E-Book, Deutsch, 140 Seiten
Karpe Die Kurve der Zeit
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7528-1889-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Erinnerungen an morgen, heute, gestern
E-Book, Deutsch, 140 Seiten
ISBN: 978-3-7528-1889-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Leif Karpe (geb. 1968) wuchs im Schwarzwald, Brasilien und dem Ruhrgebiet auf. Er lebt in Berlin und arbeitet als freier Autor, Regisseur und Kameramann mit den Themenschwerpunkten Kultur und Reise. Seit den fru?hen 90er Jahren war er an u?ber 100 Filmproduktionen beteiligt. Als Buchautor hat er u.a. Geschichten u?ber Sevilla (mit Bettina Arlt) und dem Berliner Tiergarten (mit Beatrice Po?tschke) vero?ffentlicht. Sein letztes Buch Weltfahrt ist im November 2016 erschienen. Er betreibt die Produktionsfirma Planet Pictures, die u.a. fu?r ARTE und das ZDF Filme herstellt.
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PROLOG
WEISSE SCHWÄNE
(Josef von Sternberg: „Das Blau des Engels“)
Ich weiß nicht genau, was mich auf das Schiff trieb. Der Tag war sonnig, eine steife Brise aus Nord-West, so wie sich das für Hamburg gehört. Mein Freund Said und ich drehten ein arabisches Musikvideo im Hafen. Die Diva kam zu spät – wie sich das für arabische Divas eben gehört. Nachtschwärmerinnen, die spät ins Bett gehen und spät aufstehen, dann Stunden vor dem Spiegel in der Maske verbringen. Was für eine sinnlose Zeitverschwendung, dachte ich, schließlich kannte man mich als den „orientalischen von Sternberg“. Es war der Grund, warum Said mich angeheuert hatte.
In der arabischen Popbranche eilte mir lustigerweise der Ruf als der Kameramann voraus, der die Frauen zu fotografieren wusste. Dabei hielt ich mich an nichts anderes als den alten : Porträts leicht über Augenhöhe fotografieren und dann weiches Licht bis zum Anschlag. So wie bei Marlene Dietrich. hießen damals die aktuellen Weichzeichner-Filter für die Kameras und der stärkste hatte den Wert 12, der sollte es immer sein.
Ich war Mitte 30, als ich mein letztes Musikvideo mit Said drehen sollte. Nach vielen Jahren hatte ich genug von den nervenaufreibenden bis zu 20 Stunden dauernden Drehtagen und den Eskapaden arabischer Musikdiven. Also, noch ein letztes Mal. Ein Clip mit der syrischen Sängerin Houaida. Said, der Optimist, hatte sich ein Video im Stile von vorgestellt. Houaidi in Franka-Potente-Manier sollte rennen, rennen, rennen. Als der Produzent die ersten Testaufnahmen dieser ganz und gar unsportlichen im Entengang (Verzeihung Houaida, sonst warst du echt in Ordnung!) laufenden Sängerin sah, war er schockiert und schasste alle – bis auf Said. Aber sein Besetzungsfehler kam Said teuer zu stehen. Er musste nun auf eigene Kosten ein Video drehen, denn sein Ruf stand auf dem Spiel. Also, alles zurück auf Anfang.
Wir drehten vor Hafenkulisse. Houaidi im weißen Gewand auf einem Schlepper, singend und tanzend durch die Speicherstadt, eine riesige Windmaschine davor, arabische Rhythmen … das war die Idee. Alles war eingerichtet, doch wer fehlte: der Star. Wie so oft brauchte es bei Maske und Kostüm Stunden. Und so ließ ich das Set Set sein und machte mich zu einem kleinen Hafenspaziergang auf.
Neben mir ragten die roten Backsteingebäude wie Felsen aus dem Wasser. Es roch nach altem Hafenbecken. Wie sich diese alten Gebäude doch von der neuen Hafencity unterschieden. Mit ihren offenen mannshohen Fenstern, aus denen schwere Flaschenzüge hingen, ragten sie sich gen Himmel. Noch 50 Jahre zuvor hatte man damit Waren aus aller Welt hineingezogen. Aus den Bäuchen der Schiffe, die nach monatelanger Fahrt an den Kais der Lagerhäuser anlegten, um hier ihre Wunder aus der fremden Welt auszuschütten. Aus China, Australien, Indien, Persien. Jede Ladung eine Überraschung.
Die neue Hafencity könnte überall stehen, dachte ich. Blanke, sandgestrahlte Farben, ein monochromes Schneckengehäuse. Eindrucksvoll und austauschbar zugleich. Während man in den alten Gebäuden der Speicherstadt fast noch den Schweiß der Matrosen roch, stand die Hafencity für das neue Hamburg. Wandel durch Handel. Ich habe mal gelesen, daß bis ins 20. Jahrhundert große Schiffe noch von Architekten entworfen wurden. Und in der Hafencity standen nun viele Gebäude, die wie Schiffe aussehen sollen. Vielleicht war es ja so, daß die Gesellschaft angekommen war, in den Hafen eingelaufen und festgemacht hatte. Mit diesen Gedanken erreichte ich schließlich die Landungsbrücken. Und blieb plötzlich vor einem Schiffe stehen. Es war lang, weiß und rot. Wie ein Schwan.
