du musst erst laufen lernen, bevor du rennen kannst.« Hojo nahm Jessas Outfit erneut in Augenschein. »Sandalen gehen gar nicht«, befand sie. »Okay.« Jessa streifte ihre Sandalen ab und blickte Hojo erwartungsvoll an. »Das Kleid …« Hojo kniff die Augen zusammen. »Auf gar keinen Fall.« Jessas Schultern sackten nach unten. »Und das Stirnband?« Hojo schauderte. »Vergiss es.« Jessas letzter Hoffnungsschimmer erlosch. »Okay«, seufzte sie. »Beim nächsten Mal mache ich es besser.« Ich begriff wirklich nicht, wo das Problem lag. In meinen Augen sah Jessa toll aus. (Okay, mit ihren langen roten Haaren, den rosigen Wangen und den Sommersprossen auf der Nase – falls es dich interessiert, es sind genau sieben – sieht Jessa eigentlich immer gut aus, egal, was sie trägt.) Vor der großen grünen Abfalltonne in unserer Einfahrt blieb ich stehen. Ich klappte den Deckel schwungvoll auf, sodass er gegen die Tonne krachte. Bei dem lauten Geräusch blickte Hojo in meine Richtung. Ich winkte kurz, dann zog ich einen Stapel Papier aus meinem Rucksack und stopfte ihn in die Mülltonne. Ich wollte nie mehr wieder auch nur einen Blick darauf werfen. Nur einen Wimpernschlag später stand Hojo vor mir und sah mich misstrauisch an. »Hey!«, rief ich erschrocken. »Was soll das?« Ich hatte meiner Schwester ungefähr achthundert Millionen Mal gesagt, dass sie sich nicht so anschleichen soll. Aber sie hörte einfach nicht auf damit. Hojo lebte zwar in unserer modernen Welt, aber sie benahm sich immer noch so, als müsste sie einen Palast vor Eindringlingen schützen. Anscheinend war ich in ihren Augen genau das: ein Eindringling. »Hast du da gerade Papier reingeworfen?« Sie deutete auf die Mülltonne. »Ja, und?«, maulte ich. »Was geht dich das an? Es ist mein Papier, ich kann es wegwerfen, wenn ich will.« »Kannst du nicht«, erwiderte sie. »Wie bitte?« »Das Zeug gehört nicht in die grüne Tonne, sondern ins Altpapier«, sagte sie streng. »Ach so, ja. Tut mir leid. Hab mich vertan.« Ich angelte die Blätter wieder heraus und warf sie stattdessen in den Altpapierbehälter. Hojo blickte mich scharf an und beobachtete jede meiner Bewegungen. Meine Schwester war eine Recycling-Polizistin und superneugierig noch dazu. Rasch klappte ich den Deckel der Altpapiertonne zu. Ich wollte abhauen, bevor Hojo meine Geheimnisse erschnüffeln konnte. Aber Pech gehabt. Hojo öffnete den Deckel und...