E-Book, Deutsch, Band 2, 377 Seiten
Reihe: Mord in Cambridgeshire
Kelly Kein Ort zum Sterben
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-98690-749-5
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminalroman | Mord in Cambridgeshire 2 - eine düster-fesselnde Englandkrimireihe für Fans von Val McDermid
E-Book, Deutsch, Band 2, 377 Seiten
Reihe: Mord in Cambridgeshire
ISBN: 978-3-98690-749-5
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Jim Kelly, geboren 1957, arbeitet seit vielen Jahren als Korrespondent der Financial Times in London. »Tod im Moor« war sein hochgefeiertes Krimidebüt, für das er unter anderem mit dem »Dagger Award«, dem größten britischen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Jim Kelly lebt mit seiner Familie in Ely, Cambridgeshire, die auch Schauplatz seiner Krimireihe um Philip Dryden ist. Bei dotbooks veröffentlichte Jim Kelly seine Krimireihe »Mord in Cambridgeshire«: »Tod im Moor« »Kein Ort zum Sterben« »Dunkler als ein Grab« »Kalt wie Blut« »Spur der Knochen«
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Kapitel 1
Philip Dryden sah zum Taxi hinunter, das auf dem ordentlich gekiesten Vorplatz des Tower Hospital parkte. Auf dem Fahrersitz saß schlafend eine große, von einem Ipswich-Town-Sweatshirt umfangene Gestalt. Die gepflegten Hände des Fahrers ruhten säuberlich gefaltet auf seinem ausladenden Bauch. Den Mund hatte der schlummernde Taxichauffeur zu einem makellosen O gerundet.
»Wie hält er das nur aus?«, fragte Dryden und wandte sich der unter einem weißen Leinentuch ausgestreckt auf dem Krankenbett liegenden Frau zu. »Es hat neunundzwanzig Grad. Er parkt in der prallen Sonne. Und schläft. Dieser Fleischberg. Der wird doch gegrillt.«
Die Gestalt auf dem Bett rührte sich nicht. Diese Bewegungslosigkeit war eine Konstante in seinem Leben, wie die Hitze dieses Sommers, und ebenso bedrückend. Er wandte sich wieder dem großen, viktorianischen Bogenfenster zu und drückte die Stirn an das Glas.
Hitze. Unentrinnbar lag die Hitze wie ein gigantisches Federbett über dem Fenn. Von seinen pechschwarzen Haaren aus begab sich ein Schweißbach auf den Zickzackkurs über sein Gesicht. Seine Züge waren architektonisch geprägt. Frühromanisch, um genau zu sein. Es hätte der Kopf eines Ritters sein können, im Schiff einer Kathedrale oder in einer illuminierten mittelalterlichen Handschrift. Wie gemalt: facettenreich und zur Passivität verdammt, eine dramatische Ironie, mit der er gar nicht mal schlecht umschrieben war.
Er bog den Kopf in den Nacken und richtete das Gesicht zur Decke. Mit seiner ausgeprägten Phantasie beschwor er, wie schon tausendmal zuvor in diesem erdrückenden Sommer, einen Schneesturm herauf. Eiskalt taumelten die Flocken auf sein himmelwärts gewandtes Gesicht. In der Stille, die nur vom Ticken des Weckers neben dem Bett unterbrochen wurde, lauschte er ihrem Fallen.
Als er die Augen öffnete, war es exakt 11.57 Uhr. Drei Minuten.
Wieder schloss er die Augen, um die Hitze fortzudenken. Das Tower Hospital stand auf dem einzigen Hügel Elys. Gute hundert Fuß über der endlosen Weite der schwarzen Fenns, die sich als ausgedörrtes Panorama hinstreckten, bis an den welligen Horizont. Hinter Hitzeschwaden ruckelte ein Traktor über ein Feld, das nur unwesentlich kleiner als Belgien war.
Er sah zu Laura hinab. Beinahe vier Jahre lag seine Frau seit dem Unfall am Harrimere Drain nun schon im Tower. Dryden war dem anderen Auto auf einer einsamen Straße durch das Fenn entgegengekommen, war über die Böschung hinausgeschossen, und dann versank der zweitürige Corsa sechs Meter tief im Wasser des Kanals neben der Straße. Harrimere Drain. Immer, wenn Dryden das Schild sah, spürte er, wie der Sicherheitsgurt ihm in die Brust einschnitt, und er hörte wie von fern das dumpfe, zweimalige Knacken, mit dem sein Schlüsselbein brach.
