Kempowski | Im Block | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch

Kempowski Im Block


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-05921-7
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

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ISBN: 978-3-641-05921-7
Verlag: Knaus
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Wie kaum ein Autor wurde Walter Kempowski von den beiden deutschen Staaten geprägt. "Im Block" erzählt von einer Zwangsgemeinschaft am Rande der Gesellschaft.
1948 wird Kempowski wegen angeblicher Spionage zu 25 Jahren Haft verurteilt. Nach acht Jahren im DDR-Zuchthaus Bautzen kommt er frei. 1969 erscheint sein literarischer Bericht dazu.
"Im Block", das ist ein Leben in drangvoller Enge, isoliert, inhaltsarm. Die Häftlinge bilden eine Gesellschaft, geprägt vom Eingeschlossensein, von qualvoll gedehnter Zeit. Eindringliche Bilder zeigen eine Existenz, die das verweigert, was menschliche Selbstverwirklichung ausmacht: Arbeit, Liebe, Besitz.
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1


Im Morgengrauen holten sie mich aus dem Bett. Zwei trugen Lederjacken. Da hast du was zu melden, wenn du wieder rüberkommst, dachte ich. Einer nahm aus dem Wäscheschrank Briefe und Tagebücher. Ein anderer strich über die Tapete.

Zwei Pullover zog ich mir über, meinen Ring konnte ich unbemerkt in die Nachttischschublade abstreifen.

Sie legten mir keine Handschellen an. Beim Hinuntergehen faßte einer mit zwei Fingern meinen Ellbogen.

Oben stand meine Mutter mit aufgelöstem Haar.

Auf der Straße Doppelposten mit Gewehr.

Im Fenster des Hausmeisters bewegte sich die Gardine; im Schaufenster der Drogerie Fotos vom Strand.

Im Opel Olympia: Trug der Fahrer eine Pickelmütze?

(In Riga erstach man die Stadtverordneten und warf sie in einen Brunnen.)

Ich hielt mich an der Troddel fest und suchte die Straße nach Bekannten ab. Da drüben hatte immer der alte Weltzin in seinem Erker gesessen.

Ein Bretterzaun versperrte die verbotene Villenstraße. Glatzköpfige Russenkinder davor. Rasch war der Schlagbaum aufgeseilt, ein Ausweis wurde nicht verlangt. Alle Türen standen offen. Von Offizieren geleitet, schritt ich die Treppe hinauf.

Der Wachhabende saß auf einem Gartenstuhl. Er hatte die Ärmel hochgestreift.

Im Keller nahm mich ein freundlicher Mongole entgegen. Krawatte abbinden – ich trug eine rote –, Schnürsenkel herausziehen, Brieftasche hingeben. Brille ab.

Mit Stacheldraht umwobene Gitterstäbe: Kette und Schuß. Vor der Nachbarzelle stand eine Beinprothese.

Erstes Verhör in einem Wohnzimmer.

An der Wand ein Stalin-Bild. Drei Offiziere mit hängenden Orden um mich herum. Ich antwortete nach allen Seiten.

Einer strich mir übers Haar: Guter Junge.

Er stellte ein Bein auf den Stuhl, fummelte an meinem Identification Pass und zählte es an den Fingern her: Aus dem Westen gekommen, Labor Company der U.S. Army, Ami-Hose – also Spion.

Im Straßenlautsprecher Chopin.

Ich war drei Schritte hinter mir. Große Entfernung trotz Naheinstellung. Zahlenziffern am Fadenkreuz. Kein Hätte-doch, kein Gedanke an Morgen, keinerlei Reim.

Reines Heute.

Im Keller schlossen sie mich in eine provisorische Zelle. War das ein Weinkeller gewesen? Ein Kanten Brot lag auf dem Kübel.

Ich legte mich auf die Pritsche und zitterte am ganzen Leib. Nach einer halben Stunde waren sechs Stunden vergangen. Sie schlossen mich wieder heraus.

Ich mußte wieder in das Auto steigen. Rasche Fahrt durch Regen. Der Begleiter gab mir eine Zigarette nach der andern.

