E-Book, Deutsch, 230 Seiten, Gewicht: 1 g
Kellenberger Wo liegt die Schweiz?
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-03810-042-3
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gedanken zum Verhältnis CH – EU
E-Book, Deutsch, 230 Seiten, Gewicht: 1 g
ISBN: 978-3-03810-042-3
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jakob Kellenberger (* 1944) Dr. phil., wählte 1974 die diplomatische Laufbahn, die von der Gestaltung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union geprägt war. 1992-1999 war er Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten, 2000-2012 Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Heute lehrt er an der ETH Zürich, der Universität Salamanca und am Hochschulinstitut für Internationale Studien und Entwicklung in Genf.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Internationale Beziehungen Internationale Zusammenarbeit (Recht, Kultur, Umwelt etc.)
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politische Studien zu einzelnen Ländern und Gebieten
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Internationale Beziehungen Europäische Union, Europapolitik
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Einführung
Die schweizerische Europadiskussion verläuft oft in Unkenntnis der geografischen Lage des Landes und deren Folgen. Das kann zu ärgerlichen Missverständnissen über die eigenen Möglichkeiten und Grenzen führen. Der Buchtitel nimmt diese Feststellung auf. Der Widerstand gegen eine offene Auseinandersetzung darüber ist verständlich, obwohl sich das Land zur Lage im heutigen Europa eigentlich nur beglückwünschen kann. Diese Auseinandersetzung ist nicht zu trennen von der Beschäftigung mit Grössenordnungen und gegenseitigen Abhängigkeiten. Das bereitet Mühe, besonders uns Schweizern: Bald schrumpfen wir uns peinlich klein, bald blasen wir uns auf, was noch fast peinlicher ist.
Vor 25Jahren herrschte eher die Schrumpf-, heute eher die Aufblasphase. Die bösen Schwankungen versperren uns emotional den Weg zum normalen Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein eines europäischen Landes. Störungen können durchaus harmlose Formen annehmen und treten in allen Ländern auf. Eine eher harmlose Störung liegt vor, wenn sich der Selbstwert in erster Linie am Pro-Kopf-Einkommen oder an der Wettbewerbsfähigkeit misst, die dem Land von irgendwelchen, selten uneigennützigen Publikationen zugeordnet wird.
Die Schwierigkeit, die angemessene innere Temperatur zu finden, äussert sich gerne in dem, was ich als ruppigen «Dreitakt» zu bezeichnen pflege: Ein zuvor fast zum Identitätsmerkmal verklärter Gegenstand gilt als unverhandelbar; drohen als Folge der Unverhandelbarkeit grosse wirtschaftliche Nachteile, wird er verblüffend rasch verhandelbar. Die rhetorische Wiederaufrüstung nach Aufgabe des Unverhandelbaren und die Feier der Kontinuität im sich wandelnden Umfeld folgen auf dem Fuss. Von daher ist es durchaus stimmig, wenn im Parlament bald ein Souveränitätsgesetz behandelt werden soll, nachdem Washington die Grenzen der Selbstbestimmung äusseren Handelns im Steuerbereich unmissverständlich deutlich gemacht hat. Das Risiko hat nach den gemachten Zugeständnissen abgenommen, dass der Entscheid zwischen Lieferung von Kundendaten und möglichem Konkurs einer Grossbank so bald wieder gefällt werden muss. Das Souveränitätsgesetz kommt spät für die aussenwirtschaftliche Anwendung, aber vielleicht nicht für interne souveränitätspolitische Aufrüstungsversuche. Das «integrale» Bankgeheimnis gehört der Vergangenheit an. Die Weissgeldstrategie ist keine Erfindung aus einer schweizerischen Leidenschaft. Eine breite abstrakte Souveränitätsdiskussion kann die Erinnerung an die letzten Jahre doch in ein milderes Licht tauchen. Der Dreitakt wird nicht ungern gekrönt von politischen oder medialen Aufrufen zum Selbstbewusstsein. Die Aufrufe erfolgen in der Regel, wenn sich die gröbste Gefahr verzogen hat, weil andere die dafür notwendigen Zugeständnisse gemacht haben.
