Kanafani | Männer in der Sonne | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 95 Seiten

Reihe: Arabische Welten

Kanafani Männer in der Sonne

Roman aus Palästina
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-85787-927-2
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman aus Palästina

E-Book, Deutsch, 95 Seiten

Reihe: Arabische Welten

ISBN: 978-3-85787-927-2
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Drei Palästinenser wollen sich von einem vierten in einem leeren Wassertank aus dem Irak nach Kuweit schmuggeln lassen - weit weg von der "Hölle" der Flüchtlingslager und der Armut ins "Paradies" des aufstrebenden Ölstaates. An der Grenze wird der Fahrer wider Erwarten aufgehalten. Der durch die sengende Sonne inzwischen zum Dampfkochtopf aufgeheizte Wassertank droht zum elenden Grab der drei Männer zu werden.
Als die Palästinenser 1948 aus ihrer Heimat vertrieben wurden, verliessen sie diese mit gebeugtem Haupt. Und so verharrten sie jahrelang, unfähig, das Geschehene zu bewältigen. Erst Mitte der sechziger Jahre begannen sie sich zu wehren, im Handeln ihr Selbstbewusstsein wiederherzustellen.
Im Roman "Männer in der Sonne" schildert Ghassan Kanafani diese beiden Etappen palästinensischer Existenz: Lähmung und beginnende Selbstbesinnung; er beschreibt Palästinenser, die die Vertreibung ihres Volkes miterlebt haben und daran leiden.

