Beiträge zu einer notwendigen Debatte
E-Book, Deutsch, 191 Seiten
ISBN: 978-3-8012-7002-5
Verlag: Dietz, J.H.W., Nachf.
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
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Eine fortschrittliche Vision von Europa Laurent Bouvet Eine »fortschrittliche Vision« von Europa zu haben, ist heute schwierig, wenn nicht gar unmöglich geworden. Die europäischen Völker selbst sehen Europa nicht mehr als einen Raum des Fortschritts oder auch nur der schlichten Verbesserung ihrer Lebensbedingungen an. Vor allem, wenn es um ihre Kinder geht, fällt es ihnen schwer, sich in eine europäische Zukunft hineinzuversetzen, auch wenn sie, in einer Welt, in der sich die Maßstäbe durch die Globalisierung in den letzten zwanzig Jahren geändert haben, die europäische Dimension weiterhin als die für die großen kollektiven Entscheidungen einzig zweckmäßige ansehen. Es wäre jedoch falsch und sogar gefährlich zu glauben, dass die europäischen Probleme vorübergehender Art und beispielsweise lediglich der Wirtschafts- und Finanzkrise geschuldet seien, die den Kontinent seit fünf Jahren heimsucht. In Wirklichkeit geht die europäische Krise viel tiefer. Sie resultiert zum einen aus dem Ende der »europäischen Welt«, so wie diese mehr oder weniger seit mehreren Jahrhunderten existierte, d. h. der Herrschaft Europas über die Welt vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis zum 20. Jahrhundert. Und sie resultiert zum anderen, weitaus mechanischer, aus dem Niedergang der »Methode«, mit der der Aufbau der Europäischen Gemeinschaft und dann der Europäischen Union erfolgte. In diesem allgemeinen Kontext steht die europäische sozialdemokratische Linke vor einem zusätzlichen Problem. Seit fast 40 Jahren hat sie, ohne mit der Wimper zu zucken, ein europäisches Einigungswerk unterstützt, das im faktischen Widerspruch zu dem steht, was diese Linke eigentlich ist und was ihre ureigene Identität darstellt: ein Aufbauwerk, das Punkt für Punkt dem entgegensteht, was die sozialdemokratische Linke in all diesen Jahren doch zu verteidigen vorgab! Dieses Paradoxon zwischen europäischem Credo und Grundprinzipien der Sozialdemokratie war bis Anfang der 1990er Jahre in einem eingeschränkten Europa, zweigeteilt in Ost und West, nicht allzu schmerzhaft, oder zumindest konnte man damit umgehen. Das ist inzwischen unmöglich geworden. Wir wollen hier die europäische Krise durch das Prisma des »sozialdemokratischen Problems« betrachten, um anschließend zu erörtern, welche Auswege möglich wären. Das europäische Paradoxon der Sozialdemokratie Würde man die europäischen Bürger fragen, welche der politischen Parteien in Europa die »europäischste« ist, dann käme bei vielen von ihnen sicherlich die Sozialdemokratie an erster Stelle oder zumindest gleichauf mit den Liberalen und den Christdemokraten. Die europäische Sozialdemokratie, die SPE, ihre nationalen Parteien, ihre großen Parteiführer – sie alle zählen seit über 30 Jahren zu denjenigen auf dem Kontinent, die am meisten von den Wohltaten des europäischen Einigungswerks überzeugt sind. Natürlich wollen sie es weiter verbessern, es beispielsweise »sozialer« oder gelegentlich im wirtschaftlichen Bereich interventionistischer gestalten, aber sie stehen voll und ganz hinter den wesentlichen Prinzipien seiner Entwicklung: Föderalisierung, Regionalisierung, Öffnung der Grenzen usw. Insbesondere unterstützten sie aktiv den Entwurf des Verfassungsvertrags 2005, der dann abgelehnt wurde. Das war jedoch nicht immer der Fall. Die europäischen Sozialdemokraten gehörten nicht zu denjenigen, die den Aufbau Europas initiierten. Keiner der »Gründerväter Europas« gehörte dieser politischen Familie an – sie waren Christdemokraten. Erst Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre, unter dem Einfluss einer neuen Generation politischer Führungspersönlichkeiten innerhalb und außerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) – allen voran Brandt, Mitterrand, Craxi, Palme und Kreisky – wurde die Sozialdemokratie wirklich »europäisch«, ausgehend von der Vorstellung einer »Erweiterung« auf andere Länder außer den sechs, die von Anfang an dabei waren, und der Schaffung einer Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE), die 1974 gegründet wurde. Grund für diese Entwicklung war vor allem, dass die politischen Führer, die damals in der europäischen Sozialdemokratie das Sagen hatten, zumeist von der Erfahrung des Kriegs geprägt waren. Sie sahen die Einigung Europas, wie sie von den »Gründervätern« der vorhergehenden Generation begonnen worden war, als einzige Möglichkeit an, Frieden und Wohlstand für alle zu gewährleisten, obwohl sich die wirtschaftlichen Proble-
