Kappacher Die Werkstatt
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-552-06252-8
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Reihe: Deuticke im Zsolnay
ISBN: 978-3-552-06252-8
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seeger ist Rennfahrer, er fährt Stock-Car-Rennen in den USA, in präparierten Autos mit zugeschweißten Türen. In Darlington hat er sich die Schulter gebrochen; nun ist er in Salzburg, zu einem Urlaub in der alten Heimat. Eigentlich wollte er Ski fahren, doch nun treibt es ihn in die Motorradwerkstätte, in der er vor vielen Jahren seine Lehre begonnen hat. Ein paar Kollegen von früher sind da; tagelang sitzen sie zusammen und erinnern sich an die gemeinsame Zeit, die Welt der mühsamen Arbeitsverhältnisse, aber auch die Faszination der Maschine und der Geschwindigkeit. Kappacher versteht es, mit seinem undramatischen Erzählstil zu faszinieren und dem Leser eine neue Welt zu öffnen.
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Auf dem Hotelbett liegend, das gleichmäßige, dumpfe Dröhnen der Düsentriebwerke wieder im Ohr, spürte Seeger, wie seine freudige Erregung langsam einer Verstimmung wich, und er besann sich, während er auf seinen auseinandergeklappten, aber noch nicht ausgepackten Leichtmetallkoffer blickte, was sie ausgelöst haben könnte. Er fühlte sich verschwitzt, die Schulter schmerzte, und er war auch zu kraftlos, um sich auszuziehen und unter die Dusche zu stellen. Eindrücke von der langen Reise fuhren ihm durch den Sinn, in seinem Magen rumorte das unverdaute Mittagessen aus dem Speisewagen. Die verrostete Puch 250 am Gehsteigrand, als er aus der Bahnhofshalle gekommen war. Die beiden Eisenbahner, die in Rosenheim in das nur mehr von ihm besetzte Abteil hereingekommen waren, sich mit ihren abgewetzten Ledertaschen niedergelassen und im bayerischen Dialekt über die rätselhafte Kieferhöhlenkrankheit der Frau eines Schaffnerkollegen zu reden angefangen hatten. Seegers Versuche, sich an die Bedeutung einiger ihm vom Klang her vertrauten Worte zu erinnern. Der Fahrer des Taxis, der, als Seeger den Namen Rupertihof aussprach, nur genickt hatte und aufs Gas getreten war, so als fahre er jeden Tag hundertmal dorthin. In der Bahnhofshalle waren zwar junge Leute mit Rucksäcken und Skiern herumgestanden, aber auf der Fahrt von München her hatte er nur auf den Bergen Schnee gesehen. In seinen Gedanken war Seeger diesem Ort entgegengeeilt. Noch in der letzten Nacht, im Münchner Flughafenhotel, war er voll von einer freudigen Erwartung gewesen. Nun war er da, und seine Empfindungen wurden lahm und bang. Es war so schnell gegangen, er war nicht einmal vierundzwanzig Stunden unterwegs gewesen. Die Sehnsucht, die er drüben in den Vereinigten Staaten oft verspürt hatte, einmal wieder die Vogelweiderstraße hinunterzugehen, dann rechts in die Sterneckgasse einzubiegen, in den Hof der Werkstatt, den weitläufigen Hof mit den jungen Birken, um die sie als Lehrlinge Achterschleifen gedreht hatten; in Träumen war er in den letzten Jahren diesen Weg manchmal wieder gefahren, auf einem Motorrad, bis hin zur Werkstatt, und da waren Träume gewesen, in denen er mit den früheren Kollegen an der Werkbank stand, als wäre er nie fort gewesen. Was für ein Drang, das alles noch einmal zu sehen: die riesige Wandtafel, auf der das Spezialwerkzeug hing, die Werkbank, die an der Fensterfront vorne von Wand zu Wand reichte, die fünf Schraubstöcke und die kniehohen Arbeitsböcke, auf denen die Maschinen standen. Das Magazinfenster, durch das er seinen Kopf jeden Tag viele Male gesteckt und Schrauben oder Ersatzteile von Fröschl verlangt hatte … »Fahr doch hinüber«, hatte Bigwood gesagt, als er Seeger im Hospital besuchte. Zwei Wochen vorher hatte sein Vater ihm die Nachricht vom Tod der Mutter telegrafiert, und er hatte nicht zum Begräbnis reisen können, lag mit zerquetschter Schulter im Krankenhaus. »Mach einmal Ferien, ein wenig Skilaufen, Sonne, das tut dir gut!