Katsu | The Hunger - Die letzte Reise | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

Katsu The Hunger - Die letzte Reise

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-22627-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

ISBN: 978-3-641-22627-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mitte April 1846 bricht die so genannte »Donner Party« – insgesamt fast neunzig Männer, Frauen und Kinder – aus Springfield, Illinois, auf. Ihr Ziel ist Kalifornien. Ein Ort, an dem alles besser ist. An dem schon viele Siedler ihr Glück gefunden haben. Doch schon bald sind die Nerven zum Zerreißen angespannt: der Hunger, das Klima und die Feindseligkeiten innerhalb der Gruppe verwandeln den Wagentreck in ein Pulverfass. Dann kommt ein kleiner Junge unter mysteriösen Umständen zu Tode, und ein Siedler nach dem anderen verschwindet spurlos. Langsam aber sicher wird klar, dass die Donner Party in den Weiten der Prärie nicht alleine ist. Dass »Etwas« sie begleitet. Etwas, das großen Hunger hat ...

Alma Katsu ist Hochschulabsolventin der Johns Hopkins University und der Brandeis University, wo sie zusammen mit John Irving Literatur und Schreiben studierte. Sie arbeitete viele Jahre als Senior Intelligence Analyst für verschiedene US-amerikanische Bundesbehörden und ist derzeit Analystin eines Thinktanks. Ihr Debütroman The Taker war unter den Top Ten der American Library Association. Alma Katsu lebt mit ihrem Mann außerhalb von Washington, DC.
Katsu The Hunger - Die letzte Reise jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


1

Für Charles Stanton gab es nichts Besseres als eine ordentliche, glatte Rasur.

Er stand vor dem Spiegel, den er an die Seite von James Reeds Wagen gehängt hatte. In jeder Richtung erstreckte sich die Prärie wie eine endlose Decke, in der gelegentlich der Wind spielte: Meile um Meile unberührten Büffelgrases, nur unterbrochen von der roten Spitze des Chimney Rock, der wie ein Wachposten in der Ferne aufragte. Wenn Stanton die Augen zusammenkniff, wirkten die Wagen wie Kinderspielzeug, das im endlosen Gras verstreut lag – klein, unwichtig und bedeutungslos.

Er wandte sich dem Spiegel zu und setzte die Klinge an. Eine Lieblingsredensart seines Großvaters fiel ihm ein: Ein schlechter Mann versteckt sich hinter einem Bart wie Luzifer. Stanton kannte Männer, die sich mit einem scharfen Jagdmesser zufriedengaben, manche benutzten sogar eine Axt, aber für ihn musste es ein gerades Rasiermesser sein. Die Kälte des Stahls an seinem Hals schreckte ihn nicht. Er mochte sie sogar.

»Eigentlich hätte ich Sie nicht für eitel gehalten, Charles Stanton«, kam eine Stimme von hinten, »aber wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass Sie sich gerade im Spiegel bewundern.« Edwin Bryant kam mit einer Blechtasse voll Kaffee heran. Sein Lächeln verblasste. »Sie bluten.«

Stantons Blick wanderte zu dem Rasiermesser. Die Klinge war rot. Im Spiegel sah er einen blutigen Strich auf seinem Hals, fünf Zentimeter lang und klaffend, genau an der Stelle, wo die Klinge gewesen war. Sie war so scharf, dass er nicht das Geringste gespürt hatte. Er riss das Handtuch von seiner Schulter und presste es auf die Wunde. »Ich muss abgerutscht sein.«

»Setzen Sie sich«, erwiderte Bryant. »Lassen Sie mich mal sehen. Mit Medizin kenne ich mich ein bisschen aus, wie Sie wissen.«

Stanton wich zurück. »Mir fehlt nichts. Ein kleines Missgeschick, nichts weiter.« Genau das war, zusammengefasst, diese ganze verfluchte Reise: ein »Missgeschick« nach dem anderen.

Bryant zuckte die Achseln. »Wenn Sie meinen. Wölfe wittern das Blut aus zwei Meilen Entfernung.«

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Stanton. Er wusste, Bryant war nicht den ganzen Weg von der Spitze des Trosses herübergekommen, bloß um zu reden. Nicht, wenn sie sich eigentlich fertig machen sollten. Um sie herum tobte das übliche allmorgendliche Chaos: Die Fahrer trieben die Ochsen zusammen, und der Boden erzitterte unter dem Gewicht der Tiere. Männer bauten ihre Zelte ab und luden sie auf die Wagen, oder sie löschten das Lagerfeuer mit Sand. Die Luft war vom Geschrei der Kinder erfüllt, die das Wasch- und Trinkwasser in Eimern herbeiholten.

