Tagebuch 1990
E-Book, Deutsch, Band 3, 432 Seiten
Reihe: Tagebücher
ISBN: 978-3-641-04844-0
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Februar 1990
Nartum
Do 1. Februar 1990 Wer lang huast, werd lang alt. (Bayern) Erste Lesung in Rostock, in der Kunsthalle. Der Verlag hatte zu diesem Zweck das Eingangskapitel von «Aus großer Zeit» als Broschüre gedruckt, die «Bilder», sie wurden dort in Mengen verteilt, manch einer schleppte einen ganzen Stoß davon weg. Knaus war gekommen, Ulla aus Kopenhagen, Robert und KF. Der Andrang war gewaltig, ich wurde von den andrängenden Menschen in die Höhe gehoben. Ein Arzt saß in der ersten Reihe, eine Beruhigungsspritze in der Tasche, für alle Fälle. Bissige Begrüßung durch die Direktorin der Kunsthalle, bei Siegfried Lenz seien viel mehr Zuhörer erschienen, sagte sie (was mir ziemlich spanisch vorkam, denn in den hinteren Regionen standen die Leute, und zwar dichtgedrängt). Endloses Signieren in abenteuerlich aussehende Illegal-Exemplare, im Schlüpfer über die Grenze geschmuggelt und von Hand zu Hand gegangen. Uralt-Bekannte tauchten aus der Menge auf, Jazz-Kameraden und sogar Schulfreundinnen. Eine teilte mir gar mit, daß sie mich gar nicht gemocht habe, sie habe meinen Bruder vorgezogen. Ich las unter anderem die Klavierstunde aus T/W und kam gut über die Runden. Wenn Rührung aufsteigt, muß man einen Schluck Wasser trinken, das ist ein gutes Rezept. Nicht zu sagen, wenn ich hier die Fassung verloren hätte! Hinterher wurden wir in die «Kogge» gebeten, ein Große-Freiheit-Nr. 7-Lokal mit Schiffsmodellen unter der Decke. Es war der große runde Tisch reserviert worden, aber der war besetzt! Leider habe man ihn an Bremer Geschäftsleute abtreten müssen, das sähen wir doch ein? Die saßen da mit ihren goldenen Manschettenknöpfen und ließen sich durch einen Schifferklavierspieler zünftig-laut unterhalten. Nein, es war nicht einzusehen. Wir mußten dann oben auf der Galerie sitzen, mit eingezogenem Kopf in schlechter Luft. Im Hinaufsteigen – wo dann brüllende Unterhaltung fällig war – noch an zwei Schulkameraden vorüber, einer aus West –, einer aus Ostdeutschland. Den Westmenschen hörte ich grade rufen: «Wie konntet ihr das zulassen …» (daß die Stadt so heruntergekommen ist).
Am nächsten Morgen dann ein längerer Rundgang durch die Stadt mit Hildegard, Ulla und KF: die Stätten der Kindheit. Hildegard sah nun zum ersten Mal die Originalschauplätze, von denen sie so viel gehört. Ulla ging die Sache eher kühl an, wie das so ihre Art ist, KF höflich. Er mag sich die Stadt seines Vaters anders vorgestellt haben. Das Geburtshausloch, das Haus des Großvaters: Ditmal betahl ick noch so …! Die heruntergekommenen Häuser. Die Dunstglocke benahm uns den Atem, ich steckte eines dieser tödlichen Braunkohlebriketts ein für meine Sammlung. Es war mir etwas peinlich, dem Sohn die Stadt, die ich einmal für das neue Jerusalem hielt, in diesem Zustand präsentieren zu müssen. Das offiziellere Rostock nahm keine Notiz von uns, kein Stehempfang, kein Goldenes Buch. Immerhin hatte der Küster der Marienkirche in dem Totengedenkbuch die Seite aufgeschlagen, auf der der Tod unseres Vaters verzeichnet steht. Da liegt es unter Glas und wird an jedem 28. April schwarz auf weiß präsentiert, was ich noch immer nicht begreifen kann, daß Vater vor fünfundvierzig Jahren durch eine kleine Bombe zerfetzt wurde. «Bei Frische Nehrung» sei er gefallen, steht auf dem Gedenkblatt, das ist zumindest etwas sonderbar. Auf der Rückreise nahmen wir die Strecke über Bad Doberan, und da bot es sich an, auch in Neuhaus einzukehren, wo wir 1936 mit Großvater Collasius die Ferien verlebt hatten (siehe «Schöne Aussicht»). Wir aßen dort und wurden scheel angesehen, offenbar handelt es sich um eine Stasi-Domäne. Unterm Tisch war aber kein Mikrophon installiert. Als wir abfahren wollten, sah ich einen Herrn unser Auto betrachten. Ich sagte: «Wollen Sie es mal fahren?» und gab ihm die Autoschlüssel. Er fuhr bis zur nächsten Straßenecke und kehrte um. «Wie ein Schiff!» sagte er zu seiner Frau, «ganz sanft und ohne Erschütterungen …» Nartum
Sa 3. Februar 1990 Wenn’s om Hilfe schreit, da spräng gleich zu;
Göbste Geld aus, mach’ de Agen off;
Kaaf dei Ochsenfläsch nech von d’r Kuh!
Gihst trepponger du, da guck nech noff.
(Thüringen) Jetzt hat auch Modrow vor der Volkskammer einen Vorschlag zur Einheit gemacht. Er weiß wohl nicht mehr ein noch aus? Will sich schnell noch zwischenschieben.