« Vom Skilaufen hatte Seeger schon seit Jahren geredet, dazu mußte er zwar nicht nach Europa fliegen, aber er hatte in all den vergangenen Jahren immer wieder davon geträumt, für einige Zeit (oder auch für ständig) in die Heimat zurückzukehren, die Sunklersche Werkstatt noch einmal zu sehen, und eine Gelegenheit wie diese kam vielleicht so bald nicht wieder. Er wollte nicht den alten Kumpels zeigen, wie gut es ihm nun gehe, zu was er es gebracht habe (was hatte er denn auch erreicht?), er wollte sie bloß alle wiedersehen, ihnen die Hand drücken und mit ihnen reden. Er hätte es sich leisten können, in einem besseren Hotel zu wohnen, aber am Rupertihof war er früher auf dem Weg zur Arbeit jeden Morgen und Abend vorbeigefahren, mit dem Fahrrad, später mit dem eigenen Motorrad, und alljährlich war dort zu Weihnachten die Betriebsfeier abgehalten worden. Er erwachte angekleidet auf dem Bett liegend und merkte, daß er zwei Stunden geschlafen hatte. Im kahlen Zimmer war es schon dämmerig. Das Genick schmerzte, er ging zum Waschbecken, befeuchtete sein Gesicht. Der Mund war trocken und die Lippen aufgesprungen, es verlangte ihn nach frischer Luft. Er duschte, zog sich an und ging dann die Treppe hinunter in die kleine Eingangshalle, wo ihm an der Rezeption der Portier den Paß entgegenhielt. Seeger stellte sich auf die Eingangsstufen. Nur ein paar Minuten war er von der Werkstatt entfernt. Er hatte sich vorgenommen, am nächsten Tag die Kollegen zu besuchen. Auf einmal kam ihm ein Gedanke, der ihn erschreckte: Was war, wenn es die Werkstatt gar nicht mehr gab? Daran hatte er noch nie gedacht. Er schlug die Richtung zur Sterneckgasse ein. Es war Sonntag, er konnte unbeobachtet einen Blick auf das Werkstattgebäude werfen. Etwas scheute er vor dem Wiedersehen mit den Arbeitskollegen zurück: Wie würden sie ihn empfangen, wie auf ihn reagieren? Vergebens suchte Seeger, als er die Vogelweiderstraße hinunterging, ein Haus, eine Häuserreihe, ein Straßenstück, einen Baum, etwas, das mit seiner Erinnerung übereinstimmte. Die Gegend hatte sich so verändert, daß sie ihm fremd vorkam. Als er in die Sterneckgasse einbiegen wollte, war da keine Gasse mehr. Aus dem schmalen Sandsträßchen – links begrenzt von den Gebüschen und Zäunen der Schrebergärten, rechts von der hohen Holzwand des Kohlenhändlers Stix – war eine breite Straße geworden, auf der der Verkehr dahinflutete; die Autos hatten bereits die Scheinwerfer eingeschaltet. An der Ecke befand sich eine Shell-Tankstelle, Seeger fragte sich, ob die zur Werkstatt gehörte. Wo früher die Schrebergärten begannen, eine grüne, wenn auch verwilderte Landschaft, waren jetzt Hochhäuser, Geschäfte, Plakatwände, parkende Autos. Neben der Tankstelle ein abgezäunter Gebrauchtwagenmarkt. Daran schloß sich der langgezogene Barackenbau der Autowerkstatt an. Die Sunklersche Werkstatt existierte also noch. Als er weitere zwanzig Schritte gegangen war, stand er vor dem Tor der Motorradwerkstatt. Es schien alles beim alten zu sein. Ob Sunkler noch lebte? Im oberen Stockwerk, über der Werkstatt, brannte kein Licht. Seeger mußte die Augen schließen, um sich vorstellen zu können, wie es