Stanton kannte Bryant noch nicht lange, aber die beiden hatten sich schnell angefreundet. Die Gruppe, mit der Stanton zuvor gereist war – ein kleiner Wagentreck aus Illinois, hauptsächlich aus den Familien Donner und Reed bestehend –, hatte sich vor Kurzem in der Nähe von Independence mit einem größeren Treck vereinigt, der von dem pensionierten Offizier William Russell angeführt wurde. Edwin Bryant war einer der Ersten aus der Russell-Gruppe gewesen, die sich vorstellten, und er schien Stantons Gesellschaft zu suchen; vielleicht weil sie beide allein reisten – inmitten all der Familien.

Äußerlich gesehen, war Bryant Stantons genaues Gegenteil. Stanton war groß, eine imposante Erscheinung, ohne es darauf anzulegen. Sein ganzes Leben lang schon bekam er Komplimente wegen seines Aussehens, das er wohl von seiner Mutter geerbt hatte. Er hatte das gleiche wellige, dunkelbraune Haar und die gleichen gefühlvollen Augen.

Dein Aussehen ist ein Geschenk des Teufels, Junge. Du verleitest andere zur Sünde. Das war noch so ein Ausspruch seines Großvaters gewesen. Einmal hatte er Stanton mit der Gürtelschnalle mitten ins Gesicht geschlagen, vielleicht um den Teufel auszutreiben, den er darin sah. Es war vergeblich. Stanton behielt alle seine Zähne, die Nase heilte wieder, und die Narbe auf seiner Stirn war inzwischen verschwunden. Der Teufel war, soweit Stanton wusste, immer noch in ihm.

Edwin Bryant mochte zehn Jahre älter sein als er. Die Jahre als Zeitungsjournalist hatten ihn weicher gemacht, als die meisten anderen Männer im Treck es waren – Farmer, Tischler und Schmiede, Männer, die ihren Lebensunterhalt mit harter körperlicher Arbeit verdienten. Er hatte schlechte Augen und trug fast ständig eine Brille. Sein Haar war immer zerzaust, als wären seine Gedanken regelmäßig woanders. Trotzdem war er ohne Zweifel klug, wahrscheinlich sogar der Klügste von allen hier. Ein paar Jahre hatte er bei einem Arzt gelernt, damals, als er noch jung war, wollte sich aber nicht in die Rolle des Lagerarztes pressen lassen.

»Sehen Sie sich das an.« Bryant trat nach einem Büschel Grau, eine kleine Staubwolke flog auf. »Ist es Ihnen auch aufgefallen? Das Gras ist ungewöhnlich trocken für diese Jahreszeit.«

Sie waren seit Tagen in dieser Ebene unterwegs, der Horizont bildete eine lange flache Linie aus hohem Präriegras und Gestrüpp. In der Ferne erhoben sich goldbraune und rot-gelbe Hügel, manche wie knorrige Finger direkt gen Himmel gereckt. Stanton ging in die Hocke und riss ein paar Halme aus. Sie waren kurz, keinen Fuß lang, und schon zu einem stumpfen Grünbraun verblasst. »Sieht so aus, als hätte es hier vor nicht allzu langer Zeit eine Dürre gegeben«, erwiderte er. Stanton stand auf, klopfte sich den Staub von den Händen und blickte hinaus in den violetten Dunst am Horizont. Das Land vor ihnen schien endlos.

»Dabei haben wir die Ebenen gerade erst betreten«, merkte Bryant an.

Es war klar, worauf er hinauswollte: Möglicherweise gab es unterwegs nicht genug Gras für die Ochsen und das restliche Schlachtvieh. Gras, Wasser, Holz: die drei Dinge, auf die jeder Treck dringend angewiesen war. »Die Bedingungen sind schlechter, als wir gedacht hatten, und wir haben noch einen langen Weg vor uns. Sehen Sie den Höhenzug dort in der Ferne? Das ist erst der Anfang, Charles. Dahinter kommen richtige Berge – Wüste, Prärie und Flüsse, breiter und tiefer als alles, was wir bisher durchqueren mussten. Bis zum Pazifik haben wir noch einiges vor uns.«

Stanton kannte die Litanei. Seit sie vor zwei Tagen an der Trapperhütte bei Ash Hollow vorbeigekommen waren, redete Bryant von kaum etwas anderem. Die verlassene Hütte diente inzwischen als eine Art Vorposten. Viele, die in die dahinterliegenden Ebenen weiterfuhren, ließen dort Briefe zurück in der Hoffnung, dass der Nächste, der von Ash Hollow nach Osten unterwegs war, sie zu einem Postamt mitnahm. Die meisten dieser Briefe waren nicht mehr als ein gefaltetes Stück Papier, mit einem Stein beschwert.

