E-Book, Deutsch, Band 2, 471 Seiten
Reihe: Phoenix
Karschnick Phoenix: Flammenmeer
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7579-6704-8
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, Band 2, 471 Seiten
Reihe: Phoenix
ISBN: 978-3-7579-6704-8
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Der Himmel verfärbte sich. Das helle, strahlende Rot eines dahinschwindenden Tages stach aus der tristen, aschfahlen Schwärze der Nacht hervor. Doch Tavi beachtete die letzten weißen Wolkenflecken am Himmel nicht - für sie gab es nur das Rot. Rot wie Feuer. Ein Jahr nach den Ereignissen in Hamburg ist Tavi immer noch auf der Flucht. Sie reist nach Paris, um sich ihrer Vergangenheit zu stellen, doch dort treibt erneut ein Mörder sein Unwesen. Diesmal werden jedoch keine Menschen umgebracht, sondern Seelenlose. Niemand scheint mehr sicher zu sein. Tavi versteckt sich im Untergrund, wo sich eine Gruppe von Seelenlosen zu einer Rebellion gegen die Regierung zusammengeschlossen hat. Begeistert schließt sie sich an, doch etwas stimmt nicht mit den Rebellen. Befindet sich der Mörder etwa in den eigenen Reihen? Der zweite Teil von Ann-Kathrin Karschnicks fulminanter Phoenix-Trilogie, enthüllt weitere Geheimnisse der von Nikola Tesla so veränderten Zukunftswelt.
Ann-Kathrin Karschnick ist Autorin für unter anderem Phantastik, aber eigentlich ist sie nur eine Autorin, die verzweifelt versucht, den Stimmen in ihrem Kopf Geschichten zu geben. 2014 gewann sie neben dem Hombuch-Preis als beste deutschsprachige Autorin auch den Deutschen Phantastikpreis mit dem Roman Phoenix - Aschegeboren (Tochter der Asche). Ihr Markenzeichen ist das grüne Kleid. Egal, ob Lesung, Convention oder Messe: Ohne das grüne Kleid ist sie nicht unterwegs.
Autoren/Hrsg.
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Aufbruch
Tavi & Leon Der Himmel verfärbte sich. Das helle, strahlende Rot eines dahinschwindenden Tages stach aus der tristen, aschfahlen Schwärze der Nacht hervor. Doch Tavi beachtete die letzten weißen Wolkenflecken am Himmel nicht – für sie gab es nur das Rot. Rot wie Feuer. Rot wie die glühenden Wände, die beinahe ein Jahr zuvor Nathan in einem von ihr verursachten Brand verzehrt hatten. An der Felswand vor Tavi, ging es steil bergab. Der Boden lag sowohl auf der Erde als auch in den Abgründen ihrer Seele in düstere Schatten gehüllt, so dass sie ihn nicht sah und sie nicht sagen konnte, welcher tiefer lag. Sie ahnte mit brennender Deutlichkeit, dass sie nicht nähertreten wollte – sie wollte nicht, dass sich der Nebel hinter dem Abgrund lichtete. Einer dieser Nebelfäden lag nur einen weiteren Sonnenaufgang entfernt. Beim nächsten herbstlichen Morgenrot würde seit Nathans Tod ein Jahr vergangen sein. Ein Jahr Trauer, ein Jahr Flucht, ein Jahr, in dem Tavi nicht gewusst hatte, welchen Sinn das unsterbliche Leben machte. »Du willst doch wohl nicht, dass ich da runterspringe.« Leons Stimme ging am Ende nach oben, so dass es sich vielmehr wie eine Frage anhörte. Tavi stand nur da. Sie war in Gedanken nicht bei ihm. Sie folgte nur dem Nebel, in dem Nathans Gesicht immer wieder auftauchte und der ihr die Sicht zum Boden verwehrte. Leon war das ganze Jahr bei ihr gewesen, hatte sie gestützt. Tag um Tag. Auch am härtesten Tag ihres Lebens. Trotz der Tatsache, dass auch sein Leben sich vor genau einem Jahr verändert hatte. Er lebte jetzt als Cupido unter den sogenannten Seelenlosen – unter den Wesen, die er einst als Mitglied der Kontinentalarmee gejagt und vernichtet hatte. Inzwischen hatte er gelernt, dass sie sich selbst nicht gerne Seelenlose nannten. Androgyne war die Bezeichnung, die schon seit Jahrhunderten unter den Andersartigen gängig war, die jedoch nach und nach in Vergessenheit geraten war. Seelenlos wurden sie nur von einem totalitären System genannt, das die Armen unterdrückte und das den Wohlhabenden ihre Macht nahm. Trotzdem gaben sich die Seelenlosen dieses Zeitalters mit dem Namen zufrieden, den ihnen das Volk gegeben hatte. Sie waren die Seelenlosen, die Ausgestoßenen, die die angeblich ohne Gefühl, Herz und Ehre das Leben der Menschen zur Hölle der europäischen Diktatur machten. »Tavi?