früher hier ausgesehen hatte: der Hof, ihr Hof, in dem sie als Lehrlinge abends heimlich die ersten Fahrversuche unternommen hatten, der grobsandige Belag, die Buckel und die Schlaglöcher, die sich bei Regen in Pfützen verwandelt hatten. Er trat zu einem der Fenster und schaute in die Werkstatt. Es war finster drinnen, die Scheiben verdreckt, er konnte kaum etwas erkennen, aber es schien sich nicht viel verändert zu haben. Die fünf Arbeitsböcke standen noch am selben Platz, die »Eintauschfahrzeuge« links an der Wand, die Schleifmaschine auf dem hohen Sockel, ein halb aufgepumpter Fahrrad-Schlauch hing daran. Während er umkehrte, dachte er: Wenn die Mechaniker jetzt aus der Werkstattür kommen, mit einem Motorrad, dann stehen sie auf dem schmalen Gehsteig. Sie konnten nicht mehr wie zu Seegers Zeiten im Freien arbeiten. Damals waren während der Sommermonate Tag für Tag zwischen zwanzig und dreißig Maschinen im Hof gestanden, und die Lehrlinge mußten sie in der Früh aus der Werkstatt heraus- und abends nach dem Aufräumen wieder hineinschieben. Wieviele von den alten Kumpels mochten wohl noch arbeiten hier? Er konnte sich nicht vorstellen, daß sie alle auseinandergegangen waren. Monika fiel ihm ein, Sunklers Tochter. Wen sie wohl zum Mann genommen hatte? Sicherlich keinen Mechaniker. Sie hatte damals in Wien studiert. Wie sie sich alle aufgeführt hatten, wenn sie einmal in die Werkstatt kam, in den Ferien; wie sie versucht hatten, nach der Schrift zu reden, wie sie herumgealbert und ihr auf ihre Weise den Hof gemacht hatten. Und Gschwandtner, bei dessen Werkbank links vorne sie meistens stehenblieb, mit dem sie redete (Gschwandtner war kein so rauher Bursche wie Thaler, Resch oder Ennemoser, und er trug immer einen sauberen Arbeitsanzug), Gschwandtner wurde dann hinterher stundenlang gefoppt. Seeger mußte daran denken, wie er zum ersten Mal mit dem Fahrrad bei der Werkstatt vorgefahren war, zwei Wochen, ehe er dort sein Lehrlingsdasein begann. Vor der Motorradwerkstatt waren in einer langen Reihe Motorräder aufgestellt, an einigen Maschinen, die neben dem Eingang im Freien standen, wurde gearbeitet. Ein älterer Mechaniker hatte eine Maschine umgelegt und schweißte etwas am Rahmen. Aus dem Halbdunkel des Werkstattinneren schlängelten sich die beiden roten Schläuche des Schweißgeräts. Ein paar Motorradfahrer im Lederzeug waren herumgestanden, ein Mechaniker kam auf einer BMW aus der Werkstatt gerollt, legte den Gang ein und drehte auf, daß die sandige Erde unter dem Hinterrad nur so wegspritzte. Das Werkstattor war weit geöffnet. Seeger sah drinnen fünf oder sechs Männer arbeiten. Er war auf seinem Rad hocken geblieben, hatte die Mechaniker eine Weile beobachtet, war dann zur langgezogenen Baracke, der Autowerkstatt, vorgefahren. Auch hier waren die Kipptore geöffnet, drinnen sah er aber nur einen einzigen Mechaniker halb unter einem Wagen auf einem Brett liegen, und er hatte sich nicht getraut, hinzugehen und zu sagen, er sei der neue Lehrling, der am Ersten hier anfange. Am nächsten Tag schob Seeger den Gang zur Werkstatt immer wieder hinaus; erst um vier Uhr verließ er den Rupertihof und machte sich auf den Weg. Jetzt saßen sie wohl gerade alle im Gefolgschaftsraum und machten Brotzeit oder – es war ja Winter – spielten sogar Schnapsen oder Watten. Während er die Vogelweiderstraße hinunterging, dachte er an andere Wintertage, die er hier erlebt hatte, als der Schnee in hohen Wällen sich am Rand der Straße gestaut hatte. Er kam an der Esso-Tankstelle vorbei, an dem Elektro-Laden mit den...