Keller | Wie man einen Tiger fängt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 350 Seiten

Reihe: Dragonfly

Keller Wie man einen Tiger fängt


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7488-5049-6
Verlag: Dragonfly
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 350 Seiten

Reihe: Dragonfly

ISBN: 978-3-7488-5049-6
Verlag: Dragonfly
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Magie des Geschichtenerzählens

Als Lily mit ihrer Familie zu ihrer Halmoni zieht, ihrer kranken Großmutter, taucht auf einmal ein Tiger auf. Ein sprechender Tiger. Ein magischer Tiger. Der Tiger aus Halmonis koreanischen Märchen. Nur Lily kann ihn sehen. Er behauptet, dass Halmoni vor vielen Jahren Geschichten gestohlen und sie in Gläser gesperrt hat. Und er schlägt Lily einen Handel vor: Wenn sie die Geschichten zurückholt, wird ihre Großmutter wieder gesund. Das Angebot klingt verlockend, doch wenn Lily eines weiß, dann, dass man magischen Tigern niemals trauen sollte ...

'Tae Keller ist eine Autorin, von der ich unbedingt mehr lesen möchte!' - Bettina Stiebel, DEIN SPIEGEL

»Eine mythische Geschichte, in der ganz viel Lebensweisheit steckt und die sensibel schwere Themen wie Mut, Freundschaft, Liebe, Unsterblichkeit, Tod und das Loslassen aufgreift. Für nachdenkliche Kinder ab elf Jahren und ihre Eltern.« , 10.09.2021

»Ein Buch, das mich überrascht, fasziniert, getröstet und begeistert hat.« »Keller erzählt poetisch, immer weise, anrührend und an keiner Stelle schwer.« Birgit Franz, , 01.2022



Tae Keller wuchs in Honolulu, Hawaii, auf, wo sie schon früh mit dem Schreiben begonnen hat. Nach dem Studium am Bryn Mawr College zog sie nach New York City, um dort in der Verlagsbranche zu arbeiten. Heute lebt sie mit ihrem sturköpfigen Yorkshire Terrier in Seattle.

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KAPITEL 1

Ich kann mich unsichtbar machen.

Das ist eine Superkraft oder zumindest eine geheime Kraft. Aber nicht so wie im Film – ich bin keine Superheldin oder so. Helden sind die Stars, die den Tag retten. Ich … verschwinde einfach.

Zuerst wusste ich nicht, dass ich diese Magie besitze. Ich habe nur gemerkt, dass die Lehrer meinen Namen vergessen und andere Kinder nicht mit mir spielen wollen, und einmal, gegen Ende der Vierten, hat ein Junge kopfschüttelnd zu mir gesagt: »Hey, wo kommst du denn her? Dich hab ich hier noch nie gesehen.«

Damals habe ich diese Unsichtbarkeit gehasst. Aber jetzt weiß ich, dass es an meiner Magie liegt.

Sam, meine große Schwester, bestreitet das – in ihren Augen ist es keine Superkraft, sondern einfach Schüchternheit. Aber Sam kann auch ganz schön gemein sein.

Dabei ist diese Kraft manchmal sehr nützlich. Zum Beispiel wenn Mom und Sam streiten. So wie jetzt.

Ich hülle mich in meine Unsichtbarkeit und lehne meine Stirn ans Autofenster, schaue zu, wie die Regentropfen an der Scheibe unseres alten Kombis herunterlaufen.

»Halt lieber an«, sagt Sam zu Mom.

Oder eigentlich sagt sie es zu ihrem Handy, weil sie gar nicht hochschaut. Sie sitzt auf dem Beifahrersitz, die Füße gegen das Handschuhfach gestemmt, die Knie an die Brust gezogen – ihr ganzer Körper wickelt sich um das leuchtende Display.

Mom seufzt. »Also bitte. Wir müssen nicht anhalten. Das ist nur ein bisschen Regen.« Aber sie lässt die Scheibenwischer schneller laufen und tippt auf die Bremse, bis wir nur noch im Schneckentempo weiterrollen.

Der Regen fing an, sobald wir die Grenze zum Staat Washington überschritten hatten, und es wird immer schlimmer. Wir kriechen am handgemalten Ortsschild mit der Aufschrift Sunbeam vorbei. Willkommen in Halmonis Kaff. Der Name ist ein Witz, denn Sunbeam ist ein wahres Regenloch.

