Kaufmann | Im Fluss der Zeit | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 300 Seiten

Kaufmann Im Fluss der Zeit

Auf drei Kontinenten
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-943941-49-4
Verlag: Dittrich Verlag ein Imprint der Velbrück GmbH Bücher und Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Auf drei Kontinenten

E-Book, Deutsch, 300 Seiten

ISBN: 978-3-943941-49-4
Verlag: Dittrich Verlag ein Imprint der Velbrück GmbH Bücher und Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Am 19. Januar 1939 erreicht Walter Kaufmann mit einem der letzten jüdischen Kindertransporte aus Nazi-Deutschland das rettende London. Es ist sein 15. Geburtstag. Nur kurz währt das Gefühl der Sicherheit in der Internatsschule Bunce Court in Faversham. Im Mai 1940 internieren ihn die britischen Behören als "Ausländer" in Liverpool. Mit zweitausend anderen Flüchtlingen wird er auf dem Gefangenenschiff Dunera nach Australien deportiert. 18 Monate verbringt er in den Wüstencamps Hay und Tatura zwischen Stacheldraht und Wachtürmen.

Obstpflücker, Soldat, Hafenarbeiter, Hochzeitsfotograf, Seemann, Schriftsteller - das sind die nächsten Stationen seines Lebens. Unter australischen Seeleuten findet er Anschluss an die Gewerkschaftsbewegung, die KP. In Fabriken und im Hafen liest er aus seinem Roman "Stimmen im Sturm". 1955 kehrt er nach Europa zurück, lebt als Schriftsteller in der DDR. Seine Romane und Reisereportagebände erleben hohe Auflagen - und stoßen doch auch an die Grenzen der Zensur.
Seine Auslandsreportagen sind präzise Zeitzeugnisse, hautnah am Leben: Er sitzt im Gerichtssaal in San Jose, als die Jury am 4. Juni 1972 Angela Davis nach spektakulärem Prozess freispricht. 1983, ein Jahr nach dem Massaker von Sabra und Shatila, ist er im Libanon unterwegs. Israel, einst Hoffnungsland für ihn und seine Eltern, fasziniert ihn, und mit wachem Blick erkundet er es. Der Konflikt zwischen Arabern und Juden erschüttert ihn.
Längst als Autor erfolgreich, fährt er noch einmal auf verschiedenen Frachtern zur See, erkundet mit der Entdeckerlust eines Jack London oder Somerset Maugham fremde Ufer, schreibt darüber voller Leuchtkraft und Lebendigkeit. Mit demselben neugierigkritischen Blick durchmisst Walter Kaufmann die Spanne von über acht Jahrzehnten in seinem packenden Lebensreise-Bericht.