Er war an Land gezerrt worden, aber Laura, die verborgen auf dem Rücksitz gelegen hatte, blieb zurück. Er versuchte, sich niemals auszumalen, was ihr durch den Kopf gegangen sein musste, als sie wieder zu Bewusstsein kam. Ganz allein in der Schwärze rang sie unter Schmerzen in einer unbarmherzig schwindenden, feuchten Luftblase um Atem.
Drei Stunden später hatte das Notarztteam sie befreit. Da lag sie im Koma. »Locked-in-Syndrom«, kurz LIS. Eingesperrt in dem Grauen jener hundertachtzig Minuten völliger Einsamkeit, eingesperrt in dem Wissen, im Stich gelassen worden zu sein, eingesperrt von ihm.
Der Wecker klappte eine Ziffer weiter – 11:58. Dryden zupfte am ausgefransten Leinenkragen seines weißen Hemds und tastete nach dem Goldkettchen um seinen Hals. Er zog daran, bis ihm der messingfarbene Sicherheitsschlüssel in die Hand glitt. Der Unfall Lauras hatte sich zwei Tage vor Drydens dreißigstem Geburtstag ereignet, und es war ein ganzer Monat vergangen, bis er wieder in die gemeinsame Londoner Wohnung zurückkehrte. Dort fand er dann sein Geschenk, an einer Stelle, von der sie gewusst hatte, dass er darüber stolpern würde: In der obersten Schreibtischschublade. Ein einfaches, weißes Kuvert, darin eine Karte mit einem schwarz-weißen Landschaftsfoto aus dem Fenn nahe Ely, dazu ein neu gefertigter Schlüssel. Auf der Karte stand »Alles Liebe, Laura«, sonst nichts.
Als Erstes hatte er die Schlösser in der Wohnung durchprobiert, dann die im Restaurant ihrer Eltern, dann die in deren Wohnung, alles ohne Ergebnis. Er klapperte sämtliche Schlosser in ihrem Nordlondoner Vorort ab, doch keiner konnte sich an den Besuch der jungen Italienerin mit dem kupferfarbenen Haar erinnern. Er versuchte es bei den beiden Landhäusern auf Adventurer’s Fen, die sie sich während der langen Debatten über Umzug und Familiengründung angesehen hatten. Doch dort waren die Türen vermodert und die Schlüssellöcher eingerostet. Das Schild im Gemäuer war mit Efeu überwuchert und praktisch nicht mehr zu sehen: »Einflugschneisenhäuser«.
Wie viele weitere Schlösser hatte er seit Lauras Unfall wohl schon durchprobiert? Tausend? Zweitausend? Immer ohne Erfolg. Laura allein wusste, welche Tür der Schlüssel öffnete, und sie hatte seit der Unfallnacht nicht mehr gesprochen. Es war ein Rätsel, das ihn auf subtile Weise quälte, erschien es ihm doch als das perfekte Symbol für sein Leben seit dem Unfall. Er verfügte über den Schlüssel, nicht aber über die Tür. Über eine Antwort ohne Frage.
»Unerträglich«, sagte er laut, und die lastende Hitze schien noch drückender zu werden.
11:59. Noch eine Minute bis zu den Nachrichten. Er klappte das Handy auf und wählte Humphs Geschäftsnummer: Humphrey H. Holt, Privattaxi für alle Anlässe. Nicht wirklich für jeden Anlass allerdings, eigentlich eher so gut wie für gar keinen Anlass. Humphs Taxi, ein klappriger Ford Capri, sah aus, als stammte er von einem Schrottplatz am Rande Detroits.
Drydens für gewöhnlich von steinerner Ungerührtheit geprägtes Gesicht legte sich in amüsierte Falten, als er den Chauffeur aufschrecken und nach dem Handy kramen sah.
»Ich bin’s«, erklärte er überflüssigerweise. Sie kannten die Stimme des jeweils anderen besser als die eigene. »Stell das Radio an. Lokalsender. Letzte Meldung. Muss ich hören.«
Die Frequenzen rauschten, bis Humph das Signal gefunden hatte.