Sam schmatzt mit ihren schwarz geschminkten Lippen. »Kay.«

Das ist alles. Nur drei Buchstaben.

Sie tippt auf ihrem Display herum, schickt Wortblasen und Emojis an alle ihre Freundinnen zu Hause.

Was wohl in diesen Nachrichten steht? Manchmal, wenn ich mich lasse, stelle ich mir vor, dass sie mir schreibt.

»Sam, es wäre schön, wenn du das alles hier mal etwas positiver sehen könntest.« Mom stößt ihre Brille so wütend die Nase hoch, als wäre die an allem schuld.

»Das kann jetzt nicht dein Ernst sein!« Sam schaut von ihrem Handy auf – endlich – und funkelt Mom böse an.

So fängt es immer an. Ihre Auseinandersetzungen sind laut und explosiv. Sie verheizen sich gegenseitig.

Ich hüte mich dazwischenzugehen. Ich drücke meine Fingerspitze an die regennasse Fensterscheibe und ziehe eine Linie zwischen den Tropfen, als wollte ich die Punkte miteinander verbinden. Meine Augenlider werden schwer. Ich bin so an diese Streitereien gewöhnt, dass es fast wie ein Wiegenlied für mich ist.

»Dir ist aber schon klar, wie unmöglich das alles von dir ist? Ich meine, das ist so was von nicht okay …«

»Sam.« Mom verkrampft sich komplett – ihre Schultern sind steif, ihre Nackenmuskeln angespannt.

Ich halte den Atem an, denke: unsichtbar, unsichtbar, unsichtbar.

»Nein, im Ernst«, giftet Sam weiter. »Nur weil dir plötzlich einfällt, dass du mehr Zeit mit Halmoni verbringen willst, heißt das noch lange nicht, dass du unser ganzes Leben auf den Kopf stellen musst. Ich hatte Pläne für diesen Sommer – was dir natürlich völlig egal ist. Du hast uns noch nicht mal rechtzeitig vorgewarnt.«

In diesem Punkt muss ich Sam recht geben. Mom hat uns erst vor zwei Wochen gesagt, dass wir für immer von Kalifornien wegziehen. Und ich werde mein Zuhause dort auch vermissen. Meine Schule, die Sonne, die Sandstrände – so anders als die raue Felsenküste von Sunbeam.

Ich denke nur einfach nicht daran.

»Ich dachte, ihr freut euch, wenn ihr mit eurer Großmutter zusammen sein könnt«, sagt Mom scharf. Der Regen ist noch stärker geworden und nimmt ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Ihre Finger umklammern das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortreten. Bei diesem Wetter fahren wir alle nicht gern Auto, seit Dad gestorben ist.

Ich konzentriere mich auf das Lenkrad und kneife die Augen leicht zusammen, während ich im Stillen gute Gedanken aussende, so wie ich es von Halmoni gelernt habe.

»Lenk jetzt nicht ab.« Sam zerrt an der einzelnen weißen Strähne in ihrem schwarzen Haar. Sie ist immer noch sauer, aber schon etwas abgekühlt. »Ich bin gern mit Halmoni zusammen, das weißt du genau. Nur eben nicht hier. Ich will einfach nicht hier sein.«

Halmoni hat uns immer in Kalifornien besucht. In Sunbeam waren wir seit meinem siebten Geburtstag nicht mehr. Ich spähe durch die Windschutzscheibe. Die Landschaft, die an uns vorbeigleitet, ist friedlich. Graue Steinhäuser, grünes Gras, graue Restaurants, grüner Wald. Die Farben von Sunbeam verschwimmen ineinander – Grau, Grün, Grau, Grün – und dann, plötzlich: Orange, Schwarz.

Ich richte mich auf, versuche, die neuen Farben einzuordnen.

Ein Tier, das mitten auf der Straße liegt.

Eine riesige Katze. Reglos, den Kopf auf den Pfoten.

Nein. Keine Katze. Ein Tiger.

Der Tiger hebt den Kopf, als wir näher kommen. Er muss aus einem Zirkus oder Zoo ausgebrochen sein. Und wahrscheinlich ist er verletzt. Warum sollte er sonst im strömenden Regen auf der Straße liegen?

Eine instinktive Angst krampft mir den Magen zusammen, und mir wird schlecht. Reiseübelkeit. Aber egal. Wenn ein Tier verletzt ist, müssen wir ihm helfen.

