E-Book, Deutsch, 164 Seiten
Keil Ich strick mir einen Schal aus Zeit
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-347-07311-1
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geschichten und Erinnerungen
E-Book, Deutsch, 164 Seiten
ISBN: 978-3-347-07311-1
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wirkliche Strickmuster findet man in diesem Buch natürlich nicht. Es geht eher um Lebensmuster einzelner Menschen: selbst entworfen oder von Schablonen im jeweiligen Zeitgeist vorgegeben. In Geschichten, Erinnerungen, Gedichten und Träumen lässt die Autorin ein ganzes Jahrhundert lebendig werden. Teils ernst und nachdenklich, teils heiter und mit Humor 'strickt' sie aus ihrem eigenen 'Lebensgarn' und dem ihrer Vorfahren. Viele dieser Texte spiegeln anhand konkreter Schicksale ein Stück Zeitgeschichte der Stadt Freiberg und der umgebenden Region wider.
Rosemarie Keil wurde 1951 in Freiberg geboren und kehrte wieder in ihre Heimatstadt zurück. Sie ist verheiratet und hat eine Tochter. In ihrem Berufsleben war sie u. a. als Lehrerin und Angestellte einer Krankenkasse tätig. Jetzt ist sie im Ruhestand und widmet sich ihrem Hobby, dem Schreiben. Bisherige Veröffentlichungen sind die Bücher "Ende eines Sommers, Abschied von Ostpreußen" (Reiseerzählung, Peter Segler Verlag 2003), "Fremde Heimat Ostpreußen, Spurensuche und Begegnungen" (Erzählung, Laumann-Verlag 2015), "Jodeglienen- Moosheim, Chronik eines ostpreußischen Dorfes" (Mitautorin Marthina Klüppelberg; Verlag Tredition 2017) und "Der besondere Weihnachtswunsch - Eine Erzählung aus dem Erzgebirge" (Verlag Tredition 2018). Weiterhin erschienen Kurzgeschichten und Gedichte in verschiedenen Anthologien und Zeitschriften.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Verwurzelt und verwoben Familiengeschichten Halb zwölf in der Rinnengasse Nein, mit dem Glockenschlage zwölf, so wie Goethe, bin ich nicht geboren; aber doch immerhin halb zwölf. Jener 12. Februar 1951, ein Montag, muss ein frostklirrender, schneereicher Tag in Sachsen gewesen sein; so ziemlich der einzige „Reichtum“, den meine Eltern als kleine Verwaltungsangestellte im Rathaus damals hatten. Sie wohnten zur Untermiete bei Frau Müller, einer netten, alten Dame, im 1. Stock der Freiberger Rinnengasse 1, unweit des Obermarktes. Die beiden Zimmer lagen zur Straße zu: Das eine hatte zum Heizen nur einen Herd und wurde deshalb im Sommer als Wohnküche genutzt; das andere, kleinere, war sogar mit einem Kachelofen gesegnet und winters das Wohnzimmer. Das Leben in diesen beiden Räumen muss sehr unruhig gewesen sein, denn zweimal im Jahr hieß es: mit Sack und Pack umziehen! Nämlich mit Winterbeginn von der Küche ins Schlafzimmer und vom Schlafzimmer in die Küche – nur der Öfen wegen. Mein Geburtszimmer war, aufgrund des Herdes, die eigentlich schlechter beheizbare Küche, aber es wurde ja genügend heißes Wasser gebraucht. Meine Tante Hanni, Vaters Schwester, war schon seit dem Vorabend da. Sie holte dann, als es langsam „ernst“ wurde mit mir, in Windeseile die Hebamme, Frau Felgner, von der Annaberger Straße und dann unsere „kleine Oma“ aus ihrem sehr bescheiden eingerichteten Dachstübchen in der Schmiedestraße. An ein Telefon in der Wohnung oder wenigstens in der Nachbarschaft war damals noch nicht einmal zu denken. Ich sehe meine ostpreußische Oma Emma vor mir, wie sie mit ihren kurzen, krummen Beinen an Tantes starkem Arm durch die verschneite