Diese Stimmung und diese Gewohnheiten erschweren die richtige Einschätzung der eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Sie erklären auch die Langeweile aus den immergleichen Wort- und Propagandakämpfen, die das Verhältnis Schweiz – EU zum Gegenstand haben. Entwicklungen im unmittelbaren Umfeld der Schweiz wecken, wenn überhaupt, beschränktes Interesse und spielen eine untergeordnete Rolle im Vergleich zum Kampf mit Begriffen und Redensarten, die als Mittel zum Verständnis tatsächlicher Verhältnisse an Bedeutung eingebüsst oder längst ausgedient haben. Das beschränkte Interesse für die europäische Wirklichkeit lädt ein, sich mit der geografischen Lage des Landes und deren Bedeutung zu befassen. Bürger und Bürgerinnen müssen tatsächlich auf gelegentliche Abstimmungen warten, um zu erfahren, dass die Schweiz gleich viele Güter in die Lombardei exportiert wie nach ganz China. Es hat unter anderm damit zu tun, dass die Schweiz keine Insel im südchinesischen Meer ist,1 obwohl der Umzug manch einem Politiker gefallen könnte, der sich in autoritäreren Räumen wohler fühlt. Das Buch handelt also auch vom Prinzip der Nähe.
Entstanden ist dieses Buch in erster Linie aus dem Wunsch, Zusammenhänge in Erinnerung zu rufen oder bewusster zu machen. Es geht um aussenpolitische Zusammenhänge und solche zwischen Innen- und Aussenpolitik. Es geht um Zusammenhänge, die bald mit Absicht, bald aus Unkenntnis im Dunkeln blieben. Manche Kritik am Beschluss des Bundesrats, im Herbst 1991 den EU-Beitritt als neues Ziel zu setzen und im Mai 1992 Beitrittsgesuche zu den damals drei Europäischen Gemeinschaften (EG) einzureichen, ist nur aus Unkenntnis wichtiger Zusammenhänge erklärbar. Dazu gehören die europäischen Entwicklungen seit 1989 und der Verlauf der EWR-Verhandlungen. Wer sich für die Verknüpfung von Inkrafttreten und Geltungsdauer der Verträge interessiert, die unter der Bezeichnung Bilaterale I segeln, wird sich etwas Zeit für die damaligen innenpolitischen Entwicklungen in der Schweiz und die Verhandlungsgeschichte nehmen müssen.
Das Buch will der Spur einer ungewöhnlichen Situation nachgehen. Ungewöhnlich ist die Situation, dass die Schweiz mit ihrer geografischen Lage und Geschichte nicht Mitglied der Europäischen Union (EU) ist. Wie konnte erreicht werden, dass sich im Bewusstsein vieler Köpfe der natürliche Weg als der ungewöhnliche, als der abenteuerliche, im Extremfall als der existenzgefährdende festsetzte? Sich mit Geschichtsdeutungen und Begriffsturnen in diesem Zusammenhang zu befassen, ist zwingend, wie alt und teilweise überholt die Begriffe auch sind, an denen geturnt wird. Es ist keine geringe Leistung, eine weitgehend zur europäischen Geschichte parallel laufende Schweizer Geschichte als grundsätzlich gegenläufig darzustellen und für die Deutung noch Abnehmer zu finden. Der Gegenläufigkeitszauber schweizerischer Geschichte im Verhältnis zur europäischen ist ein Thema. Ich finde es ungewöhnlich, dass die Schweiz nicht Mitglied der EU ist. Einem seit Jahrzehnten mit Unterbrüchen herrschenden Denk- und Deutungsmuster wird ein anderes zur Seite gestellt. Viel mehr wird nicht erwartet, als dass das zweite das erste leicht durchlüftet.
