E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Keck Schneeblind
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-943876-04-8
Verlag: Periplaneta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Patientenroman
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-943876-04-8
Verlag: Periplaneta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Schneeblind' erzählt von einem jungen Menschen, der nicht in das Leben eintreten will. Matthias ist vierundzwanzig und wurde gerade in die Psychiatrie eingeliefert. Mit seinen eigenen Worten erzählt er, wie es dazu kam. Der Komik und dem Zynismus seiner Ausführungen ist dabei ein deutliches Maß an Tragik abzufühlen. Und so muss er als vollkommen untypischer Patient seine Nische und seine Rolle finden, mit der er die Zeit in der Klinik überbrücken kann. Im Laufe der Zeit jedoch findet er zusehends Gefallen an der Kuriosität seiner Mitpatienten, ihren schauerlichen oder wunderbaren Lebensgeschichten. Und er verliebt sich in Anna, die eigentlich auch nicht verrückt ist. Anstatt diesem 'verrückt sein' zu entgehen, will Matthias der Welt seinen Stempel aufdrücken. Er droht zu scheitern, aber er leugnet dies und sein Leugnen ist gewaltig. Er begeistert, polarisiert, irritiert und schafft es immer wieder, der gewohnten Realität ein Schnippchen zu schlagen.
Andreas Keck wurde 1973 in Weißendorn geboren und absolvierte 1997-2oo1 ein Studium der Sozialen Arbeit an der FH Benediktbeuern, sowie 1999-2oo5 das Magisterstudium der Philosophie. Er promovierte 2005 mit dem Thema 'Fürsorgetheorien des Mittelalters' Andreas Keck ist seit 2oo2 als Sozialarbeiter im ambulanten Psychiatriebereich tätig. Aus diesen unterschiedlichen Lebensbereichen hat sich der in München lebende Autor einen einzigartigen literarischen Kosmos geschaffen. Aus diesem entstanden seit 1999 die Rohfassungen mehrerer vielversprechender Romane. Nach dem Zusammenschluss mit dem Verlag periplaneta nahm Andreas Keck 2007 seine zwischenzeitlich ruhende literarische Arbeit wieder auf. 'Schneeblind' ist sein Romandebüt.
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II
Am nächsten Tag war die Station nicht mehr geschlossen. Der Selbstmörder hatte sich wahrscheinlich anders entschieden. Er wollte sich nicht mehr um die Ecke bringen. Er wollte wieder leben. Sie hatten ihn wieder soweit... Aber das ist nur eine Vermutung. Ich lernte ihn später ja auch kennen. Den Selbstmordkandidaten. Und er war sehr nett. Ich kann nur deshalb so zynisch daherreden, weil ich selber auch daran denke. Sogar ziemlich oft. An Selbstmord. Aber dazu später. Die Station war von diesem Tag an auf jeden Fall offen, und ich konnte meinen Erkundungsgang durch die Innereien der Klinik in Angriff nehmen. Die Klinik besteht aus einem alten honorablen Bau aus der Gründerzeit. Eine Bauepoche, die an der Fassade kastige, gedrungene Vehemenz mit der schmeichelnden Eleganz der geraden Linie verbindet. Innen mit hohen Decken, schlanken, großen Fenstern, deren Holzrahmen dickweiß lackiert sind, und langen, weiten Gängen und Fluren. Man meint fast, der Architekt hätte die Räume nur um der Flure willen gezeichnet. Ich war jetzt im Parterre. Und fühlte mich gleich besser. Dem Boden näher zu sein. Von den Gesichtern meiner Station entfernt zu sein. Das Mädchen hatte ich seitdem nicht mehr gesehen. Die Klinik hatte einen großen Innenhof, der als Park für die Patienten angelegt worden war. Sie promenierten. Dort. Aber hinaus wollte ich noch nicht. Ich ging in Richtung eines dunklen Ganges, an dessen Ende ein gigantischer Automat stand. Süßigkeiten. Riegel. Schokoladentafeln. Alles, was es anderswo auch gab. Die gleichen Packungen. Die