Kempowski | Ein Kapitel für sich | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 5, 400 Seiten

Reihe: Die deutsche Chronik

Kempowski Ein Kapitel für sich

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-05924-8
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, Band 5, 400 Seiten

Reihe: Die deutsche Chronik

ISBN: 978-3-641-05924-8
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Walter Kempowskis Haftbericht über seine Jahre in Bautzen

In seiner sogenannten Deutschen Chronik erzählt Walter Kempowski die Geschichte seiner Familie vom Kaiserreich bis in die 1960er-Jahre der Bundesrepublik. In »Ein Kapitel für sich« wird der junge Walter im März 1948 verhaftet, der Spionage angeklagt und zu einer langjährigen Strafe im Zuchthaus Bautzen verurteilt. Auch seine Mutter Margarete und sein Bruder Robert landen im Gefängnis. Bis zur Wiedervereinigung in Freiheit werden Jahre vergehen.
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2


WALTER


In der Nacht brachten sie mich nach Schwerin.

Merci, mon ami, es war wunderschön,
tausend Worte möcht ich dir noch sagen …

Eine dunkle Toreinfahrt in weißbeworfener Wand. Auf der Mauer zerbrochenes Glas, dahinter erleuchtete Zellen. Durch eine Seitenpforte ging’s hinein, an einem Hund vorbei, der mich ankuckte, und an einem Bottich mit schmutziger Wäsche.

(Bilder aus deutscher Geschichte. Von der Trenck: Sogar um den Hals hat er ein Eisen, und die Hände kann er nicht zusammenkriegen, weil eine Stange dazwischen ist.)

Ich wurde an die Wand gestellt, unter die große elektrische Uhr. Einer knöpfte mir die Jacke auf, der wollte wissen, ob ich Waffen bei mir hätte.

Er öffnete das Gitter, die Uhr klickte, und trieb mich durch Gänge, treppauf, treppab: hundert Zellen links und rechts.

»Soll ich laufen?« fragte ich.

Die Nummer 54 schloß er auf. (»Dies Zimmer nehme ich.«) Hier mal eine Bronzetafel anbringen, eines Tages, wenn alles vorüber ist:

Zum Gedenken an Walter Kempowski
8. März 1948 bis …

Ja wann: bis.

Ein eisernes Bett, ein Krug mit Wasser und in der Ecke der Kübel. Das Fenster mit Brettern vernagelt.

Ich stellte mich an die Heizung und wärmte mir die Füße. Irgendwo klopfte es.

In den Wasserkrug hatte man hineingespuckt.

Der Untersuchungsrichter trug einen eleganten Vorkriegsanzug. Er ließ sein Kreuzworträtsel im Stich, nahm die Brille ab und kam hinter dem Tisch hervor. Klein, »drahtig«, den Kopf papageienhaft gereckt: Witebsk, Charkow und Smolensk: Tausende von Panzern, ein einziger gewaltiger Schlag: »Das ist also der Kempowski.«

Gardinen und Übergardinen; Deckenlampen wie umgedrehte Puddingschüsseln: mein Stuhl stand, wie kein Stuhl in der Welt, am äußersten Rand des Zimmers.

Er schritt über die Ankerteppiche, auf und ab, die Hände auf dem Rücken. (»Wieder so ein junger Mensch, der sich gegen die Sowjetunion vergangen hat, oh, was sind das bloß für Zeiten.«) Dann blieb er vor mir stehen und sah mir in die Augen: der Vaterländische Krieg, die glorreiche Sowjetunion! Jede kleine Hütte haben die Deutschen angezündet und jeden Telegrafenmast gesprengt.

Wollte er mich schlagen? Nein, er lächelte, er holte ein Zigarettenetui aus der Tasche und klopfte seine Papyrossa fest. Dann kniffte er sie und setzte sich an den Schreibtisch: Brille auf und das Papier richtig hinlegen. Hat man noch was vergessen? Den Federhalter eintunken – lila Tinte – dreimal neu anfangen: Kempowski sagt aus: wann geboren, wo, und die Frachtbriefgeschichte. Alles der Reihe nach, immer wieder von vorn, von Kindesbeinen an. Die Kastanien im Feuer, der Schinken im Salz, Gesellschaft, Kameradschaft, Freundschaft. Der Genosse Petrow sitzt im Klub und hört Radio. Seite um Seite.

