E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Kelly Die verrückten Flanagans
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-641-11930-0
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Roman
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-641-11930-0
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Wer die Flanagans kennenlernt, wird seine eigene Familie für völlig normal halten
Nachdem Collie mit ansehen muss, wie sein draufgängerischer Bruder Bingo ertrinkt, plagen den sanftmütigen Jungen schlimme Schuldgefühle. Wieso ausgerechnet Bingo? Dieselbe Frage scheint sich auch seine Familie zu stellen: Collie wird das Gefühl nicht los, dass sie seinen eigenen Tod besser hätte verschmerzen können als den des heißgeliebten Bruders. Nicht gerade die besten Voraussetzungen für ein normales Leben ...
Elizabeth Kelly wurde in Brantfort, Kanada, geboren und studierte an der University of Toronto Anglistik. Sie arbeitet als Redakteurin und wurde mehrfach mit dem Canadian National Magazine Award ausgezeichnet. Ihr Debüt Die verrückten Flanagans erschien 2009 bei Blessing. Elizabeth Kelly lebt in einem Dorf in der Nähe von Ontario.
Weitere Infos & Material
1
Ich bin auf Martha’s Vineyard aufgewachsen, in einem Haus, so groß und laut wie eine Parade – der Lärm hallte die gesamte Küstenlinie Neuenglands entlang. Pfeifende Orgeln, wirbelnde Taktstöcke, schmetternde Trompeten, alles klopfte und brummte, orchestriertes Chaos. Aber wir konnten es uns leisten. Meine Mutter war reich, das Geld ihres Vaters fiel wie Konfetti vom Himmel und legte sich wie ein weicher Schleier über die alltäglichen Konsequenzen des Krachs. Wir lebten auf einigen abgeschiedenen Quadratkilometern Land am Südufer von Chilmark. Den Sand schüttele und kratze ich mir immer noch aus den Haaren und von den Fußsohlen, Sand, der in jeder Ritze des alternden Holzbodens unseres großen, verwitterten, mit Schindeln verkleideten und gedeckten Kapitänshauses saß. Der Privatstrand am Squibnocket Beach war unser Vorgarten, raue, donnernde Brandung, Monsterwellen, die den Horizont verdunkelten. Wenn die Surfer an stürmischen Tagen fast in unserer Küche landeten, jagte sie mein Onkel Tom mit einem Sperrfeuer aus Obszönitäten wieder davon. Tom war der ältere Bruder meines Vaters. Ich würde ihn unseren Hausirren nennen, auch wenn um diesen Titel immer hart gerungen wurde. In unserer Familie, in der Streitigkeiten und Meinungen so zahllos waren wie die Spuren der Strandläufer im Ufersand, gab es Scharmützel in Hülle und Fülle. Kein Spatz konnte vom Baum fallen, ohne dass dies die wüst aufeinanderprallende Kommentierung durch Ma, Pop und Onkel Tom auslöste, den erwachsenen Mitgliedern meiner engsten Familie. In der Ferne ragte drohend, als konstante, mahnende Größe, mein Großvater mütterlicherseits auf, Peregrine Lowell, ein Mann von gewaltiger Spannweite, den wir den »Falken« nannten, und der hoch oben in seinem Horst wohnte, immer bereit, herabzustürzen und kleinere Vögel im Sturzflug zu erledigen. Mein jüngerer Bruder Bing und ich wuchsen mit dem dissonanten, im Hintergrund kontinuierlich mitlaufenden Soundtrack dieses kollektiven Aufruhrs heran – nicht gerade eine Melodie, die irgendwer mitpfeifen konnte. Diese fantastischen Flanagans, sie existieren gleich jenseits meiner Zimmertür, Technicolor-Figuren in einer, so hat es den Anschein, gesonderten Comicstrip-Version meines Lebens. Verglichen mit ihnen, war ich so primitiv wie ein Strichmännchen, ich war das häusliche Pendant einer moderaten Stimme in einem geteilten Irland. Mein Flanagan-Blut – katholisch wie Abendmahlwein – war laut Pop dank den Lowells, dem nördlichen angloirischen Stamm meiner Mutter, durch eine Infusion protestantischer DNA auf zellulärer Ebene korrumpiert. Erinnerungen an mein Zuhause verfolgen mich, wohin ich auch gehe, sie kleben mir an den Hacken, hecheln nach Aufmerksamkeit, so unerbittlich wie all die Hunde, die meine Mutter über die Jahre um sich versammelt hatte. Nasser Hund und salzige, belebende, allgegenwärtige Seeluft – meine Vergangenheit klammert sich in großen Geruchswellen an mich, als schleifte ich sie wie einen verfilzten Schwanz hinter mir her. Das heruntergekommene Haus und die drängelnde Hundemeute – wenn man nur versuchte, von der Haustür bis ins Wohnzimmer vorzudringen, glaubte man sich in eine Neuinszenierung des Falls von Saigon versetzt. Old English Mastiffs, Neapolitanische Mastiffs, Tibet-Mastiffs – die Burschen heulen den Mond an, bis dir die Seele zittert. Und dann noch Sykes, dieser gottverdammte Bullterrier. Über allem thronte meine Mutter wie eine verrückte, lockenköpfige, keltische Feenkönigin. Ihre opernhaften Sehnsüchte und Tiraden, ihre barbarischen Hass- und ihre überschwänglichen Gefühlsausbrüche dröhnten wie eine Leuchtturmglocke. Mein Name ist Collie Flanagan. Ma entschied sich für den Namen, nachdem sie auf die Bücher von Albert Payson Terhune gestoßen war, dem Typen, der Mein Hund Lad geschrieben hatte. Pop schwor, dass sie ihn während der ganzen Schwangerschaft in der Hoffnung gelesen hätte, ein Hundebaby zu gebären. Bei der Taufe kam es vor dem Altar zu einem Wortgefecht, als der Priester sich weigerte, mich nach einer Hunderasse zu nennen. Er sagte, es gebe keinen heiligen Collie, worauf Ma erwiderte, dass es verdammt noch mal einen geben sollte, und Pop verkündete, dass ich dann eben der erste sei. In Andover riefen sie mich Lassie. Sehr lustig. Meine Mutter wollte immer eine Tochter. Der Tag meiner Geburt, der 22. November 1963, wurde auch bekannt als der schlimmste Tag in Mas Leben – die Enttäuschung der Geburt eines Sohnes fiel zusammen mit dem Tod ihres Helden JFK. Sie zelebrierte ihren epischen Furor, indem sie am Strand ein Feuer machte und Pops geliebte Schallplattensammlung in Brand steckte – auf dem Treibholz zerschmolzen die lächelnden Gesichter von Jo Stafford und Perry Como. Sie warf sogar eine Dose Raid-Insektenspray ins Feuer, nur um ihren Zorn über dem Horizont explodieren zu hören. Neun Monate später, am dritten August, bekam sie einen zweiten Jungen, den sie nach einem Irischen Setter nannte, meinen Bruder Bing, der zu seinem Glück den Geburtstag mit ihrem anderen Idol teilte, dem britischen Kriegspoeten Rupert Brooke. Bevor sie mit Bing im Arm zum ersten Mal das Haus betrat, blieb sie trotzdem kurz stehen und riss aus dem Blumenkasten am vorderen Fenster alle rosa Geranien heraus. Ma, das muss gesagt werden, hatte die Gabe, selbst Blumen erzittern zu lassen. Sie war die einzige Frau im Haus, laut Onkel Tom die unvermeidliche Schlampe, ansonsten lebten wir in einer wenig kultivierten, maskulinen Hausgemeinschaft – sogar die Hunde waren männlich, die Kleinen pissten auf die Kissen, die Riesen sabberten fette Testosteronfäden. Man kann zweifelsfrei behaupten, dass meine Mutter und mein Großvater eine kuriose Beziehung pflegten. Sie konnte ihn nicht ausstehen, und er finanzierte kalt lächelnd ihre Verachtung. Manchmal glaube ich, dass er nur deshalb den Kontakt aufrechterhielt, weil er hoffte, das Geheimnis ihrer gegenseitigen Entfremdung zu entschlüsseln. Der Hass auf ihren Vater war meiner Mutter Lebenswerk und