Beim Anblick der Briefe hatte Stanton einen eigenartigen Trost verspürt. Sie waren wie ein Beweis für die Freiheitsliebe der Menschen, für ihren Wunsch, ihre Lebenssituation zu verbessern, gleichgültig wie hoch das Risiko sein mochte. Bryant hingegen erschien inzwischen ganz aufgeregt. Sehen Sie sich doch all diese Briefe an. Das müssen Dutzende sein, vielleicht sogar mehr als hundert. Die Siedler, die sie geschrieben haben, sind alle vor uns auf dem Trail. Wir gehören zu den Letzten, die sich dieses Jahr auf den Weg machen, und Sie wissen, was das bedeutet, nicht wahr?, hatte er Stanton gefragt. Wir sind vielleicht zu spät dran. Wenn der Winter kommt, macht der Schnee die Gebirgspässe unpassierbar, und in diesen Höhen kommt der Winter früh.

»Geduld, Edwin«, erwiderte Stanton. »Wir sind doch gerade erst von Independence aufgebro…«

»Und trotzdem haben wir schon Mitte Juni. Wir kommen zu langsam voran.«

Stanton legte das Handtuch zurück auf seine Schulter und sah sich um: Die Sonne war schon vor Stunden aufgegangen, und trotzdem war das Lager noch immer nicht abgebrochen. Überall saßen die Familien noch um die herunterbrennenden Kochfeuer und beendeten ihr Frühstück. Mütter mit Babys auf den Armen tauschten den jüngsten Klatsch aus. Ein Junge spielte mit seinem Hund, statt die Ochsen vom Grasen zu holen.

»Wer könnte ihnen an einem so schönen Morgen das Trödeln schon verübeln?«, sagte er leichthin. Nach vielen Wochen auf dem Trail hatte es niemand eilig, den nächsten Tag zu beginnen. Die Hälfte der Männer hatte es ohnehin nur dann eilig, wenn es darum ging, das nächste Fass Bier oder Schnaps aufzumachen. »Wenn, dann müssen Sie mit Russell sprechen.«

Bryant runzelte die Stirn und stellte seine Kaffeetasse ab. »Ich habe schon mit ihm gesprochen. Er ist der gleichen Meinung, trotzdem unternimmt er nichts. Kann niemandem was abschlagen. Anfang der Woche – Sie erinnern sich – hat er den Männern eine Büffeljagd erlaubt. Danach haben wir zwei Tage Pause gemacht, um das Fleisch zu räuchern und zu trocknen.«

»Vielleicht werden wir später noch dankbar sein für das Fleisch.«

»Ich garantiere Ihnen, dass wir unterwegs noch mehr Büffeln begegnen werden. Aber die verlorenen Tage holen wir nicht mehr auf.«

Stanton sah ein, dass Bryant recht hatte. Er wollte nicht mit ihm streiten. »Gut. Heute Abend gehe ich mit Ihnen zu Russell, und wir sprechen gemeinsam mit ihm. Wir zeigen ihm, dass wir es ernst meinen.«

Bryant schüttelte den Kopf. »Ich habe das Warten satt. Ich bin hier, weil ich Ihnen sagen möchte, dass ich den Treck verlassen werde. Ich und ein paar andere, wir reiten mit unseren Pferden voraus. Die Wagen sind zu langsam. Die Familienväter … ich verstehe ja, dass sie ihre Wagen brauchen. Sie haben kleine Kinder, Alte und Kranke dabei. Sie müssen auf ihr Hab und Gut...


Katsu, Alma
Alma Katsu ist Hochschulabsolventin der Johns Hopkins University und der Brandeis University, wo sie zusammen mit John Irving Literatur und Schreiben studierte. Sie arbeitete viele Jahre als Senior Intelligence Analyst für verschiedene US-amerikanische Bundesbehörden und ist derzeit Analystin eines Thinktanks. Ihr Debütroman The Taker war unter den Top Ten der American Library Association. Alma Katsu lebt mit ihrem Mann außerhalb von Washington, DC.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.