(Eine sonderbare Schrift – kyrillisch: ab und zu ein richtiger Buchstabe dazwischen.)

Am dritten Tag fragte er mich nach meiner Mutter. Ob sie davon gewußt hat, daß wir Frachtbriefe mit Angaben über Demontagegüter in den Westen geschafft haben. Das wollte er wissen. Das interessierte ihn.

Brille wieder abnehmen, aufstehen, Zigarette ausdrücken, aus dem Nebenzimmer welche reinholen.

»Nun wollen wir mal über deine Mutter sprechen. – Schwöre, daß deine Mutter nichts von der spionischen Tätigkeit gewußt hat.«

Das sei mir zum Schwören zu nichtig, sagte ich nach zu langem Zögern.

Da lachten sie und kuckten sich an: »Willst du oder soll ich?« Und dann alle gleichzeitig.

Ich besaß es doch einmal,
was so köstlich ist,
was man doch zu seiner Qual
nimmermehr vergißt.

Am Haar zog mich einer vom Stuhl und stellte sich auf mein Gesicht, daß es krachte.

»Wir hören, wenn du sprechen willst …«

Dann wurde der Karzer aufgeschlossen, im Keller, eine Zelle mit besonders dicken, schalldichten Mauern. Ja, sie hatten die Genehmigung dazu. Brille aufsetzen, nochmal draufkucken auf den Wisch, ja, ein Stempel ist vorhanden. Alles rechtens. Slawnaja sowjetzkaja armia.

»Halt! Doch noch ein letztes Mal fragen, ob seine Mutter davon gewußt hat. – Nein? Nicht gewußt? – Na, dann los.« In der Karzerzelle war noch eine zweite Tür, eine Gittertür, die teilte den Raum in zwei Hälften. Ich mußte mich ausziehen und wurde da hineingesteckt.

Fenster öffnen und Wasser auf den Fußboden gießen. Dnepropetrowsk.

Ich griff in die Stäbe und sagte, mir fielen grade eben noch ’ne Menge Agenten ein, lauter ganz gefährliche Leute! Schlüssel auf die Finger hauen: »Schon gut, schon gut. – Hat Mutter gewußt, oder hat sie nicht gewußt?«

Minsk, Kursk und das Donezbecken.

Wein nicht, mein Kind,
die Tränen, sie sind vergebens …

Alles haben die Deutschen angezündet und verwüstet. Keinen Stein haben sie auf dem andern gelassen, und unsere Väter und Mütter haben sie getötet.

Sie gingen fort, und ich stand im Wasser allein. Wenn wenigstens das Fenster zu gewesen wäre. Kein Schemel und nicht einmal ein Kübel, auf den man sich hätte setzen können.

»Schöne Geschichte, was?« sagte der Posten, der vor dem Gitter stand.

Pling-plong! Die Gitterstäbe: verschieden gestimmt, plöng! der dahinten noch wieder anders.

Er hockte sich hin, nahm die Arme um die Knie und sagte: »So mußt du das machen, Dummkopf.« – Wärmehaushalt: und sich selbst anhauchen.

In der Zellenhalle klingelte es zur Nachtruhe. Da fielen jetzt die vielen Braven, die dem guten Untersuchungsrichter keine Schwierigkeit gemacht hatten, in einen tiefen warmen Schlaf: wir haben uns zwar schwer vergangen, aber wir haben alles zugegeben und den Sowjetmenschen ihre Arbeit sehr erleichtert.

Ich hockte im Wasser, hauchte mich an und besah mir den Kot, der da wie Kork um mich herumschwamm.

Die Mutter war gewiß schon längst in Hamburg. Spätestens nach einer Woche haut man doch ab. In Wandsbek bei Onkel Richard und bei Onkel Karl.

Sonderbares Wort: Gänsehaut.

In Wandsbek, in der Bärenstraße, wo Großvater auf der Veranda gesessen hatte, mit seinen Zebrafischen und Karauschen. Bei den Gubbis nehmen die Mütter ihre Jungen ins Maul, wenn es gefährlich wird.