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Abu Kais
Abu Kais lag da, die Brust auf die taufeuchte Erde gepresst, die unter ihm zu pulsieren begann: die Schläge eines müden Herzens, die zitternd jedes einzelne Sandkorn durchdrangen, dann durch die Zellen seines Herzens zogen. Immer wenn er sich auf die Erde warf, spürte er jenes feine Zittern; es war, als bahnte sich das Herz der Erde mit Gewalt einen Weg aus den tiefsten Tiefen der Hölle ans Licht. Als er das einmal seinem Nachbarn erzählte, dem Bauern, mit dem er sich dort den Boden geteilt hatte, den er vor zehn Jahren verlassen musste, meinte dieser spöttisch: »Das ist das Klopfen deines eigenen Herzens, das du immer dann spürst, wenn du die Brust auf die Erde drückst.« Was für ein törichtes Geschwätz. Woher kommt denn dann der Geruch? Dieser Geruch, der ihm um den Kopf wogte und ihm betäubend in die Adern drang. Immer wenn er so hingeworfen auf die Erde ihren Duft einsog, kam es ihm vor, als spürte er den Hauch, der dem Haar seiner Frau entströmte, wenn sie, mit frischem kaltem Wasser gewaschen, aus dem Bad kam. Es war derselbe Duft, der Duft einer Frau, die, mit kaltem Wasser gewaschen, ihm ihr Haar über das Gesicht breitete. Es war dasselbe Beben, als hielte man ein Vögelchen in weichen Händen. Die Feuchtigkeit der Erde, dachte er, rührt sicher vom gestrigen Regen her. Doch nein, gestern hatte es gar nicht geregnet. Der Himmel kann jetzt nur noch Hitze und Staub herabsenden. Hast du vergessen, wo du bist? Hast du das vergessen? Abu Kais drehte sich um. Er legte die Hände unter den Kopf und betrachtete den Himmel. Er war gleissend hell. Ein schwarzer Vogel kreiste dort oben, allein, ziellos. Er wusste nicht, warum ihn plötzlich ein bitteres Gefühl des Fremdseins überkam. Einen Augenblick fürchtete er, in Tränen auszubrechen. Nein, gestern hat es nicht geregnet. Wir haben jetzt August, hast du das vergessen? Jenen endlos scheinenden Weg in die Weite, hast du den vergessen? Der Vogel kreiste noch immer allein wie ein schwarzer Punkt in dieser endlosen Hitze. Wir haben August. Warum ist dann die Erde so feucht? Es ist der Schatt al-Arab. Siehst du ihn nicht vor dir, so weit dein Blick reicht? »Die beiden grossen Ströme Euphrat und Tigris bilden nach ihrem Zusammenfluss einen einzigen Strom, den Schatt al-Arab. Dieser erstreckt sich von etwas oberhalb Basras bis …« Herr Salîm, der hagere, weisshaarige alte Lehrer, wiederholte dies mit seiner Fistelstimme wohl zehnmal einem kleinen Jungen, der neben der schwarzen Tafel stand, als Abu Kais an der Dorfschule vorbeiging. Er stieg auf einen Stein und blickte verstohlen durch das Fenster. Herr Salîm stand vor dem Schüler und schrie, mit seinem dünnen Stock herumfuchtelnd, so laut er konnte: »Die beiden grossen Ströme Euphrat und Tigris bilden nach ihrem Zusammenfluss …« Der Junge zitterte angstvoll, während eine Unruhe durch die Klasse ging. Abu Kais streckte die Hand aus und tippte einem Kind auf den Kopf. Der Junge schaute zu ihm empor. »Was ist denn hier los?« fragte Abu Kais durchs Fenster. »Ein Dummkopf«, flüsterte der Junge feixend. Abu Kais stieg von dem Stein herab und ging weiter. Herr Salîms Stimme folgte ihm. »Die beiden grossen Ströme Euphrat und Tigris bilden nach ihrem Zusammenfluss …« Am selben Abend sah er Herrn Salîm beim Dorfschulzen sitzen, eine Wasserpfeife schmauchend. Man hatte ihn von Jaffa in das Dorf geschickt, damit er die Kinder unterrichtete. Schon lange Zeit seines Lebens hatte er als Lehrer gearbeitet; die Bezeichnung »Herr« war untrennbar mit seinem Namen verbunden. An jenem Abend beim Dorfschulzen fragte ihn jemand: »Du wirst doch sicherlich am nächsten Freitag das Gebet leiten?« »Nein, ich bin Lehrer, nicht Vorbeter«, antwortete Herr Salîm schlicht und einfach. »Und worin besteht der Unterschied?« wollte der Dorfschulze wissen. »Unser früherer Lehrer wirkte auch als Vorbeter.« »Er war Koranschullehrer, ich bin Grundschullehrer.« Der Dorfschulze liess nicht locker. »Worin besteht der Unterschied?« Herr Salîm antwortete nicht, sondern liess seinen Blick über die Gesichter gleiten, als suchte er Hilfe bei einem der Anwesenden. Aber alle waren verunsichert, auch der Dorfschulze. Nach einer langen Pause räusperte sich Herr Salîm und sagte ruhig: »Also gut, ich weiss aber nicht, wie man betet.