Kastenholz / R. Andara | HOFFNUNGSLOS TOT | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 81 Seiten

Kastenholz / R. Andara HOFFNUNGSLOS TOT

Die Krankheit zum Tode

E-Book, Deutsch, 81 Seiten

ISBN: 978-3-7554-0068-4
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Der Graphiker Paul Timor ist eigentlich der Ansicht, es kann für ihn nicht schlimmer kommen: Für den Mord an einem Priester und dessen Leibwächter sitzt er eine lebenslange Haftstrafe ab. Soweit als möglich hat er sich mit den Mitgefangenen arrangiert.   Doch die Hoffnung stirbt zuletzt, und den Letzten beißen die Hunde.   Bald schon erkennt Paul, dass man in dieser neuen Welt, nach einer verheerenden globalen Pandemie, immer mit dem Schlimmsten rechnen muss und sich selbst auf den Tod nicht mehr verlassen kann ...
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Kapitel 2
    Die Welt endet nicht hinter dem nächstbesten Hügel. Dahinter liegt nur ein weiteres Tal, ein See, ein Strand vielleicht, an den der Ozean wäscht. Und egal, wie endlos dieser wiederum anmuten mag, auch dahinter erstreckt sich nur weiteres Land: Berge, Wälder, Wiesen, Städte, Straßen. Die Welt endet nicht, richtig? Falsch! Im Gefängnis muss man gar nicht so weit blicken, damit man das Ende der Welt erkennen kann. Hier liegt es bereits jenseits der nächsten verschlossenen Türe. Davor, dahinter, draußen – das alles gibt es hier nicht, hier existieren lediglich Zement und Stahl, feindselige Gebärden, nervöse Schulterblicke und der tägliche Kampf ums Überleben. So dramatisch sich das jetzt auch anhören mag, man gewöhnt sich daran. Nicht sofort und nicht jeder, klar, aber wenn man erst einmal zu dieser großen Religion der Gleichgültigkeit konvertiert ist, in deren Kirche man hier jeden Tag beten gehen sollte, wenn man nicht die Hölle auf Erden leben will, dann sieht man sofort, wie absurd es ist, von Endlosigkeit und von der Größe der Dinge zu sprechen. Die Dinge sind niemals groß, niemals erhaben, sie sind fast immer klein, schmutzig und bedauernswert. Die richtige Umgebung rückt das schnell ins rechte Licht. Nicht Größe zählt hier, sondern bloß Notwendigkeit. Wenn man nicht gefangen gehalten wird, dann bemerkt man das nur schwer: zu viel Ablenkung. Aber ist man erst mal in diesen undurchdringlichen Gemäuern festgesetzt, wird man rasch zum Mönch, zum Erleuchteten, zum Hohepriester der Einsamkeit. Hier erkennt man das, was wirklich zählt, daran, dass man das eigene Überleben daran knüpfen muss. So erfährt man rasch, dass die wirklich wichtigen Dinge rar sind und nichts mit Endlosigkeit zu tun haben, sondern zumeist nur mit genau diesem einen Moment an genau diesem einen Ort. Für Männer wie Attila ist das keine große Erkenntnis. Attila wuchs in dieser kleinen, beengten Welt auf, deren Türen er öfter verschlossen als offen vorgefunden hat und deren Bewohner ihn öfter als einmal mit Haut und Haar auffressen wollten. Attila wurde von dieser mickrigen, verwinkelten Welt stark und hart gemacht. Sie zeigte ihm den erstrebenswerten Weg tief in die Wüstenei des Gleichmuts. Er ist es gewohnt, von Oase zu Oase zu ziehen und dabei von dem zu leben, was er gerade vorfindet. Kein angenehmes Leben, sicherlich, aber immerhin ein Leben. Er kann Leute wie mich nur belächeln, die wir uns in diese ungastliche Gegend verirrt haben und nun lernen müssen, was für ihn von Kindheit an klar war: Überleben bedeutet alles! Trotzdem ist Attila mein Freund. Zumindest ist dies noch der Begriff, den ich am ehesten verwenden würde, falls man mich nach meiner Beziehung zu ihm fragen würde. Was hier so gut wie niemals vorkommt, denn die Leute kümmern sich zumeist um ihren eigenen Kram; und wenn Beziehungen weder geschäftlicher noch sexueller Natur sind, sind sie völlig uninteressant und wertlos. Ich weiß nicht viel über Attila. Er spricht nicht oft über sich selbst. Was ich jedoch sagen kann, ist, dass er zu Beginn der  60er Jahre östlich von Debrezin, an der Grenze zu Rumänien, geboren wurde. Sein Vater war ein Soldat der Roten Armee, der sich dort auf einem kleinen Bauernhof niederließ, den er zuerst noch brandschatzend und plündernd heimgesucht hatte. Er hatte offensichtlich keine große Lust darauf, heimzukehren nach Tiksi, an die Ostsibirische See. Deswegen heiratete er einfach die Tochter des Bauern, den er beim Überfall erst in der Woche zuvor getötet hatte. Er trat aus der Rote Armee aus  und ließ sich in Ungarn nieder. Das war im Großen und Ganzen auch schon alles, was er mir von sich erzählt hat. Attila war der Jüngste von acht Kindern, und seine Mutter starb noch im Kindsbett, gleich nach seiner Geburt. Den Rest musste ich mir selber zusammenreimen oder von den Gefängniswärtern erkaufen. Vor sechs Jahren, als die Chinesische Grippe gerade ihren Höhepunkt erreicht hatte und die riesige, asiatische Massenflucht über Russland und den mittleren Osten hinweg schwappte, bekam es auch Europa zusehends mit der Panik zu tun. Vom Osten her drängten Russland und die Türkei