« »Ja?«, fragte sie und bemerkte, dass er schon eine ganze Weile versucht hatte, mit ihr Kontakt aufzunehmen. »Soll ich allen Ernstes dort runterspringen?« Leon kleine Flügel zitterten leicht. Er schien immer noch Angst davor zu haben, das Fliegen überhaupt zu lernen. »Noch nicht«, antwortete Tavi und nahm ihm den zusammengefalteten Bogen und den Köcher ab, die er seit ein paar Wochen bei sich trug. »Wir warten, bis die Nacht den Nebel verscheucht hat.« *** Leon stand dicht am Abgrund und packte Tavi ein letztes Mal an der Hand. Der Nebel hatte sich gelichtet. »Wenn ich springe, kommst du mit?« Er wollte ihre Zusicherung mit Handschlag besiegeln. Nicht dass sie sich kurz vorher umentschied. »Ja«, sagte sie, »aber nur, solange du deine Flügel benutzt. Solltest du dir alle Knochen brechen, werde ich dich bestimmt nicht tragen.« Den ermahnenden Ton in ihrer Stimme überhörte er und ließ ihre Hand los. Wenn er es schaffte, seine Angst zu überwinden, dann konnte er endlich diese verdammte Höhle verlassen. Schon seit Monaten lebten sie in dieser zugigen Unterkunft und hofften, dass keine zufällige Luftstreife sie entdeckte. Wie gerne wäre er doch stattdessen im Schwarzwald geblieben. »Um mich tragen zu können, müsstest du erst einmal fliegen«, konterte Leon, während er sich gleichzeitig darauf vorbereitete, abzuspringen. Er schob seine Fußspitzen über den Rand des Abgrunds und trat ein halbes Dutzend Kieselsteine hinunter. Leon sah zu, wie bedrohlich lange es dauerte, bis die kleinen Steine auf dem Boden aufschlugen und davonkullerten. »Fliegen! Nicht fallen lassen und unten heilen.« Leon drehte den Kopf, verzog das Gesicht zu einer Grimasse und behielt den Blick auf die Tiefe gerichtet. »Keine Sorge. Das passiert mir nicht noch einmal.« In Wirklichkeit war es ihm schon zweimal passiert, aber das vor Tavi zuzugeben, ließ sein Stolz nicht zu. In einer Nacht, ziemlich am Anfang der Flucht hatte er versucht, sich von einem ähnlich hohen Felsen hinunterzustürzen, um ebenfalls durch die Luft zu gleiten. Der Absturz war gleichermaßen peinlich und ebenso schmerzhaft ausgegangen. Er hatte keinerlei Kontrolle über seine Flügel gehabt, so dass sie nicht auf Befehl aus seinem Rücken brachen. Seither hatte er es nur einmal unter Tavis Aufsicht probiert und war ebenso grandios daran gescheitert. Diesmal jedoch hatte er ein gutes Gefühl. Er würde es mit Sicherheit schaffen. Noch eine weitere Woche in dieser Höhle hielt er auf keinen Fall aus. Er musste mit Tavi fort von hier, sonst würde er sie an ihre eigene Traurigkeit verlieren. Sie selbst würde es den Verlustschmerz wegen Nathan nennen. Leon hingegen wachte manchmal nachts auf, weil er ihre Schmerzen fühlte. Er ahnte, dass sie den Wind in den Federn brauchte, um dieser Trauer zu entgehen. Das Leben in einer miefigen Höhle, die ihm in menschlicher Gestalt mit Sicherheit eine Lungenentzündung beschert hätte, half dabei nicht. »Was muss ich bedenken, damit ich nicht aufschlage?«, fragte er. »Das kann ich dir nicht sagen. Wärst du als Phoenix wiedergeboren worden, könnte ich dir helfen. Aber als Cupido bist du auf dich alleine gestellt.« »Das ist keine große Hilfe.