Ich weiß nicht warum, doch ich löste tatsächlich ein Ticket, um es zu besichtigen. Ich betrat die . 1961 von der Deutschen Werft AG, Hamburg, für die Reederei Hamburg Süd als letztes Schiff einer Serie baugleicher Stückgutfrachter der Cap-San-Klasse hergestellt. Zusammen mit ihren fünf Schwesterschiffen bediente die die Route Hamburg–Südamerika. , so nannte man die eleganten Schiffe. Sie transportierten Maschinen, Chemikalien und Automobile, aber auch trächtige Kühe, Äpfel, Birnen, Weintrauben nach Südamerika. Und kamen mit Orangen, Textilien, Kaffeebohnen, Süßölen und Fruchtsaftkonzentrat nach Hamburg zurück. Selbst Gefrierfleisch konnte befördert werden, damals eine Seltenheit. Und weil die Ladung Kühlfleisch in Buenos Aires oft durch Kuhfelle ergänzt wurde, die einzeln in den unteren Laderäumen ausgebreitet und eingesalzt werden mussten, lag die oft bis zu vierzehn Tage in Buenos Aires vor Anker. Aber das ist lange her.
Es war die Zeit, als der Interkontinental Verkehr mit Flugzeugen noch keine Selbstverständlichkeit war. Und es war die Zeit als Passagiere noch die Möglichkeit hatten, auf diesen Frachtern zu reisen und es sich gut gehen zu lassen. Die jeweils bis zu zwölf Fahrgäste an Bord erfreuten sich eines Service, den sonst nur Passagier- und Kombi Schiffe bieten konnten – von klimatisierten Kabinen über ein eigenes Passagierdeck mit Lounge und separatem Speisesaal bis zum Außenschwimmbad mit Poolbar. Fast 20 Jahre fuhr die im Liniendienst zwischen Europa und der Ostküste Südamerikas.
Ich stand an Deck der und tastete mich den teakhölzernen Handlauf entlang, der das Schiffsdeck umrahmte. „Ja, ein Schiff wie dieses. Ja, ein lustiger Zufall.“, dachte ich, und mir kam meine Kindheit in Brasilien in den Sinn.
Dort lebten meine Eltern Anfang der 1970er Jahre im Süden des Landes. Für meinen Bruder und mich bedeutete das eine Kindheit wie in den Straßenfeger-Sagas jener Zeit. Der Seewolf. Die Schatzinsel. Auch wir hatten ein Gürteltier, einen Hund namens Ratata und einen persönlichen Grillmeister. Aber als Kind stellt man nichts infrage. Weder das Angenehme noch das Unangenehme. So erschien mir damals auch unsere außergewöhnliche Zeit in einem südamerikanischen Land ganz normal. Erst als sich meine Eltern trennten, platzte diese Seifenblase. Meine Mutter packte ihre Sachen und verließ mit uns dieses wilde, grüne Land. An Bord eines Schiffes.
Mittlerweile war ich in den Bauch der hinab gestiegen. Die Kabinen und den Speisesaal durchwehte diese muffige, gediegene Atmosphäre aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Diese vergangene Eleganz des Reisens weckte in mir eine Sehnsucht.
Ich stellte mir vor, wie mein Bruder und ich hier schliefen. Auf einem Kreuzer wie diesem. Meine Mutter, die uns zu Bett brachte. In ein anderes Leben in der neuen Heimat. Und ich dachte an meinen Vater, wie er alleine in Brasilien saß. Mit Ratata.
Die Passagen nach Südamerika dauerten im Schnitt 14 Tage. So zumindest stand es auf den schlichten Tafeln in diesem Schiffsmuseum. Wieder an Deck, wehte mir der Wind um die Nase. Ich dachte an unsere arabische Diva und schielte auf die Uhr.
Ich war in der Mitte des Decks angekommen, doch wo ich eine Tanzfläche vermutet hatte (irgendwie passte das zu meiner mondänen Vorstellung eines Linienkreuzers), befand sich ein kleines Schwimmbecken. Leer, aber azurblau. Die kleine Leiter aus Metall am Rand glitzerte. Aber es war dieses Licht, das das Becken zurückwarf, das in mir eine Erinnerung weckte. Bei manchen Menschen sind es Gerüche, bei anderen Klänge, die Szenen aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurückholen. Bei mir sind es Licht und Farben. Etwas an dem kleinen Pool auf diesem Schiff, kam mir bekannt vor. Dieses Azurblau weckte Bilder in mir: Ich im Wasser, mit Schwimmflügelchen an den dünnen Oberarmen. In so einem Pool hatte ich meine ersten Schwimmversuche gemacht ... Aber meine Pause war um, entschied ich. altes Hamburg. . Hafencity. Also: Ausleuchten, Warten. Filmen.
Das Gefühl jedoch, das mich auf der überwältigt hatte, ließ mich nicht mehr los. Abends griff ich zum Telefon und rief meine Mutter an. „Barbara, wie hieß das Schiff mit dem wir aus Brasilien gekommen sind?“
„. Wieso?“ Ein großer Scheinwerfer ging an, und alle meine Erinnerungen fingen sich im Licht.
Zufälle gab es doch laut meinem Freund Said nicht. Entweder „du triffst Entscheidungen“ oder „das Leben trifft sie für dich.“ Und Said traf Entscheidungen. Said wartete nicht auf das Leben und auf das, was es für ihn vorsah. Und ich?
Warum war ich ausgerechnet auf dieses Schiff geraten? Und warum waren mir das dicke Tau und diese Seemannsknoten, diese letzte Verbindung zwischen Festland und...