»Mom.« Ich unterbreche den Streit der beiden, werfe mich nach vorne. »Ich glaube … ähm … da ist …«

Jetzt, von Nahem, sieht der Tiger nicht verletzt aus. Er gähnt, entblößt seine scharfen, blendend weißen Zähne. Dann steht er auf, langsam, immer nur eine Klaue, eine Pfote, ein Bein auf einmal.

»Schluss jetzt.« Moms Stimme klingt angespannt, ihr Ärger wegen Sam überträgt sich auf mich, was unfair ist, aber nach der achtstündigen Autofahrt hat sie einfach keine Nerven mehr. »Alle beide. Bitte. Ich muss mich aufs Fahren konzentrieren.«

Ich beiße mir in die Wange. Was redet sie da? Mom muss die Riesenkatze doch sehen. Auch wenn sie die ganze Zeit von Sam abgelenkt ist.

»Mom«, murmle ich und warte darauf, dass sie auf die Bremse tritt. Macht sie aber nicht.

Das Problem mit meiner Unsichtbarkeit ist, dass sie sich manchmal nicht schnell genug verflüchtigt. Es dauert eine Weile, bis die Leute mich wieder wahrnehmen – von zuhören ganz zu schweigen.

Zuhören. Das hier ist kein Tiger wie die im Zoo. Er ist riesig, so groß wie unser Auto. Das Orange in seinem Fell glüht förmlich, und das Schwarz ist so finster wie eine mondlose Nacht.

Ein Tiger, der in Halmonis Geschichten gehört.

Ich beuge mich vor, bis mir der Sicherheitsgurt in die Rippen schneidet. Mom und Sam streiten immer noch. Aber ihre Worte verebben zu einem leisen Dröhnen, weil ich ganz auf den …

Der Tiger hebt seinen gewaltigen Kopf – und schaut mich an. Er sieht mich.

Das große Katzentier zieht eine Augenbraue hoch, als wollte es mich herausfordern.

Ich schnappe nach Luft, stolpere über meine eigene Zunge. »Mom … halt«, stoße ich hervor.

Mom redet weiter auf Sam ein, also rufe ich, lauter diesmal: »HALT

Endlich nimmt Mom mich wahr. Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrt sie mich im Rückspiegel an. »Lily? Was ist los?«

Sie bremst nicht, hält nicht an. Wir fahren weiter.

Näher …

Immer näher …

Und näher …

Ich kann nicht atmen, weil wir bereits viel zu dicht dran sind.

Ein dumpfer Schlag ertönt unter uns, und ich kneife die Augen zu. Meine Schläfen pochen. Meine Ohren dröhnen. Wir haben ihn überfahren.

Aber wir rollen weiter.

Als ich die Augen wieder öffne, fällt mein Blick auf Sam, die vorne sitzt, die Arme verschränkt, ihr Smartphone vor ihren Füßen. »Tot«, verkündet sie. »Schluss, aus.«

Mein Herz tobt wie ein wildes Tier in meiner Brust, während ich die Straße absuche, nach dem Horror Ausschau halte, den ich nicht sehen möchte.

Aber da ist nichts.

Mom presst ihre Kiefer zusammen. »Sam, bitte wirf nicht dein teures Smartphone herum.«

Ich starre sie verwirrt an. War dieser dumpfe Schlag etwa nur Sams Handy? Aber dann …

Ich drehe mich nach dem Tiger um, sehe jedoch nur Regen und Straße. Die Riesenkatze ist verschwunden.

»Lily?« Mom bremst den Wagen noch mehr ab. »Ist dir schlecht? Soll ich anhalten?«

Ich lasse meinen Blick ein zweites Mal über die Straße huschen, aber wieder nichts. »Nein, alles gut«, sage ich.

Mom lächelt erleichtert. Ich bin nie schwierig. Ich mache keinen Ärger. »Halt noch ein bisschen durch. Wir sind bald bei Halmoni.«

Ich nicke, versuche, normal zu sein. Als ob nichts wäre. Obwohl mein Herz wilde Saltos schlägt. Ich kann Mom nichts von dem Tiger sagen. Sie würde glauben, dass ich dehydriert bin oder Fieber habe.

Und vielleicht stimmt das auch. Ich drücke meine Handfläche an meine Stirn, kann aber nichts feststellen. Vielleicht werde ich wirklich krank. Oder vielleicht bin ich einfach kurz eingeschlafen.

Ich meine, wie soll das...



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