gleichen Logos. Deren Form und Farbe man noch im Schlafe aufsagen konnte. Sie sahen genauso aus wie immer. Aber alles andere war anders. Ich war stehen geblieben. Vor dem riesigen, stummen Automaten. Starrte hinein. Wollte mich entscheiden. Für etwas. Irgendetwas. Und ich musste mich beeilen. Denn die Stille, die von den Wänden dieses dunklen Ganges drang, wurde immer lauter. Also Münzen. Die klimpern. Dann wählen. Aber was?! Hopp hopp hopp! Daim. Ein Schokoladenriegel aus hartem Karamell. Kannte ich auch aus der Werbung. Ohne ihn je probiert zu haben. Ich zog ihn aus und biss hinein. Er war völlig flach. Aber trotzdem ergiebig. Eine zarte, dünne Schokoladenschicht umzog den festen Karamellkern, der zwischen meinen Zähnen in hundert kleine Splitter zerbarst, um sich dann mit der geschmolzenen Schokolade zu vereinen und einen unvergesslichen Gesamtausdruck zu erschaffen. Unvergesslich?! Ich erschrak. Ich erinnerte mich an den Werbespot von Daim, der monatelang vor dessen Einführung auf dem deutschen Naschwarenmarkt im Fernsehen propagiert worden war: Eine Faust, die den Riegel hält, knallt von hinten aggressiv gegen die Mattscheibe, und eine dominante militärische Männerstimme ruft: Dein erstes Daim vergisst du nie! Es hatte sich erfüllt. Wahrscheinlich war der Satz zulange in mein Unterbewusstsein eingeprügelt worden. Die Stimme hatte Recht erhalten. Ich werde es nie vergessen: Den Tag, die Situation, mein Leben, als ich mein allererstes Daim verzehrte. Nie! Das Karamell war in die Senken meiner Backenzähne eingekaut und bildete nun kleine Erhebungen, die sich hartnäckig hielten. Ich biss fest darauf, und die Karamellmasse schien mit dem Schmelz meiner Zähne eins zu werden. Als ich mit der Zunge hinging, fühlte es sich an wie Zahnfüllungen. Neue Füllungen fühlen sich immer gut an. Wenn ich eine Füllung eingesetzt bekomme, streichelt meine Zunge noch Wochen nach dem Zahnarzttermin immer wieder die fremdartige Oberfläche der Füllung ab. Ich holte das Restgeld aus dem Automaten und steckte es in die Hosentasche. Nachdem in den Haupttrakt der Klinik zurückgegangen war, setzte ich mich auf eine moderne, kalte Metallbank, die am Rand des Flurs stand und beobachtete die Passierenden. Und ich konnte genau unterscheiden. Zwischen Patienten. Und Besuchern. Und Ärzten. Die Patienten gingen mit einer Art seltsamer Würde. Einer Würde von Trauer und Leid. Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Die Ärzte und Schwestern rannten. Und die Besucher starrten jeden so dermaßen an, dass man merken musste – und wahrscheinlich auch merken sollte – dass sie nur Besucher waren und schon in kurzen Stunden die Klinik wieder verlassen würden. Ihren Wagen aufsperren würden. In U-Bahnschächten verschwinden würden. Noch kurz etwas einkaufen müssten. An roten Ampeln stehen bleiben würden. An gelben Ampeln ihre Aufmerksamkeit erhöhen würden. Und bei grünen Ampeln losfahren würden. All die wunderbaren Dinge, die der Normale tat. Ohne darüber nachdenken zu müssen. Ohne sich darüber irgendwelche Gedanken machen zu müssen. Ohne sich dessen bewusst zu sein. Im Gegensatz zu mir. Der ich mir jeder Sache, die ich tat, ständig voll bewusst war und sie in einer Art höchstgradiger Eigenmächtigkeit ausführte. Als wäre alles, was ich tat, das Erste und Letzte und Höchste und Wichtigste, was es überhaupt gab. Und als wäre ich im absoluten und alleinigen Zentrum der Tat. Von nichts umgeben. Ich muss das anders erklären. Also. Es ist so, wenn ich jetzt zum Beispiel... hier... also ich sitze gerade hier, auf einer weißen Bank, dünnes gelöchertes Metall, am Rande eines Durchgangsbereiches einer psychiatrischen Klinik. Wenn ich jetzt aufstehen