E-Book, Deutsch, Band 1, 432 Seiten
Reihe: Die Let-It-Be-Reihe
Kellen All That We Never Were (1)
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-641-31754-6
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman - TikTok made me buy it!
E-Book, Deutsch, Band 1, 432 Seiten
Reihe: Die Let-It-Be-Reihe
ISBN: 978-3-641-31754-6
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Leah Jones liebte ihr Leben. Doch seit dem plötzlichen Verlust ihrer Eltern kommt sie morgens kaum aus dem Bett. Ihr Bruder ist ihr einziger Halt, bis er aus beruflichen Gründen wegzieht und Leah das Gefühl hat, vollkommen allein zu sein. Da beschließt Axel Nguyen, der beste Freund ihres Bruders, sie bei sich aufzunehmen. Er ist fest entschlossen, die Mauern einzureißen, die sie um sich herum errichtet hat. Womit er nicht rechnet, ist, dass er bald mehr als Freundschaft für Leah empfindet. Die Anziehung zwischen ihnen wird immer größer, doch um ihr ein besseres Leben zu ermöglichen, ist Axel bereit, alles zu tun. Selbst wenn es bedeutet, Leah erneut das Herz zu brechen.
Alice Kellen ist eine internationale Bestsellerautorin. Sie schreibt Geschichten über universelle, übergreifende Themen wie Liebe, Freundschaft, Unsicherheiten, Verlust und der Sehnsucht nach einer besseren Zukunft. Mit ihrer Familie lebt sie in Valencia.
Weitere Infos & Material
19
Axel
Als ich am Abend mit Oliver telefonierte, erzählte ich ihm nicht, was am Nachmittag vorgefallen war. Nach dem Gespräch fiel mir auf, dass ich ihm nie etwas von dem erzählte, was unter diesem Dach geschah. Als hätte sich das Haus in einen geschlossenen, isolierten Raum verwandelt, in dem die Dinge nur so viel Wichtigkeit besaßen, wie wir ihnen beimaßen. Und trotz allem verstanden wir uns, Leah und ich, wir konnten streiten und anschließend wie zwei zivilisierte Menschen zu Abend essen. Oder tagelang nur ein paar Worte wechseln, ohne dass uns das seltsam erschien. In gewisser Weise passten wir uns aneinander an, trotz dieser Trauer, die sie aufzehrte, und trotz der Verzweiflung, die in mir aufkeimte, denn eine Schwäche hatte ich, und das war meine Ungeduld.
Ich konnte noch nie gut warten.
Ich kann mich daran erinnern, dass ich mir als kleiner Junge unbedingt ein ferngesteuertes Auto kaufen wollte und meine Eltern tagelang damit nervte. Mein Bruder dagegen sparte seit Monaten für ein Gesellschaftsspiel, das ich so langweilig fand, dass ich schon mit den Augen rollte, wenn der Name des Spiels fiel. Also nahm ich eines Nachmittags, meiner kindlichen Logik folgend, das Geld aus Justins Sparbüchse und stellte sie wieder an ihren Platz, damit er es nicht merkte. Meine Eltern kauften mir das Auto in der Annahme, es wären meine Ersparnisse, und ich spielte mit Oliver auf allen Wegen hinter unseren Häusern damit. Wir bauten Barrieren aus Steinen, Ästen und Blättern, um zu sehen, ob das Auto sie überwinden konnte. Und ich steckte das Geld, das ich bekam, wenn ich artig war oder im Haus mithalf, in Justins Sparbüchse, um es zurückzuzahlen. Als er sich seinen Wunsch erfüllte, fehlte in seiner Sparbüchse kein Cent, und ich hatte das ferngesteuerte, ziemlich verbeulte Auto schon an einen Klassenkameraden weiterverkauft.
Und die Moral von der Geschichte: Warum auf morgen warten, wenn du es schon heute haben kannst?
Jetzt brachte mich die Ungeduld fast um.
Wegen Leah. Weil ich sie unbedingt lächeln sehen wollte.
Am nächsten Morgen hatte sie dunkle Schatten unter den Augen.