« Tavi seufzte, blieb dabei aber geduldig, wie eine Lehrerin, die ihrem Schüler zum dritten Mal versuchte, die Grundrechenarten zu erklären. »Du musst die Empfindung erfühlen, die deine Kräfte auslöst. Bei mir ist es die Leidenschaft für eine Sache«, erklärte sie und strich ihm über den Unterarm. Eine Gänsehaut zog sich von seinem Haaransatz in den Nacken. Nicht die Berührung löste sie aus, sondern die Liebe, die sich in Tavi ausbreitete. Leon hatte Schwierigkeiten, ihre Gefühle von seinen zu unterscheiden. Manchmal glaubte er, endlich die Kontrolle darüber zu haben, nur um in der Nacht wieder schweißgebadet zu erwachen und Tavis Alpträume zu spüren. »Damit weckst du eine ganz andere Emotion in mir«, murmelte er mit rauer Stimme und lächelte sie an. »Konzentrier dich!« Sie schlug ihm auf den Arm und stellte sich mehrere Schritte entfernt an die Seite. Auf ihren Wangen lag ein orangeroter Schimmer, so wie damals, als er ihr das erste Mal begegnet war. Bei der Befragung am Tatort. Damals hatten ihre Augen von innen heraus geleuchtet. Bei dem Gedanken an diesen Tag flatterte sein Herz, so wie es auch seine Flügel taten. Die weiße Farbe schillerte nicht so hell wie auf Tavis Federn, dennoch liebte er seine Flügel. Statt den ausgedehnten, weiten Schwingen eines Phoenix' besaß er als Cupido ein kleines, beinahe mickriges Flügelpaar. Auch das war ein Grund, warum er ihnen weniger traute. Sie wiesen nicht einmal die Hälfte der Größe von Tavis Flügeln auf. Und die einzigen Male, in denen sich seine Flügel gezeigt hatten, waren Augenblicke, die ihn allein beim Gedanken daran das Blut in den Schritt trieben. Beim Sex mit Tavi konnte er sich meist zurückhalten, aber wenn sie ihm etwas Neues zeigte, dann brachen seine Flügel durch, was Tavi nur noch mehr anmachte. »An was hast du gedacht?«, fragte sie ihn. »Nichts«, schmunzelte er in sich hinein und schrieb sich geistig eine Notiz, dass er als Cupido natürlich die Liebe als Auslöser brauchte. Darauf hätte er auch gleich kommen können. »Was es auch war - scheinbar wirkt es, also merk es dir. Spring. Oder soll ich dich runterstoßen?« »Ich springe. Ich bin 25 Jahre ohne Flügel auf der Erde herumgelaufen. Gib mir einen Moment. Das ist alles neu für mich.« »Ein weiterer Grund, sie endlich auszuprobieren und herauszufinden, wozu sie gut sind.« Sie stieß ihm einen Finger in die Seite. »Schon gut. Ich springe ja gleich. Aber wenn ich abstürze, pflegst du mich, bis ich geheilt bin.« Tavi lachte. »Solltest du abstürzen, werde ich deine Wunden mit meinem Mund küssen, bis sie nicht mehr da sind.« Leon grinste und stürzte sich mit einem unerwarteten Sprung in den Abgrund. »Ich nehme dich beim Wort«, schrie er über die Schulter, ehe er sich voll und ganz auf seinen Flug konzentrierte. Er dachte an die Liebe, die mit jedem Herzschlag durch seinen Körper floss, wie Tavi die Federn einzeln berührte und wie sie ihn liebkoste. Ein Schnurren glitt durch seinen Körper und zauberte einen Flügelschlag hervor. Der Fallwind trieb ihm die Tränen in die Augen und verschleierte seine Sicht, so dass er die Lider schließen musste. Innerhalb weniger Augenblicke veränderte sich seine Wahrnehmung. Jeder Luftzug in seinen Federn gab ihm Zuversicht. Er schaffte es, dass die Flügel mit einem kräftigen Schlag den Fall abbremsten. Statt weiter zu stürzen, hielt er beinahe in der Luft an und flatterte auf der Stelle. »Ich fliege«, rief er. Er lachte und eine Welle der Glückseligkeit durchfloss ihn. Mehrere Meter unter ihm erkannte er den Waldboden, sah den mit Kieselsteinen bedeckten Weg und … erstarrte. Leon wollte die Flügel wieder schlagen lassen. Doch erfolglos. Die Kraft versagte in derselben Geschwindigkeit wie sie durch seine Federn geschossen war. »Ich schaffe das«, murmelte er halblaut vor sich hin. »Ich bin ein Mann, der in der Kontinentalarmee gedient hat. Höchste Konzentration. Ich habe die beste Ausbildung genossen, die man...