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1.
Zwei Jahrzehnte liegt das zurück, und doch scheint es mir wie gestern, als wir auf den Alexanderplatz zogen, mit neuen Losungen die Regierung in den Orkus schickten, einen Neubeginn forderten, eine DDR anderer Prägung, und Stefan Heym verkündete, dass endlich ein Fenster aufgestoßen sei für freies Atmen – und nicht lange später fiel die Mauer, klopften Mauerspechte bunte Brocken aus dem Beton, tanzten die Leute in den Straßen, strömten sie zu Tausenden aus dem Berliner Osten in den Westen: Kein Neuland für mich, auch für Rebekka nicht, unbekanntes Terrain aber für Deborah, und für Angela, deren Mutter, und auch für Lissy. Ich spürte Erleichterung, dass sie nun alle in die weite Welt durften, zugleich aber war mir, als hätte ich ein Stück Heimat verloren, und als ich – lange ließ das nicht auf sich warten – an einer Mauer in Lichtenberg den Galgen prangen sah, grellweiß auf roten Ziegeln, an dem die Buchstaben GYSI baumelten, wusste ich, was noch zu verlieren war. Damals fragte ich mich, ob nicht eine Rückkehr nach Australien zu erwägen wäre. Ich überdachte, warum ich in den fünfziger Jahren dieses Land verlassen hatte – hatte es dort keinen Anker gegeben, kein Zuhause, keine Frau, keinen Verlag, der meine Bücher druckte? All das hatte es gegeben … Hier in Berlin, der Stadt mit der zerbröckelnden Mauer, verschwanden binnen kurzem alle Verlagshäuser, die meine Bücher gedruckt hatten. Giganten wie Bertelsmann hatten ihnen den Garaus gemacht. Bücher der Ostverlage lagen stapelweise vor den Buchhandlungen auf dem Pflaster, landeten auf dem Müll, in Kohleschächten, auf Halden und ein Kleintransporter brachte mir etliche Kisten meiner Taschenbücher ins Haus, die die Post nicht mehr vertrieb und die so die Kioske nicht länger erreichten: Am Kai der Hoffnung, Stimmen im Sturm, und ich überdachte, was mich zu meinem Romanerstling motiviert und wann ich ihn zu schreiben begonnen hatte. Im Jahr 1949 war das, im australischen Melbourne, als ich nach der Veröffentlichung einer Reihe von Erzählungen in der Literaturzeitschrift Meanjin in die Realist Writers’ Group aufgenommen worden war und mit Schriftstellern zusammenkam, die Rang und Namen hatten – dem seit der Kindheit gehbehinderten, und doch agilen und vor allem hochbegabten Alan Marshall, dessen Buch Ich kann über Pfützen springen damals in aller Munde war, dem noch jungen Kriegsveteranen Eric Lambert, der Romane über Dschungel- und Wüstenkriege geschrieben hatte, und Frank Hardy, uraustralisch, trinkfest und gesellig, als yarn spinner unermüdlich, dazu ein Schreibtalent, der mit seinen volksnahen Erzählungen in der Tradition Henry Lawsons stand und bald schon durch seinen streitbaren Enthüllungsroman Macht ohne Ruhm weltweiten Erfolg erzielen sollte. Und zu all dem ein Hasardeur bei Pferderennen war … Der Name schien wie geschaffen für die schöne, braune Stute – Lady Pirouette. In der umzäunten Enklave, von wo aus die Jockeys die Pferde zum Start ritten, sah ich sie tänzeln, und ich, der ohne jeden Hang zum Glücksspiel war, spürte plötzlich die Lust, all mein Geld auf ihren Sieg zu setzen – Nummer Sieben, Lady Pirouette. Doch dann kriegte mich Frank Hardy zu fassen, mit dem ich zur Rennbahn gekommen war, er, der nun wirklich sein Leben lang ein Spieler gewesen, der Droge Rennsport süchtig verfallen, und der immer aufs Ganze ging. Er tat Lady Pirouette verächtlich ab – Sandwich Lad, ein schwarzer Hengst mit der Nummer Drei, sei der heiße Tipp für den Healesville Handicap. Seitlich von Lady Pirouette bäumte sich gerade ein Pferd unter seinem Jockey auf, ging hoch und preschte dann auf der Trainingsbahn im jähen Galopp davon. »Das ist er«, rief Hardy, und obwohl mich der Anblick des fliehenden Pferdes beeindruckte, behielt ich auch weiterhin Lady Pirouette im Sinn. Ich sah sie vor mir, leichtfüßig und flink, mit wachem Blick, wachen Reaktionen, und dass ich dann doch mein Geld auf Sandwich Lad setzte, zeigte, wie sehr ich Sklave der Vorsicht und wie wenig ich Spieler war. Doch schon als ich Jim O’Leary, dem Buchmacher, das Geld gab, ich ihn den Schein zu all den anderen in die Ledertasche werfen sah, war mir, als hätte ich Lady Pirouette verraten. Und als ich sehr bald nach dem Startschuss durch die Lautsprecher ihren Namen gellen hörte, immer wieder Lady Pirouette, fühlte ich mich bestraft. Von der Tribüne her, über die Köpfe der Menge, konnte ich weit draußen auf der Gegengeraden den Pulk der Pferde ausmachen, die Silhouetten der Jockeys auf gestreckten Pferderücken, doch nicht bis sie in die Zielgerade gebogen waren, erkannte ich, dass die braune Stute mit der Nummer Sieben das Feld führte und jetzt in rasantem Galopp dem Ziel zustrebte. Ich sah den Jockey über ihren Hals gebeugt die Peitsche brauchen, und mir war, als flöge Lady Pirouette wie auf Schwingen dahin, und während hinter dem Pulk der schwarze Hengst Meter um Meter zurückfiel und abgeschlagen auf der Strecke blieb, ging Lady Pirouette mit drei Längen Vorsprung durchs Ziel. Frank Hardy schwieg, als wir uns nach dem Rennen zusammenfanden. Verschlossenen Gesichts klaubte er eine Zigarette aus der Hemdtasche und strich blind ein Streichholz an. Die Flamme erlosch im Wind und, die kalte Zigarette zwischen den Lippen, fluchte er leise: »Black Satan!