»Schlechte Nacht gehabt?«
»So ähnlich.«
»Bleib zu Hause und ruh dich aus.«
»Du erlaubst mir, die Schule zu schwänzen?«
»Nein. Du bist alt genug, um zu wissen, ob du in die Schule gehen solltest oder nicht. Aber wenn du meine Meinung hören willst: Ich glaube, heute verschwendest du nur Zeit, wenn du auf die Tafel starrst und nichts mitkriegst, denn du wirkst ziemlich mitgenommen. Manchmal ist es besser, erst mal Kraft zu tanken und neuen Anlauf zu nehmen.«
Leah legte sich wieder ins Bett. Ich verbrachte einige Zeit in den Wellen, ging wieder nach Hause und machte mir ein Sandwich. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch und versuchte, die Arbeit nachzuholen, die ich am Vortag nicht geschafft hatte, weil ich die Staffelei besorgt hatte, die jetzt auf der Veranda Staub ansetzte. Ich notierte mir die Abgabetermine einiger Aufträge, bis Leah am späten Vormittag wieder auftauchte.
»Konntest du schlafen?«
»Ja, ein bisschen. Ist noch Milch da?«
»Weiß ich nicht, ich muss einkaufen.«
»Vielleicht … Vielleicht könnte ich mitgehen?«
»Na klar, ein wenig Unterstützung kann nicht schaden.«
Vor allem aber konnte es nicht schaden, sie aus dem Zimmer an die frische Luft zu locken.
Ich erledigte die dringlichste Arbeit, während sie am Tresen frühstückte. Als sie fertig war, kam sie zu meiner Überraschung näher und schaute mir über die Schulter.
»Was ist das?«, fragte sie stirnrunzelnd.
»Willst du mich beleidigen? Das sind die Ohren eines Kängurus.«
»Kängurus haben keine so langen Ohren.«
Ich konnte es verkraften, dass unser erstes triviales Gespräch sich um die Länge von Känguruohren drehte. Und ich bat sie, sich aus der Küche einen Hocker zu holen und sich zu mir zu setzen. Ellbogen an Ellbogen breitete ich die Karikaturen vor ihr aus.
»Es geht darum, dass Herr Känguru den Kindern erklären soll, wie schlecht es ist, Müll auf die Straße zu werfen, den Wasserhahn laufen zu lassen oder bis zum Platzen Hamburger zu essen.«
Leahs Stirn war noch immer gerunzelt.
»Es ist eine Zeichnung, Leah. Der Witz daran ist, das Känguru so darzustellen. Du weißt schon, ein bisschen übertrieben, mit übergroßen Füßen oder Rattenpfoten. Und lachen können Kängurus übrigens auch nicht.«
Ich zeigte auf die glänzend weißen Zähne, die ich dem Tier in der Karikatur verpasst hatte, und sah, wie sich auf Leahs Lippen ein Lächeln andeutete, das sofort wieder erlosch, als sie sich dessen bewusst wurde. Ich wollte sie noch ein Weilchen bei mir behalten und verhindern, dass sie sich wieder in ihr Zimmer zurückzog.
»Was hältst du von meiner künstlerischen Begabung?«
Sie schüttelte den Kopf. Überlegte. Seufzte.
»Ich finde, du vergeudest dein Talent.«
»Sagt das Mädchen, das nicht mehr malt.«
Ihr Blick wurde ernst, und diese Reaktion und ihre schnelle Antwort erleichterten mich. Der Schlag und seine Wirkung. Vielleicht war das ein Weg: das Seil zu spannen, immer weiter zu spannen.
»Und wie lautet deine Ausrede?«, erwiderte sie.
Ich zog eine Augenbraue hoch. Das hatte ich nicht erwartet.
»Keine Ahnung, wovon du redest. Willst du einen Kaffee?«
Sie schüttelte den Kopf, und ich holte mir eine Tasse kalten Kaffee aus der Küche und setzte mich wieder zu ihr. Dann zeigte ich ihr noch ein paar Arbeiten, die neuesten, und sie hörte mir zu, ohne Fragen zu stellen oder sich für etwas sonderlich zu interessieren. Das Zusammensein mit ihr war einfach, angenehm, wie alles in meinem Leben, was ich mochte.
Ich arbeitete weiter, und sie ging mit den Kopfhörern auf die Veranda. Während ich hinter Herrn Känguru die Bäume skizzierte, musste ich immer wieder zu ihr hinüberschauen, wie sie, mir den Rücken zugewandt und aufs Geländer gestützt, Musik hörte; sie wirkte so zerbrechlich, so verwirrt, so gelähmt.