Dreihundert Päckchen mit Wäsche nach Hamburg geschafft und das ganze Silber. Aber die Uhr noch beim Uhrmacher, und die Stiefel beim Schuster. Das nicht vergessen. Und das letzte Gehalt beim Ami.

In der zweiten Nacht übergossen sie mich mit Wasser und ließen die Hoftür offen, damit’s tüchtig zieht: der will hier seine Mutter decken, das ist ja unerhört.

In der dritten Nacht bewachte mich ein alter Bauer. Der lernte Deutsch aus einem dicken Buch: »Die Blumen blühen in dem Garten.« Ob das richtig ist, fragte er mich. Er hatte sich den Mantel umgehängt.

Als ich wieder in der warmen Zelle saß, schnürte ich mir einen Finger ab: Tod durch Leichengift.

Aber am Abend machte ich die Schnur wieder ab. Den Brotkanten, am nächsten Tag, den duftenden, süßen, den mußte man doch noch mitnehmen.

Dann wurde ich nicht mehr geholt.

Stunde um Stunde marschierte ich auf und ab, fünfzehn Kilometer pro Tag.

Ich hab es getragen sieben Jahr,
und ich kann es nicht tragen mehr …

Wer war Erasmus von Rotterdam? Wer Hieronymus im Gehäus?

Sechsundachtzig mal zweihundertundzehn.

Immer auf und ab. Von der Tür zum Fenster und vom Fenster zur Tür. Auch mit geschlossenen Augen. Vielleicht wird man ja mal blind: auf- und abgehen, das kann man dann schon.

Deux petits garçons trouvent une noix.

Hin und wieder einen Schluck aus der Kanne, gegen den Hunger. Erdig schmeckendes Wasser.

Nach der Entlassung sofort in den Westen gehn, keine Minute zögern. Nach Wiesbaden, unter die Platanen und ins Cafe Blum. Milde Luft und Dampf aus allen Gullis. Warm baden im »Pariser Hof«.

Wahrscheinlich würden die Amerikaner in Wiesbaden sofort eine Pressekonferenz einberufen, wenn man da wieder auftauchte. Wahrscheinlich doch. Sicher. Als Propaganda gegen die Sowjetunion? Das ließen sie sich doch bestimmt nicht entgehen: Ein Original-Gefangener aus einem sowjetischen GPU-Keller. Jetzt schon trainieren, daß man dann nicht dasteht wie ein Dummer.

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Die wundern sich, daß man noch so flüssig spricht, nach vier Wochen Haft!

»Erzählen Sie uns bitte alles ganz genau.« (»Dieser Mensch sieht doch eigentlich ganz manierlich aus? Daß man so etwas nun einsperrt …«)

Immer auf und ab. Inschriften an den gekalkten Wänden:

ZUM TODE VERURTEILT!
GRÜSST MEINE FRAU!

Und überall Kalender, die verschiedensten Systeme.

Einer mit 170 Strichen. 170 Tage! Beinah ein halbes Jahr. Saß man denn hier so lange?

Ich legte mir gleich drei Kalender an: überm Bett einen,...


Kempowski, Walter
Walter Kempowski wurde am 29. April 1929 als Sohn eines Reeders in Rostock geboren. Er besuchte dort die Oberschule und wurde gegen Ende des Krieges noch eingezogen. 1948 wurde er aus politischen Gründen von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach acht Jahren im Zuchthaus Bautzen wurde Walter Kempowski entlassen. Er studierte in Göttingen Pädagogik und ging als Lehrer aufs Land. Seit Mitte der sechziger Jahre arbeitete Walter Kempowski planmäßig an der auf neun Bände angelegten "Deutschen Chronik", deren Erscheinen er 1971 mit dem Roman "Tadellöser & Wolff" eröffnete und 1984 mit "Herzlich Willkommen" beschloss. Kempowskis "Deutsche Chronik" ist ein in der deutschen Literatur beispielloses Unternehmen, dem der Autor das mit der "Chronik" korrespondierende zehnbändige "Echolot", für das er höchste internationale Anerkennung erntete, folgen ließ.Walter Kempowski verstarb am 5. Oktober 2007 im Kreise seiner Familie. Er gehört zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Seit 30 Jahren erscheint sein umfangreiches Werk im Knaus Verlag.



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