Rostock: Eine Ablösung ereignet sich jetzt, die mich orientierungslos macht. «Stern»-Affäre, Rostock-Film und Rostock-Lesung bündeln sich zu einer johlenden Explosion, deren Ausschüttungen mich schwefelgelb umnebeln. Ich kann nicht sagen, daß mein übergroßes Engagement für Rostock falsch gewesen wäre, ich handelte ja unbewußt, ich war getrieben. Aber, was soll ich jetzt tun? Es hatte mich, und nun ist es erledigt. Die Leibschmerzen, die ich bekam, als wir Rostock verließen, die Mattigkeit, die Leere im Kopf, die sich danach einstellte, zeigen mir, daß der Körper das alles auch satt hat. Was bleibt? Das «Echolot» weitertreiben als Hobby, «Mark und Bein» fragmentarisch abschließen und dann irgendwann den kleinen «Dorfroman» schreiben. Dies klingt sentimental, ist aber ganz nüchtern gemeint. Augenblickliche Stimmung blasiert, leer, angeekelt. Ob eine Deutsche Einheit kommt oder nicht, interessiert mich, ausgerechnet mich, nicht mehr so sehr, jedenfalls nicht im Augenblick. Für mich hat sie immer bestanden. Einen Moment dachte ich daran, vom 8. Stock des Warnow-Hotels hinunterzuspringen. Dies war vielleicht ein letzter Versuch, so etwas ähnliches wie Anerkennung zu erzwingen. Über das Wort «Anerkennung» in meinem Lebenslauf müßte ich auch mal nachdenken. Nartum
So 4. Februar 1990, 5 Uhr Wos mer sich eingebruckt hot, muß mer o ausfrasse.
(Altenburg) Ich liege seit zwei Stunden wach mit schlimmen Leibschmerzen. Lese in Syberbergs Notizen (Wald), merke plötzlich, daß es um das gleiche Jahr geht wie mein «Sirius»: 1983. «Wenn Pastiche», wie Susan Sontag sagt, «das Kunstmittel dieses Jahrhunderts, also die künstlerische Übernahme und Nachahmung des anderen zum Zwecke der Parodie und Nachahmung ins neue System ist, dann ist es durch neue Geschäfte der Juristen unserer Demokratie nun endgültig unmöglich – oder nur mehr unter Vermeidung des Rechtsweges dieser Spießer-Demokratie mit allen Folgen des Diebstahls. Kein Bild, kein Ton, kein Text darf ohne Anfrage und Agenturverhandlungen benutzt werden, ohne Genehmigung, schriftliche Erklärung der Zitierten. Geschäftlicher Tod der Polemik, Diskussion und der Ironie in einer derart demokratisierten Kunst.» Im Radio um diese Zeit, Sonntag früh, nur Pinkel-Musik. Ich fuhr zweimal die Skala ab: Sonntag! Da denkt man: Nun sind sie durchgedreht. – Warum sie nicht wenigstens mal Volkslieder bringen oder einen anständigen Choral?
2001: Inzwischen ist dieser Wunsch in Erfüllung gegangen, sie bringen nur noch «Volkslieder», von einem Mann namens Wewel aufrechten Blickes geknödelt oder von Heino.
19.45 Uhr. – Wer jetzt die Nachrichten hört, ist fast versucht zu glauben, man machte sich einen Jux mit uns. Die Meldungen haben die Wirkung des Orson-Welles-Hörspiels aus den dreißiger Jahren, nur fröhlicher, und die Wiedervereinigungs-Visionen des Herrn Altmann aus den Siebzigern weit übertreffend. Da sieht man Gorbi, wie er sagt, daß er natürlich für die Einheit Deutschlands sei, auch Modrow hat nichts dagegen; Leute, die sich noch vor einer Woche, ja vor Tagen eine Einheit Deutschlands absolut nicht vorstellen konnten oder wollten, kippen nun um. Heute wurde drüben die FDP gegründet, die SPD gibt es schon, wenn sie auch von einem Struwelkopp vertreten wird, der wie ein Strauchräuber aussieht. Hildegard meint, er wirke wie ein Strohmann. Zu diesem Vergleich paßt es nicht, daß er dunkle Haare hat. Die seriöse Volksschullehrernatur Rau nahm sich ihm gegenüber recht bieder aus. Immer noch geht’s um Sozialismus. Ein Hoch dem Föderalismus, ich hab’s ja immer gesagt. Je mehr autonome Landesteile, um so besser haben es die Untertanen. An den berühmten Strukturen hängt’s. «Ich bin ein Köther, kennst du meine Farben?» Der frühere Bundesverfassungsrichter Benda sagte heute, nach der Verfassung brauchten die einzelnen Länder drüben nur den Antrag zu stellen, in den Bund aufgenommen zu werden, rechtlich wäre das ohne weiteres möglich. Solch klare Auskunft gefällt manchem nicht. Große Diskussion: NATO, KSZE, Neutralisierung – gefühlsmäßig bin ich für das letztere, aber das geht wohl irgendwie nicht. In der SU wird’s auch immer wilder. Heute haben 200 000 Menschen in Moskau für ein Mehrparteiensystem demonstriert. Zaristische Fahnen waren nicht zu sehen. Die Sowjetmenschen wissen wohl gar nicht mehr, wie die aussahen. Ich glaube: Weiß mit Blau irgendwie. Man spricht von einer...