würde, von dieser Bank, dann müsste ich das ganz bewusst machen. Nicht wie jemand, der einfach aufsteht, weil er keine Lust mehr hat, dazusitzen, oder weil er einfach weiter muss. Ja, ich wage mal zu behaupten, derjenige weiß nicht mal, dass er aufgestanden ist. Er hat es einfach getan. Ganz einfach. Und das geht nicht. Das fehlt mir. Dieses Unbewusste. Dahinleben. Drauflosleben. Das heißt aber nicht, dass ich nicht spontan wäre. Nein! Es ist was anderes. Oder anders gesagt, wenn ich jetzt hier sitzen bleibe, dann würde ich nicht einfach hier sitzen bleiben, sondern müsste mich sozusagen sekündlich dafür entscheiden, sitzen zu bleiben. Das muss bescheuert klingen. Ich weiß. Aber wenn man voll im Jetzt ist und keine besonderen Ziele oder Motivationen mehr hat, dann erlebt man eben diese Nacktheit – diese Splitternacktheit – des Existierens. Des Aufstehens, des Hinsetzens, des Umhergehens, des Redens. Ohne jeden Zusammenhang. Jedes für sich. Ohne Verbindung. Im Moment saß ich also und sah mich um. Ein Regenschauer ging nieder, ich sah es durch die hohen Fenster, und der Regen prasselte jetzt so heftig nieder, dass ich mich für einen Moment pudelwohl fühlte, hier zu sein. Hier drinnen. Wo mich kein noch so kleiner Spritzer Regenwasser berühren würde. Wo ich völlig trocken bliebe. Rein. Mein Blick senkte sich auf die Beine der Klinikbesucher und schließlich auf deren Schuhe, als eine kräftige Stimme, direkt vor mir, meinen Kopf wieder hochschnellen ließ. „Du bist doch bei uns?!“, sagte eine kleine, eher rundliche Gestalt, die geradewegs auf mich herabblickte, jedoch mit gehörigem Abstand. „...wie bei uns?!“, fragte ich verblüfft und etwas harsch, wo mich doch gerade diese Person aus einer Sekunde der Seligkeit herauskatapultiert und gegen die Mauern einer gemeinen psychiatrischen Realität geschleudert hatte. „Na bei uns auf Station... auf unserer Station“, entgegnete er – die Person war männlich – ebenso unwirsch. „Auf Station, ja, auf Station, kann sein“, stammelte ich herum. Er hatte mich eingeschüchtert. Obwohl er klein war, war er selbstbewusst wie... wie Picasso, genau. Wie dieser kleine böse Zwerg Picasso. „Du bist seit gestern hier!“, belehrte er mich. „Ja, seit gestern, ja ja.“ „Das hätte ich nicht gedacht...“, fuhr er fort. „Was?“, fragte ich. „Dass ich mal hier landen würde.“ Ich schwieg. „Warum bist du hier?!“, fragte er forsch. „Das... ach, das ist... das ist eine schwierige Geschichte!“, entgegnete ich. „Warum sind Sie hier?“ „Selbstmordversuch“, sagte er. „Ja?“ „Ja. Aber es hat nicht geklappt.“ „Zum Glück?“, fragte ich „Wie zum Glück!?“ „Hat es zum Glück nicht geklappt?“ „Ja.“ „Gut...“ „Na ja. Gut kann man das nicht nennen.“ „Wie denn dann?“, fragte ich, im Bemühen, ebenso selbstbewusst wie er zu erscheinen. „Na es hat eben nicht geklappt. Das ist alles. – Dreißig Aspirin... ich hatte dreißig Aspirin geschluckt.“ „Und?!“ „Man braucht Schlaftabletten, keine Schmerztabletten. Ich hätte hundert schlucken können.“ „Wirklich?!“ „Natürlich! Wusstest du das nicht??!“ „Nein. Aber Sie wussten es ja auch nicht.“ „Ja ja. Jedenfalls wurde ich ohnmächtig. Meine Putzfrau fand mich auf dem Wohnzimmerboden. Ab auf die Intensivstation. Und als ich aufwachte, von dort direkt in die Psychiatrie.“ Er sah mich an und fügte hinzu: „Zum Glück.“. „Sie scheinen sich ja recht wohl zu fühlen hier!“, sagte ich. „Wohlfühlen? Niemals!“ „Aber es klingt danach.“ „Wie kommst du denn auf so was?!“ „Weil Sie andauernd ‚Zum Glück’ sagen.“ „Unsinn! Ich bin nur froh... es ist das Beste, hier zu sein. Solange, bis ich wieder auf dem Damm bin.“ Ich schwieg. „Aber manche sind schon verrückt hier, oder?!“, fuhr er fort. „Ich weiß...