me nach einer Phase des Wachstums und der Vollbeschäftigung bereits ankündigten. Diese historische Entwicklung hin zum Eintritt der Sozialdemokratie in das Lager der glühenden Verfechter der europäischen Einigung ging jedoch weder mit einer Neuorientierung ihrer Europapolitik einher noch mit einem intensiven Nachdenken darüber, wie, im Kontext einer liberalen, globalisierten Wirtschaft, eine wirklich europäische Sozialdemokratie – über die grundsätzlichen Forderungen hinsichtlich eines europäischen Sozialmodells und die Bewahrung des Wohlfahrtstaats hinaus – aussehen könnte. Noch immer sind die Eigenheiten der einzelnen Parteien auf nationaler Ebene stark ausgeprägt, und auch an Divergenzen, beispielsweise bei wirtschafts- oder verteidigungspolitischen Fragen, mangelt es nicht, wie 1999 anlässlich der Veröffentlichung des »Schröder-Blair-Manifests« in spektakulärer Weise zu beobachten war. Aber das Problem der europäischen Sozialdemokratie beschränkt sich nicht auf diese Divergenzen, und es geht um deutlich mehr als die Frage der Existenz oder Nicht-Existenz einer europäischen sozialdemokratischen Partei, einer bürokratischen Hülle, die jeglicher Substanz entbehrt. Es geht um die Definition der Sozialdemokratie an sich. Versucht man nämlich, die Sozialdemokratie mit wenigen Worten zu charakterisieren, so gelangt man zu drei Schlüsselfaktoren. Erstens ist die Sozialdemokratie durch eine spezifische Art des »Kompromisses« zwischen Kapital und Arbeit gekennzeichnet, in Form einer Balance zwischen den gesellschaftlichen Kräften und einer Regulierung dieses Verhältnisses durch den Staat, vor allem durch seine weiterentwickelte Rolle als Wohlfahrtsstaat. Die Sozialdemokratie ist, zweitens, integraler Teil des demokratischen Systems, ein Umstand, der ihre Stellung im Herzen der Linken und der Arbeiterbewegung – gerade auch im Gegensatz zum Kommunismus – historisch definiert. Die Sozialdemokraten akzeptieren die Formen der liberalen Demokratie und beziehen ihre Legitimität aus allgemeinen Wahlen, auch wenn die Veränderung der Gesellschaft ihr Ziel bleibt. Schließlich ist die Sozialdemokratie im nationalen Rahmen verankert. Sie wirkt innerhalb genau definierter, ökonomisch halb offener Grenzen. Dies ermöglicht eine weitestgehende Praktizierung von Demokratie und ein hohes Maß an Solidarität, zugleich jedoch auch eine Form fortschrittlicher staatlicher Intervention in die Wirtschaft nach keynesianischen Prinzipien. Heute erscheint die EU mit Blick auf diese drei Merkmale als das exakte Gegenteil des sozialdemokratischen Entwurfes. Anstelle des »sozialdemokratischen Kompromisses« findet man eine free-market economy under the rule of procedural law vor, d. h. ein Wirtschafts- und Regulierungskonzept, das nicht sozialdemokratisch, sondern liberal und angelsächsischen Ursprungs ist. Genauso problematisch ist es, selbst für den wohlwollendsten Beobachter, die europäische Governance (von Regierung kann man nicht sprechen!) als demokratisch zu bezeichnen, solange die Rolle des Parlaments und die politische Verantwortung der Kommission begrenzt sind. Und hinsichtlich des Nationalstaats ist die von den »Gründervätern« gewollte Schaffung eines »postnationalen« Raums nicht nur eine philosophische Antithese zur nationalen Idee, sondern auch ein mächtiges Instrument im Dienste seiner Zerstörung von oben (Europäische Union) ebenso wie von unten (Regionen) im Namen des Kampfes gegen den Nationalismus. Diese Widersprüche wurden innerhalb der europäischen Sozialdemokratie aber niemals wirklich analysiert, trotz der Schwierigkeiten, vor denen sie in jeder Phase ihrer Entwicklung stand – weder in den 1970er Jahren, als Optimismus vorherrschte, noch in den 1990er Jahren, als immer mehr Probleme auftraten. Weder die Währungsintegration mit dem Euro noch die Erweiterung in den letzten zwanzig Jahren führten zu irgendeiner ernsthaften Diskussion innerhalb der sozialdemokratischen Parteien des Kontinents über die Orientierung des europäischen Einigungswerks. Europäismus wurde innerhalb dieser Parteien immer stärker zu einem Dogma. Wenn Politiker aus der Sozialdemokratie – wie z. B. Jacques Delors von 1985–1995 – für europäische Fragen verantwortlich waren oder wenn die sozialdemokratischen Parteien selbst wie Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre in einer ausreichend großen Anzahl von Ländern an der Macht waren, um die europäische Einigung beeinflussen zu können, dann trugen sie dazu bei, diese europäische »Integration« entgegen allen sozialdemokratischen Grundsätzen zu stärken! So haben die französische Parti Socialiste und die deutsche SPD sämtliche Verträge, die diese liberale, nicht demokratische und post-nationale europäische Einigung begründeten und konsolidierten, von der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 bis zum Vertrag von Lissabon 2007 zumindest unterstützt, wenn nicht gar ausgearbeitet. Dies war auch beim Vertrag über eine Verfassung für Europa 2004 der Fall, der unter anderem in Frankreich per Referendum abgelehnt wurde. Übrigens war diese Zustimmung zum europäischen Einigungswerk und seinen Prinzipien der hauptsächliche...