Eherne Schlange Richtung Innenstadt schaukelt; ihr einziges reinwollenes Kopftuch von Bruder Fritz aus Westberlin tief in die Stirn gezogen und unterm Kinn geknotet. „Gott’s Nomke“, wird sie wohl vor sich hin gemurmelt haben, denn schließlich wurde sie zum ersten Mal Oma. Diese Worte sollte ich später noch oft von ihr hören. Mein Vater Heinz wurde kurz vor dem entscheidenden Moment energisch von der Bildfläche verbannt und ins Nebenzimmer abkommandiert. Schließlich war das hier jetzt reine Frauensache! Womit er sich da wohl die Zeit vertrieben hat? Vielleicht saß er, nervös mit den Fingern trommelnd, auf dem alten, kippligen Nussbaumstuhl; eingeklemmt zwischen Schrank und Fensterbrett, das man seiner Tiefe wegen so wunderbar als Tisch benutzen konnte. Später verbrachte ich hier unzählige Stunden in meinem zum x-ten Mal reparierten und von Großvater Otto neu gestrichenen Hochstühlchen, während ich begeistert mit Muttis Knopfsammlung spielte. Aber noch war es nicht so weit … Nach Stunden schließlich durfte Vater mich, blitzeblank und mit schwarzen, zur „Sahnerolle“ hochgebürsteten Haaren, endlich in meinem rüschenbesetzten Steckkissen bewundern und natürlich auch zum ersten Mal fotografieren. Dann machte er sich schnurstracks mit seinem hölzernen Gehstock auf den Weg zum kleinen Blumenladen um die Ecke auf der Petersstraße und ergatterte doch tatsächlich einen Alpenveilchentopf, den er meiner Mutter Eva stolz überreichte. Mir gefielen diese Blumen wohl nicht so sehr: Ich brüllte. Noch Jahre und Jahrzehnte später konnte ich mich für Alpenveilchen kaum begeistern, da sie mir Jahr für Jahr, nur etwas in der Farbschattierung variierend, als „Überraschung“ auf dem Geburtstagstisch präsentiert wurden. Gebrüllt habe ich da bei ihrem Anblick allerdings nicht mehr, höchstens ganz leise und heimlich geseufzt. Wie sehr genieße ich es dafür jetzt, wenn an meinem Geburtstag Wohnzimmer und Diele zu einem richtigen kleinen Frühlingsgärtchen werden, und wenn es nach Narzissen, Hyazinthen und Fresien duftet! Im Februar 1951, und noch dazu im Osten Deutschlands, absolut unvorstellbar. Am 13. Mai des gleichen Jahres allerdings war unsere erste kleine Wohnung in der Rinnengasse, dank Frau Müllers Beziehungen, üppig mit roten Rosen geschmückt, extra für Rose marie! An diesem Tag wurde ich in der Kirche St. Petri zu Freiberg getauft. Für die Bowle zur Feier erstanden meine Eltern im kleinen Gemüseladen am Obermarkt „unter dem Ladentisch“ zwei Flaschen Mehrfruchtwein. Auf die Frage des Verkäufers, ob er sie zum Transport in Zeitungspapier einwickeln solle, antwortete mein Vater, dass dies unnötig sei, denn sie hätten den Wagen draußen. Der Verkäufer „dienerte“ daraufhin meine Eltern ehrfürchtig bis zur Tür. Wenn er gewusst hätte, dass „der Wagen“ nur mein alter, hochrädriger Kinderwagen war! Als Taufpaten wurden die Geschwister meiner Eltern eingeladen: von Vaters Seite Tante Hanni, von Seiten meiner Mutter Tante Heta, Onkel Erich und Onkel Horst. Mutters Bruder Horst war extra aus dem Westen, aus Wuppertal, über die „Zonengrenze“ angereist. Für den festlichen Anlass bekam ich ein feines, gesmoktes Kleidchen, das Mutti selbst genäht hatte. Dieses Unikat wäre heute wieder ganz modern! Meinen Taufspruch habe ich übrigens erst 1997 selbst gelesen, als ich mir für meine bevorstehende Konfirmation ein Duplikat der Taufurkunde ausstellen ließ. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte. Mein Taufspruch steht in Psalm 143, Vers 10: Lehre mich, deinen Willen zu tun, denn du bist mein Gott. Dein guter Geist leite mich auf ebenem Pfad. Über diesen Spruch und meinen bis heute bei weitem nicht immer ebenen Lebenspfad lohnt es sich, einmal in Ruhe nachzudenken und einiges dazu aufzuschreiben. Damals, zur Taufe, ging es mit den ersten kleinen „Unebenheiten“ schon los, denn Pfarrer Spranger wollte mich doch tatsächlich als Heinz Erich (wie mein Vater hieß) taufen! Aber alle Verwandten müssen ihn vereint wohl so entsetzt angestarrt haben, dass er seinen Irrtum erschrocken bemerkte und korrigierte. Und so durfte ich doch Rosemarie bleiben. Vier Jahre alt Von meinem vierten Geburtstag an bekam ich von unserer „Oma mit Brille“, der Mutter meines Vaters, jeden Monat eine kleine „Rente“: zunächst eine Mark, in späteren Jahren dann bis zu zwanzig Mark. Das war nur möglich, weil Oma wegen ihrer schlechten Augen eine etwas höhere Rente bezog. Ich war unheimlich stolz auf meine Reichtümer, aber auch ein wenig traurig, da das Geld in gewissen Zeitabständen auf mein Post- sparbuch eingezahlt wurde. Dort war es für mich ja zunächst ein- mal verschwunden. Erst ein paar Jahre später, als ich fast schon zu groß dafür war, konnte ich mir damit einen Kindertraum er- füllen und einen Luftroller kaufen: chromglänzend, rotgeflammt und mit schwarzem Ledersitz. Leider befand sich dieser Sitz fest verschraubt über dem Hinterrad und ließ sich nicht hochklap- pen wie der meines Freundes Hans-Jürgen. Dafür hatte das Geld nicht gereicht. Aber immerhin brauchte ich mich nun nicht mehr vorn auf das Trittbrett seines Rollers zu hocken, um mitfahren zu können, sondern konnte selbst in unserem Viertel umhersausen. Meine andere Oma, genannt „die kleine Oma“, bekam nur Mindestrente. Ihr Rentenzahltag ist mir noch heute als ein kleines Fest in Erinnerung. Am frühen Vormittag zogen wir beide los zum Rathaus, wo im Kultursaal die Rente ausgezahlt wurde. Gemeinsam reihten wir uns in die Schlange vor dem Schalter Familiennamen SCH ein, zählten die wenigen Scheine und die Münzen aus Aluminium nach und verstauten alles sorgfältig im abgeschabten, braunen Portemonnaie. Und dann kam das Schönste: In erwartungsvoller Vorfreude lief ich mit Oma schräg über den Obermarkt zum Spielzeuggeschäft „Flax und Krümel“. Bei dieser Namensgebung hatten zwei beliebte DDR-Fernsehfiguren der 1950er- und 60er-Jahre Pate gestanden. Wir besaßen zwar damals zu Hause kein Fernsehgerät, aber zu Kindersendungen lud mich Hans-Jürgens Familie, die über uns wohnte, oft ein. Im „Flax und Krümel“ durfte ich mir am Rententag immer eine Kleinigkeit aussuchen: ein Malheft, Luftballons, bunte Murmeln, einen Ausschneide-Bastelbogen oder einen neuen Kreisel für das Spielen vor unserem Haus. Mit Vorliebe wählte ich solche Dinge, mit denen ich noch lange etwas anfangen konnte. Als weiteren Höhepunkt des Tages kochte mir Oma eines meiner Lieblingsgerichte: Plinsen (Oma sagte in ihrer ostpreußischen Mundart Flins), Apfelklöße (Äppelkielkes) oder Kartoffelbrei mit Spiegelei. Und zum nachmittäglichen „Blümchen-Kaffee“ (Malzkaffee) gab es selbstgebackenen Kuchen, mitten in der Woche! Ob es wohl heute in unserem Land noch viele Kinder gibt, die solch kleine Feste kennen und zu schätzen wissen? Ich habe da so meine Zweifel. Es muss ja meist alles im Überfluss geben und ist nie gut, schön, schnell oder groß genug. Freunde erzählen oft, dass sie gar nicht...