an die europäischen Grenzen. Die Menschen hatten Angst vor der Krankheit, die Asien fest im Würgegriff hielt. Der direkte Kontakt mit einem Infizierten kostete einem sicher das Leben. Viele Städte, die auf der Fluchtroute dieser chinesischen Völkerwanderung lagen, wurden kampflos geräumt. Die Ansässigen fürchteten den Gelben Tod, den die Flüchtlinge mit sich brachten, daher zogen sie es vor, zu fliehen anstatt zu kämpfen. In Wirklichkeit handelte es sich bei diesem Gelben Tod Epidemiologen zufolge um ein mutiertes Virus, das eine ähnliche Symptomatik verursachte wie die Multiple Sklerose. Die ersten Anzeichen für die Erkrankung waren zumeist ein Taubheitsgefühl in den Extremitäten, im späteren Verlauf oft gepaart mit auftretenden Sehstörungen.  Es folgte starker Schwindel, Gleichgewichtsstörungen, Lähmungserscheinungen. Letztendlich starben die Leute an den Folgen eines schweren Defekts ihres Nervensystems – zumeist an Hirnschlag oder Herzinfarkt. Kurzzeitig sprach man sogar von einer Form der Pest, jener apokalyptischen Krankheit, die Europa bereits im Mittelalter schwer gebeutelt hatte, weil im Endstadium der Erkrankung Geschwüre in der Achsel- und Leistengegend wucherten, die sehr bald nach ihrem Erscheinen aufbrachen und zu eitern und nässen begannen. Eigentlich für ausgerottet erklärt, suchte sie am Ende des dritten Jahrzehnts des dritten Jahrtausends die Welt erneut heim. Dieses Mal erwählte sie sich für ihre Ankunft Zentralasien und wütete dort unbarmherziger und tödlicher denn je. Als die Pandemie ausbrach, gab es keine Heilung. Die Menschen kannten als Antwort auf die Krankheit nur die Flucht davor. Auch die Länder in Europa begannen damit – auf der einen Seite von den stetig strömenden Flüchtlingsmassen bedrängt, auf der anderen den begrenzenden Nordatlantik im Nacken –, sich eine Exit-Strategie zurechtzulegen. Offiziell herrschte Frieden in Europa. Aber Berichte über  marodierende Truppen, die vor allem durch die östlichen Grenzgebiete von Polen, Tschechien, Deutschland und Österreich streiften, nahmen allmählich Überhand. Wie bald klar wurde, waren diese Marodeure geheime Spezialkommandos, die unter dem Deckmantel abtrünniger Einheiten mögliche Fluchtrouten durch die Verteidigungslinien der Nachbarländer auskundschaften sollten. Für den Fall, dass der Druck aus dem Osten zu groß würde und die eigenen Grenzen nicht mehr zu halten wären, sollten sie gewährleisten, dass Pläne für einen raschen, militärisch gedeckten Rückzug über das Gebiet der Nachbarstaaten, bereit lagen. Eine offizielle Verwicklung hätte keines der involvierten Länder zugegeben, denn dies hätte in diesen angespannten, krisengeschüttelten Zeiten so gut wie sicher Krieg bedeutet. Krieg, der die Landesressourcen empfindlich geschwächt hätte, die man aber wiederum dringend für eine immer wahrscheinlicher werdende Evakuierung aufsparen musste. Attila diente in einer dieser vorgeschobenen marodierenden Truppen – den Jobbik. Eine rechtsextreme, neofaschistische Garde, die erst vor Kurzem, nach der Rückgewinnung der politischen Macht der Mutterpartei in den ungarischen Wahlen 2024, wieder aus der Illegalität gehoben und als zugelassene militärische Einheit eingeführt wurde. Attila war der Kommandeur eines kleinen Jobbik-Stoßtrupps, der sich mordend und vergewaltigend am Westufer des Neusiedlersees entlang schlug. Schlussendlich vom österreichischen Militär gejagt und gestellt, überlebte diese Konfrontation bloß Attila – als Einziger seines Kommandos; schwerverletzt wurde er in Kriegsgefangenschaft genommen. Das alles geschah noch zu Beginn der Grenzkonflikte. Bereits wenige Wochen später war klar, dass sich so schnell keine Entspannung der Lage ergeben und zu viele Kriegsgefangene eine ernstzunehmende Belastung für die Versorgung in den österreichischen Gefängnissen bedeuten würden. Man ging deshalb bald dazu über, aufgegriffene Marodeure noch an Ort und Stelle zu exekutieren. Attila hingegen hatte es da bereits in den normalen Strafvollzug geschafft, weil er im Krankenhaus, in dem er notversorgt worden war, einen der zivilen Pfleger vergewaltigte und in der Folge strafrechtlich angeklagt und im Schnellverfahren zu acht Jahren Gefängnisstrafe verurteilt wurde – ehe er noch vors Kriegsgericht kam. Wer Attila kennt, weiß, dass dies ein gut durchdachter Plan war, der ihm das Überleben sicherte. Er versteckt sich gerne hinter der Fassade des aufbrausenden ungarischen Soldaten, in Wahrheit ist er aber ein brillanter Taktiker, dem es binnen kürzester Zeit gelang, wichtige Handelsstrukturen im Gefängnis von den Tschetschenen und Georgiern zu übernehmen, talentierte und loyale Mitarbeiter um sich zu scharen – die natürlich auch den einen oder anderen geschmierten Wärter miteinschloss – und diese rasch zum gewinnbringendsten Import- und Warenimperium auszubauen. Soviel zur Geschichte des Mannes, den ich zurzeit noch am Ehesten als eine Art Freund bezeichnen...


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