An einer Bahnschranke gab es Aufenthalt. Gute Fluchtgelegenheit: Sie ließen mich aussteigen zum Füße vertreten. Keine Hunde, keine Fessel, Wald.

Der Zug fuhr langsam vorüber.

Spätabends waren wir in Schwerin.

Dunkle Toreinfahrt in weißbeworfener Wand. Auf der Zinne zerbrochenes Glas.

(Hier kriegst du Prügel.)

Der Begleiter bekam für mich eine Quittung und ging fort, ohne mich noch einmal anzusehen.

Weh mir, wenn es Winter wird!

Ein Mensch, vor dem ich sehr erschrak, öffnete mir Jacke und Hose.

Er suchte nach Waffen.

Dann trieb er mich durch Gänge –«schnöll! schnöll!» – und schob mich in eine Zelle. Es war die Nummer 54.

Würde man hier später einmal eine Bronzetafel zur Erinnerung an meine Leidenszeit anbringen?

«Nix sprechen, nix liegen, nix schlafen, nix singen, nix klopfen, nix Fenstergucken», sagte der Posten. Alle übrigen Verbote hatte ich zu ahnen.

Ich hängte meinen Mantel an einen Haken in der Tür. Da klatschte es draußen. Ich hatte eine Signalvorrichtung ausgelöst, durch die der Posten herbeigerufen wurde.

Er kam schimpfend angerannt und donnerte gegen die Tür.

Die Zelle war leer. Eine eingebaute Pritsche mit Strohsack als einziger Einrichtungsgegenstand.

Ich stellte mich an die Heizung und wärmte mir die Füße.

Irgendwo klopfte es. Im Terrazzofußboden tausend Bilder: Hund,

Fisch, Palme. Eine alte Frau mit Holz.

Jemand hatte ins Trinkwasser gerotzt.

Ich legte mich auf die Pritsche.

Kaum lag ich, kam der Posten. «Nix liegen!» Erst wenn die Glocke klingelte, war das Schlafen erlaubt.

Also wieder hoch und warten. Bis gegen Mitternacht wanderte ich auf und ab, dann endlich klingelte es.

Am anderen Morgen studierte ich an den gekalkten Wänden die Kritzeleien meiner Vorgänger:

Und wieder ging ein junges Leben
unaufgeblüht ins Grab,
das allzu hast’ge Streben
riß ihm den Faden ab.

Ein Mensch namens Lunow hatte sich wohl zwanzigmal verewigt. Ich schrieb meinen Namen überall dahinter.

An allen Wänden Kalender. Einer mit siebzig Strichen.

Ich legte mir gleich drei an. 8. März 1948. Überm Bett einen, wenn ich aufwachte, an der Tür und unter dem Fenster. Die Striche machte ich für eine Woche im voraus. So lange würde ich ja doch noch sitzen.

Mit dem Austreten war’s schwierig; als Kübel diente eine Vase mit engem Hals.

Ob sie uns lieben oder hassen –
einmal müssen sie uns doch entlassen.

Gegen neun Uhr reichte mir der Posten einen Kanten Brot. Dazu gesüßten Gerstenkaffee und eine Vitamintablette.

Endlich konnte ich auch das Trinkwasser wechseln. Die Aule schwamm davon.

Zu Mittag bekam ich Rübenwasser mit drei angebratenen Speckwürfelchen. Und wieder gab mir der Koch eine Vitamintablette. Ein Zellennachbar morste: «Dünn wie Pisse!»

Das Brot teilte ich mit dem Löffelstiel in dreißig fingerlange Stücke. Die Krusten legte ich extra, desgleichen das «Marzipan»: die millimeterstarke Schliffschicht.

Vielleicht sollte man hier beten? Ich tat’ s, dann wandte ich mich vom Spion ab und lutschte Stück für Stück.

Hin und wieder durchfuhr es mich: Hast du auch bestimmt gebetet? Vielleicht sollte ich es sicherheitshalber noch einmal tun?

In der Nacht, kurz vor dem Klingeln, holten sie mich zur Vernehmung. Durch Käfigventile und Gitterschleusen trottete ich hinter dem Posten her. Auf jeder Treppe Schlüsselsignale am Geländer: Hier durften Gefangene sich nicht begegnen.