« »Du sagst es«, bestätigte ich ihm, »und es war mir eine Lehre.« »So«, sagte er. »Wie teuer war denn die?« Ich wusste, in seinen Augen war der Verlust von fünf Pfund eine Lappalie, mit Erstaunen aber stellte ich fest, dass er ihn ernst nahm. »Fünf Pfund – die könnte ich jetzt brauchen«, hörte ich ihn sagen. Er sagte es bitter, fügte nichts weiter hinzu, und dann verließen wir den Rennplatz. Nie hatte ich ihn so schweigsam erlebt, und er blieb es, bis wir uns trennten. Als ich ihn am folgenden Tag besuchen wollte, fiel mir sofort das Schild auf, das über dem Gartenzaun seines Hauses angebracht war – EMERGENCY SALE, Zwangsverkauf. Der Grundstücksmakler, der die Tür öffnete, wollte mir über Frank Hardys Verbleib keine Auskunft geben.1 … und ich traf John Morrison, der in seinen Erzählungen die Arbeitswelt überzeugend gestaltete – Landarbeiter, Gärtner, Hafenarbeiter, am nahesten aber stand mir David Martin, ein ungarischer Jude und Spanienkämpfer, Dichter des berühmten Liedes von der Jaramafront und Verfasser von Romanen, die in Indien, England und Palästina spielten – ein welterfahrener Mann. Wie die anderen meinte auch er, ich solle es noch eine Weile bei der Firma Elite Photos aushalten – schreiben, sagte er, könne man über alles, auch über meinen jetzigen Broterwerb, vorausgesetzt man könne schreiben. »Und überhaupt – als ob du sonst keinen Schatz an Erfahrungen hättest.« Er erinnerte an mein Schicksal in Nazideutschland und an das weit tragischere meiner Eltern. »Und wie deine Erzählung Die einfachen Dinge ahnen lässt, wirst du schon als Junge etwas vom Widerstand gegen Hitler mitbekommen haben. Mach einen Roman draus. Um den schreiben zu können, würde ich an deiner Stelle Gott weiß wie lang Hochzeiten ablichten …« Er nannte keine Regeln außer einer: Fleiß! Bücher zum Thema Nazideutschland lesen, in der Bibliothek Zeitungen wälzen, sich in die Zeit vertiefen, Erinnerungen skizzieren – vor allem aber eine Fabel entwickeln, die den Handlungsablauf und die Auswahl der Personen bestimmen würde. In meine Kladde zeichnete ich einen Bogen, den ich in neun Abschnitte unterteilte: 1930 bis 1939, hielt anhand eines Stadtplans örtliche Besonderheiten von Duisburg fest, den Stadtwald, die Flüsse Rhein und Ruhr, den Hafen, wirklich voran aber kam ich erst, als die Fabel stand. Eine innere Erregung stellte sich ein, ich war zum Schreiben gezwungen, arbeitete zuweilen wie im Rausch, aus dem Unterbewusstsein stiegen Bilder in mir auf, formten sich Dialoge, Begebenheiten, die nüchterne Überlegungen niemals gezeitigt hätten. Unterm bläulichen Schein der Leselampe, in der Stille des Besuchersaals der Melbourner Stadtbibliothek, schrieb ich Seite um Seite, die später mit der Maschine ins Reine zu bringen waren. Und je mehr ich über den Widerstand gegen Hitler erfuhr, je mehr wuchs meine Hochachtung für den Opfermut jener Männer und Frauen. Ich erfand eine Zelle des Widerstands – Gerhart Winkel, Hilde Lipps, Erwin Schmitz, Papa Müller, Lutz Sorgenfrey, alles Arbeiter, und versuchte sie ins Umfeld einer wohlhabenden jüdischen Familie zu bringen, meiner eigenen in Wahrheit, die im Zentrum meines Romans stand. Ich besprach mich mit David Martin, ließ ihn die Fabel bewerten, auch so manchen geschriebenen Abschnitt – und als er sich eines Tages erbot, für mich zu bürgen, sollte ich der Kommunistischen Partei Australiens beitreten wollen, erstaunte mich daran nur, wie er hatte ahnen können, dass mich meine Beschäftigung mit dem Widerstand deutscher Kommunisten dem Gedanken schon nahgebracht hatte. Noch heute sehe ich David Martin, wie er mich, das Kinn mit...


Geboren 1924 im Berliner Scheunenviertel, wuchs in Duisburg auf und emigrierte 1939 über England nach Australien, wo er bis 1956 lebte. 1956 siedelte er über Warschau in die DDR über.
Auswahl seiner Werke: "Voices in the storm", Melbourne 1953 und Berlin 1977, "The curse of Maralinga and other stories", 1959, "American encounter", 1966, Hoffnung unter Glas, 1966, "Beyond the green world of childhood", 1972, "Unterwegs zu Angela" (Davis), 1973, "Drei Reisen ins gelobte Land", 1980, "Tod in Fremantle", 1987, "Steinwurf - Über eine Liebe
in Deutschland ", 1998, "Die Welt des Markus Epstein", 2003.
Auswahl der Preise: Mary Gilmore Award, Australien 1959, Heinrich-Mann-Preis, 1967, Theodor-Fontane-Preis, 1967, Literaturpreis Ruhrgebiet, 1993.



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