»Die Mittagsnachrichten auf BBC Radio Littleport ...«
Vollkommen ungerührt ließ Dryden, der ein Jahrzehnt lang einer der heißesten Journalisten der Fleet Street gewesen war, die altbekannten Geschichten aus der Welt politischer Intrigen, internationaler Gewalt und seichtestem Showbusiness über sich ergehen, bis der Sender sich schließlich den regionalen Themen widmete.
»... mit einer kompletten Lastwagenladung Rüben. Dagegen hatten die Badestrände bei Cromer erneut massiv unter der Hitzewelle zu leiden. Die Sonnenhungrigen am Pier wurden von einem riesigen Schwarm Marienkäfer angefallen. Ein Sprecher des zuständigen Gesundheits- und Umweltamtes erklärte, die Insekten schlüpften derzeit in riesiger Zahl und seien verzweifelt auf der Suche nach Nahrung. Die bietet menschlicher Schweiß, ihren Angaben zufolge, in Hülle und Fülle. Und mit dieser Meldung ist es nun 12:04 Uhr.«
Es ertönte ein kurzer Jingle, die digitale Version der Hebriden-Ouvertüre. Dryden stieß eine Verwünschung aus.
»Hier ist BBC Radio Littleport. Die Stimme der Fenns, um 12:05 Uhr. Wir bringen jetzt einen dringenden Aufruf der Polizei von East Cambridgeshire.«
Drydens Reporterblock lag griffbereit auf dem Fenstersims. In flüssiger Stenografie füllte er die Seite mit elegant geschwungenen Notizen. Elegant, aber unentzifferbar: Er machte sich selbst etwas vor.
»Estelle Beck, einzige Tochter von Maggie Beck, wohnhaft Black Bank Farm, wird dringend gebeten, schnellstmöglich das Tower Hospital in Ely aufzusuchen. Ihre Mutter befindet sich in kritischem Zustand. Ich wiederhole diesen dringenden Aufruf ...«
Dryden kappte die Verbindung, ohne Humph zu danken. Er verscheuchte eine Fliege, die sich auf Lauras Arm niedergelassen hatte. Dann durchquerte er das große, mit Teppichboden ausgelegte Zimmer und bog seine hundertneunzig Zentimeter Körpergröße zurecht, bis sie auf dem Krankenhausstuhl Platz fanden, der neben dem einzigen weiteren Bett des Zimmers stand. Darin lag zusammengerollt und keuchend Maggie Beck.
»Wieso jetzt?«, fragte er niemand im Besonderen.
Es hatte vier Radioaufrufe gegeben, ein jeder so eindringlich wie der gerade gehörte. Er hoffte, die Tochter käme bald. Er hatte erst sehr wenige Menschen sterben sehen, aber die Symptome waren schockierend eindeutig. Sie hielt sich beide Hände an die Kehle, wo sie sich in ein Papiertuch krallten. Die Haare klebten ihr am Schädel. Den Atem schien sie aus einem Abgrund tief unter sich zu schöpfen, und jeder einzelne Zug bedeutete eine Anstrengung, an der sie zugrunde zu gehen drohte. Ihre Haut war trocken und ohne Spannung – mit Ausnahme der einen, bläulichen Brandnarbe, die sich korkenzieherartig über eine Seite ihres Gesichts zog.
»Sie werden kommen«, sagte er in der Hoffnung, sie könne ihn hören.
Auf die seltsam distanzierte Art, in der er so gut wie alle seine Emotionen zeigte, hatte Dryden Maggie Beck lieb gewonnen. Als sein Vater in der Flut von 1977 gestorben war, zog Maggie, damals noch keine zwanzig und frisch verheiratet, zu ihnen, um sich seiner Mutter anzunehmen. Dryden war damals elf Jahre alt gewesen. Maggie hatte das freie Zimmer genommen und seiner Mutter über die Wochen bis zur richterlichen Untersuchung durch den Coroner und dem unerträglichen Nicht-Stattfinden eines Begräbnisses hinweggeholfen. Man hatte seinen Vater für ertrunken erklärt, nachdem er vom Welch-Damm fortgespült und seine Leiche nie gefunden worden war. Für seine Mutter war dies das Schlimmste, und Maggie half ihr, es zu ertragen. Dieser...