Studienobjekt, ihre Daddy-Promotion. Sie hatte Material über ihn gesammelt, solange ich zurückdenken kann. Auf den Stühlen in ihrem Arbeitszimmer stapelten sich die Forschungsergebnisse in Papierstößen, die so hoch wie der Esszimmertisch waren. An den Wänden hingen Tafeln und Schaubilder, auf denen die Nörgeleien von ehemaligen Angestellten, früheren Freunden und neidischen Konkurrenten verzeichnet waren. Da hingen Schwarz-Weiß-Fotos, geheime Zeugenaussagen und endlose Auflistungen ihrer persönlichen Beschwerden, die sie mit roter Tinte in Blockschrift auf die Wände gekritzelt hatte, ein perverser Wandschmuck, und alles für einen Schlüsselroman, an dem zu arbeiten sie behauptete und der den Titel Der Bastard trug. Der Protagonist, ein unermesslich reicher und mächtiger Zeitungsmogul, ermordet seine Frau und kommt damit davon. Dann setzt er den Rest seines Lebens daran, das Glück seiner Tochter zu zerstören. Der Tonfall meines Großvaters nahm immer eine gequälte und verdrossene Färbung an, wenn er auf sein einziges Kind zu sprechen kam. Wann immer Mas Name fiel, rechnete ich halb damit, dass er um eine letzte Zigarette bitten und gleichzeitig mit wegwerfender Handbewegung die Augenbinde ablehnen würde. In unserer Kindheit machte Ma uns glauben, dass sie ein interessanter Mensch sei, so wie zweifellos auch Stalin seine Familie dazu angehalten hatte, ihn für einen Exzentriker zu halten. Es dauerte lange, bis ich begriff, dass meine Mutter verrückt war – ihre grundlose Vendetta gegen den Falken nur Ausdruck der wahren Geschichte all dessen, was da in ihrem Innern brodelte. Pop war ein Herumtreiber, ein Trinker und ein Schürzenjäger, im Hauptberuf Ire, ein Bursche von durchwachsenem Stammbaum, den Ma auf der Straße aufgelesen hatte, weil sie verrückt nach seiner Haarfarbe gewesen war, die der eines rubinroten King-Charles-Spaniels ähnelte. »Es gibt nicht viel, was man für Geld nicht kaufen kann«, erzählte sie uns immer. »In der Sekunde, als ich ihn und das wie Sonne, Mond und Sterne glänzende Haar zum ersten Mal sah, wusste ich, dass ich mein ganzes Vermögen für das Privileg hergeben würde, jeden Morgen neben diesem prachtvollen Kopf aufwachen zu dürfen.« Nie sprach so viel Liebe aus Ma, wie wenn sie im Abstrakten schwelgte. Es war spätabends, als sie Pop das erste Mal sah. Er war betrunken und als Carmen Miranda verkleidet, kam gerade von einer Kostümparty und klammerte sich an einen Laternenpfahl. Sie kam gerade von einem Treffen marxistischer Sympathisanten. Ma sammelte Kommunisten wie andere Frauen Tupperware. Onkel Tom behauptete, Pop habe Ma wegen einer Wette geheiratet. Er sagte, Pop habe mit den berüchtigten Dolan-Brüdern, auch bekannt als »The Corrupters«, einen draufgemacht und auf der Kostümparty verkündet, er werde die erste Frau heiraten, die ihm auf der Straße über den Weg laufe. Pop – in seinem Carmen-Miranda-Putz, kaum fähig, sich auf den Beinen zu halten – torkelte also draußen herum, und da kam Ma. Er zog eine Banane aus seinem Kopfschmuck, bot sie ihr an und verzauberte sie laut Onkel Tom auf der Stelle. »Peachie ›Pittsburgh‹ McGrath wäre ihr um ein Haar zuvorgekommen. Das war vielleicht eine Dampfwalze – Unterhosen, so groß wie die Grafschaft Cork. Sie war gerade um die Ecke gebogen, stampfte direkt hinter eurer Mutter her. Charlie meinte, wenn er Peach erwischt hätte, dann hätte er wegen der Dolans die ganze Zeremonie über sich ergehen lassen und sich dann sofort umgebracht. Verheiratet und begraben an einem Tag.« »Stimmt das, Pop, dass du Ma wegen einer Wette geheiratet hast?«, fragte...