In dem Moment spürte ich zum ersten Mal das Kribbeln.
Damals wusste ich allerdings noch nicht, dass dieses Kribbeln in den Fingerspitzen bedeutete, dass ich sie malen, sie für mich festhalten, sie für immer in meinen farbverschmierten Fingern behalten wollte. Erst viel später sollte ich in der Lage sein, sie wahrhaftig, lebendig und vollständig aufs Papier zu bannen.
Eine halbe Stunde später ging ich raus, nahm ihr die Kopfhörer ab und setzte sie mir auf. Es lief . Bei den ersten Akkorden, bei denen der Bass die anderen Noten unterlegt, fiel mir auf, dass ich die Beatles schon eine Ewigkeit nicht mehr gehört hatte. Ich musste schlucken, als ich mich daran erinnerte, wie Douglas mir in seinem Atelier erklärt hatte, wie man fühlen, wie man leben musste, wie man zu einem Künstler wird, wie er es zu diesem Zeitpunkt war, und ich fragte mich, ob ein Teil von mir es absichtlich vermieden hatte, diesen Weg einzuschlagen. Ich gab ihr die Kopfhörer zurück.
»Steht das Angebot noch, mich zum Einkaufen zu begleiten?«
Wir fuhren mit dem Wagen ans andere Ende der Stadt. Ich parkte vor dem Eingang zum Supermarkt, und wir gingen an den Regalen entlang. Leah legte Kekse und Toastbrot ohne Rinde in den Wagen.
»Was ist das denn? Das ist ja fast eine Beleidigung.«
»Niemand mag die Rinde«, erwiderte sie.
»Ich bin verrückt nach der Rinde. Was hat ein Weißbrot für einen Reiz, wenn nichts den monotonen Geschmack bricht? Nein, verdammt. Erst beißt du die Kanten ab, und dann isst du das Innere.«
Ich sah ein schüchternes Lächeln über ihr Gesicht huschen, bevor die Gardine aus blondem Haar es verdeckte, weil sie sich vorbeugte, um eine Packung Spaghetti aus dem Regal zu nehmen.
Plötzlich merkte ich, dass Leah entspannter wirkte, als hätten sich die ewigen dunklen Wolken in ihrem Kopf plötzlich verzogen, und ich nahm mir vor, Wege zu finden, um sie öfter aus dem Haus zu locken, sie aus dieser Apathie herauszuholen, in der sie jeden Tag versank. Nächsten Monat würde sich das ändern, auch wenn ich noch keinen Plan hatte, wie ich das anstellen sollte.
Beim Verlassen des Supermarkts stießen wir fast mit einer jungen Frau mit großen Augen und Pferdeschwanz zusammen. Sie lächelte Leah herzlich an und begrüßte sie überschwänglich.
»Was für ein Zufall! Ich wollte dich gerade anrufen, um zu hören, wie es dir geht, weil du nicht in der Schule warst, aber dann fiel mir wieder ein, dass du ja kein …«
Da Leah nicht reagierte, übernahm ich:
»… Handy hast.«
»Genau. Ich bin Blair, aber wir kennen uns ja schon.«
Ich erinnerte mich nicht an sie, obwohl ich etliche Freundinnen von Leah kennengelernt hatte, als sie sich noch mit ihnen zum Baden oder zum Stadtbummel verabredet hatte, vollkommen sorglos und lachend wie ein kleines Mädchen.
»Sehr erfreut, Axel Nguyen.«
»Ich habe nicht gut geschlafen«, erklärte Leah einsilbig.
»Verstehe. Trotzdem, wenn du einen Kaffee trinken magst …«
»Ja, mag sie«, antwortete ich an ihrer Stelle.
Leah warf mir einen tödlichen Blick zu.
»Ich wollte nur Shampoo kaufen, aber dann habe ich Zeit«, bot Blair an.
»Sie auch. Hier, für euch.« Ich gab Leah Geld. »Geht was essen. Ich habe noch zu tun. Treffen wir uns hier in einer Stunde wieder?«
Ich sah die Panik in ihren Augen. Ein Teil von mir wollte ihr sofort zu Hilfe kommen, doch der andere Teil … der freute sich über die...