Wenn Wirklichkeit Wirkungsgeschichte ist – und das ist sie auch –, dann spielen die Begriffe, mit denen wir uns mit der EU auseinandersetzen, eine wichtige Rolle. Wer über Begriffe, Redensarten und Bilder bestimmt, die im Verhältnis zur EU zur Anwendung kommen, übt einen starken Einfluss auf die Wahrnehmung europäischer Wirklichkeit aus. Souveränität innenpolitisch bezeichnet auch Macht und Fähigkeit zu bestimmen, worüber und worüber nicht geredet wird und wie geredet wird über das, worüber geredet werden darf. Das siebte Kapitel ist mir entsprechend wichtig, auch im Wissen darum, dass die Weichen in der Schweiz auf absehbare Zeit gestellt sind.
Leserinnen und Leser werden spätestens im neunten Kapitel feststellen, dass ich die Schaffung der EU als das grösste politische Projekt der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts ansehe. Diese Wertung hängt damit zusammen, dass ich Frieden für wichtig und nicht für selbstverständlich halte, vor allem nicht in Europa. Die EU hat mit ihrer Erweiterungsbereitschaft zur Festigung von Demokratie und Rechtsstaat in Europa und, trotz aller Schwierigkeiten, auch zur Förderung des Wohlstands entscheidend beigetragen, namentlich mit der fünften Erweiterung. Mit «entscheidend» meine ich unvergleichlich viel mehr als jede andere europäische Organisation. Die gelegentliche Leistung Guter Dienste lässt sich mit der Mitgliedschaft in einer solchen Gemeinschaft nicht vergleichen. Die Mitgliedschaft würde die Dienste überdies nicht verunmöglichen.
Ohne gelegentliche Ausflüge in die Geschichte kann ich es nicht machen, wird doch oft auch historisch argumentiert, wenn Empfehlungen zum Verhältnis zwischen der Schweiz und der Europäischen Union abgegeben werden. Wie gleichläufig oder wie gegenläufig verlief die Geschichte in Europa im Allgemeinen und auf dem heutigen Gebiet der Schweiz im Besonderen? Auch Geschichte auf dem Gebiet der Schweiz kann verschieden dargestellt werden, mit verschiedenen Zwecken. Der Wille zur Wahrhaftigkeit kann wie anderswo hinter die Zwecke zurücktreten. Die Dreiteilung zwischen dem losen Staatenbund der Alten Eidgenossenschaft, den Umwälzungen zwischen 1798 und 1848 und dem Bundesstaat scheint mir vor Missbrauchsversuchen den besten Schutz zu bieten. Emotionale Entfremdung der Schweiz von der EU darf nicht der Zweck der Geschichtsdarstellung sein. Wir handeln von der Geschichte eines europäischen Gebiets betroffen, beeinflusst und geprägt von europäischen Entwicklungen.
Was missfällt mir am gegenwärtigen Zustand der EU? Es ist die Unlust und/oder der Unwille, für die Zukunft dringende und wichtige innere Verhältnisse zu klären. Die Klärung der Beziehung zu Grossbritannien ist besonders überfällig. Wohlklingende Wortmissbräuche wie Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP) führen Bürger über den tatsächlich erreichten Integrationsstand in der EU in die Irre. Sie hätten vielmehr ein Anrecht zu wissen, dass der Wunsch nach einer GASP gerade nicht dem Wunsch aller Mitgliedstaaten entspricht. Wache Beobachter werden rührende Zeichensetzungen und gelegentliche Beschlüsse über zivile und militärische Missionen nicht mit einer GASP verwechseln. Interessieren könnte sie immerhin die Frage, wo Zeichen gesetzt werden und wo nicht und weshalb wo nicht. Sie werden die so beliebten Zeichensetzungen und gelegentlichen Beschlüsse über zivile und miltärische Missionen auch nicht mit einer GASP verwechseln. Der Emanzipationsbedarf der aussen- und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten von den USA ist unübersehbar, vom Nahen Osten bis zu den Beziehungen zur Russischen Föderation. Eine Partnerschaft schliesst dies nicht aus, aber bitte auf Augenhöhe. Der Weg vom gegenwärtigen...