Über eine Seufzerbrücke ging es ins Justizgebäude. Unter dem Fenster ein Kokshaufen, der würde mich abfangen, wenn ich aus dem Fenster spränge. Oder die Treppe hinunterrasen … am Posten vorbei.

Halb zwölf, Uhrzeit merken.

Der Untersuchungsrichter, ein Major, schritt über die Ankerteppiche, Hände auf dem Rücken. Wie sollte er es anfangen? Vera, die hübsche Dolmetscherin, kaute Nägel.

Gardinen und Übergardinen, Deckenlampen wie Puddingschüsseln: Mein Stuhl stand, wie kein Stuhl in der Welt, am äußersten Rand des Zimmers.

Der Untersuchungsrichter sah mir ins Auge. Gleich mußte er sich entscheiden, ob er mich schlagen würde. Ein paar Sekunden starrten wir uns an. Dann lächelte er und gab mir eine Zigarette. Die glorreiche Rote Armee vergreift sich an keinem deutschen Jüngling, einem jungen Menschen, der vermutlich nur in die Irre gegangen ist.

In der Ferne tutete ein Zug.

Drei Stunden später waren wir im reinen. Indizien erleichterten die Verständigung. Zwei Stunden Schlaf blieben mir.

Dann übernahm Kapitän Scherkow die Ausschmückung meines Falls. Nacht für Nacht wurde ich geholt.

Hunderte von Seiten schrieb er voll mit violetter Tinte, zwischendurch Fingermassage und hin und wieder eine Frage.

Unvermittelt sagte er auch so etwas: «Apfelblumen alle kapuht!» (In der Nacht hatte es gefroren.)

Weil ich die Sowjetunion Rußland nannte, mußte ich in der Ecke stehen.

Scherkow hatte drei Orden. Er spuckte in die Schublade seines Tisches.

Ob ich Gummerstock kennte?

Er riß einen Gummiknüppel aus dem Schreibtisch und rief, mit dem würde ich es zu tun bekommen, wenn ich nicht die Wahrheit sagte!

Sein Dolmetscher hieß Nikolai, ein Arbeiterjunge mit gewelltem Haar. Er ordnete Lineal und Bleistifte und wischte Tabakkrümel mit gekrümmter Hand vom Tisch. Ab und zu unterhielt er sich mit mir.

Warum ich Spionage gemacht hätte, wollte er wissen. Die Sowjetunion verfüge über 200 Millionen Menschen, demnächst würden es sogar 220 Millionen sein, und gegen die hätte ich mich aufgelehnt!

Wer zwischen die Mühlsteine gerate, werde zerquetscht.

Er hatte Angst vor irgendeiner Prüfung. Ich half ihm bei den Schularbeiten. Was ein «Landser» sei und «Kimme und Korn». Er behauptete, es heiße «trotz alles». «Trotz» regiere den zweiten Fall.

Ich konnte ihn nicht davon abbringen.

Es...


Kempowski, Walter
Walter Kempowski wurde am 29. April 1929 als Sohn eines Reeders in Rostock geboren. Er besuchte dort die Oberschule und wurde gegen Ende des Krieges noch eingezogen. 1948 wurde er aus politischen Gründen von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach acht Jahren im Zuchthaus Bautzen wurde Walter Kempowski entlassen. Er studierte in Göttingen Pädagogik und ging als Lehrer aufs Land. Seit Mitte der sechziger Jahre arbeitete Walter Kempowski planmäßig an der auf neun Bände angelegten "Deutschen Chronik", deren Erscheinen er 1971 mit dem Roman "Tadellöser & Wolff" eröffnete und 1984 mit "Herzlich Willkommen" beschloss. Kempowskis "Deutsche Chronik" ist ein in der deutschen Literatur beispielloses Unternehmen, dem der Autor das mit der "Chronik" korrespondierende zehnbändige "Echolot", für das er höchste internationale Anerkennung erntete, folgen ließ.Walter Kempowski verstarb am 5. Oktober 2007 im Kreise seiner Familie. Er gehört zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Seit 30 Jahren erscheint sein umfangreiches Werk im Knaus Verlag.



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