« »Was? Du weisst nicht, wie man betet?« riefen alle erstaunt. »Nein, ich weiss es nicht«, bestätigte er. Die Anwesenden sahen einander befremdet an. Schliesslich blieben die Blicke am Dorfschulzen haften. Dieser spürte, dass es an ihm war, etwas zu sagen. Er überlegte nicht lang, sondern fragte geradeheraus: »Was kannst du dann?« Herr Salîm schien eine solche Frage erwartet zu haben. Er stand auf und antwortete, ohne zu zögern: »Vieles. Zum Beispiel gut schiessen.« Er ging zur Tür, drehte sich zurück, und als er sprach, bebten seine hageren Gesichtszüge: »Wenn sie euch angreifen, weckt mich. Vielleicht kann ich euch nützlich sein.« Das also ist der Schatt al-Arab, von dem Herr Salîm vor zehn Jahren gesprochen hatte. Und hier lag er nun, Tausende von Kilometern und Tagen von seinem Dorf und von Herrn Salîms Schule entfernt. Gott erbarme sich deiner, Herr Salîm! Sicher warst du sein besonderer Günstling, liess er dich doch in der Nacht sterben, bevor unser unglückliches Dorf den Juden in die Hände fiel …Eine einzige Nacht, o Gott! Gibt es eine grössere Gunst als diese? Gewiss, die Männer hatten anderes zu tun, als dich zu begraben und dir die letzte Ehre zu erweisen. Jedenfalls aber bist du dort geblieben … Dort bist du geblieben. Dir sind Erniedrigung, Elend und Schande im Alter erspart geblieben. Gott erbarme sich deiner, Herr Salîm! Und wenn du nun noch lebtest, in Armut versunken, genau wie ich? Hättest du auch das getan, was ich jetzt tue? Hättest du auch alle deine Lebensjahre geschultert und wärst durch die Wüste nach Kuwait geflohen, um dort dein Brot zu verdienen? Abu Kais stützte sich auf die Ellbogen und starrte wieder auf den grossen Strom, als hätte er ihn noch nie gesehen. Das also ist der Schatt al-Arab. »Ein grosser Strom, auf dem mit Datteln und Stroh beladene Schiffe dahinfahren wie Autos auf einer Strasse in der Stadt.« Das hatte ihm sein Sohn Kais rasch erklärt, als er ihn an jenem Abend examinierend nach dem Schatt al-Arab fragte. Kais hatte schnell und klar geantwortet und noch hinzugefügt: »Ich habe dich heute durchs Fenster ins Klassenzimmer schauen sehen.« Abu Kais hatte sich seiner Frau zugewandt, die lachte. Er schämte sich ein wenig und sagte langsam: »Das habe ich schon vorher gewusst …« »Nein, hast du nicht; das hast du erst heute erfahren, als du durchs Fenster geschaut hast.« »Meinetwegen, was macht das schon aus, ob ich’s wusste oder nicht. Geht deshalb die Welt unter?« Seine Frau blickte ihn von der Seite an und sagte: »Kais, geh und spiel im anderen Zimmer.« Als er die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, sagte sie zu ihrem Mann: »Sprich nicht so vor dem Jungen. Er freut sich darüber, dass er es weiss. Verdirb ihm nicht die Freude.« Abu Kais trat zu ihr, legte ihr die Hand auf den Bauch und flüsterte: »Wann ist es soweit?« »In sieben Monaten.« »Oh.« »Diesmal soll es ein Mädchen werden.« »Nein, ein Junge soll es sein, ein Junge!« Doch sie schenkte einem Mädchen das Leben, das er Husna nannte. Zwei Monate später starb es. »Es war ein äusserst schwächliches Kind«, meinte der Arzt achselzuckend. Das war einen Monat, nachdem sie ihr Dorf verlassen hatten – in einem alten Haus, in einem anderen Dorf, weit von der Kampflinie entfernt. »Abu Kais, ich spüre es, es wird nicht mehr lange dauern.« »Gut, gut, bleib ruhig!« »Ich wünschte«, murmelte er vor sich hin, »Schwangerschaften würden hundert Monate dauern. Ist jetzt etwa die Zeit, ein Kind zu kriegen?« »Oh, mein Gott.« »Was ist?« »Es ist soweit.« »Soll ich jemand rufen?« »Ja, Umm Umar.« »Wo finde ich die jetzt?« »Gib mir das Kissen …« »Wo finde ich Umm Umar?« »O Gott. Heb mich ein wenig hoch, damit ich mich gegen die Wand lehnen kann.« »Beweg dich nicht so viel; ich geh Umm Umar holen.« »O Gott im Himmel! Beeil dich!« Abu Kais rannte hinaus. Als er die Tür zugeschlagen hatte, hörte er das Schreien des Neugeborenen. Er kehrte um und legte sein Ohr an die Holztür … Vom Schatt al-Arab her rauschte es. Die Matrosen schrien laut. Der Himmel glühte. Der schwarze Vogel zog noch immer seine Kreise. Abu Kais stand auf, schüttelte den Staub ab und starrte hinüber zum Strom. Stärker als je zuvor spürte er, wie fremd und winzig er war. Er fuhr mit der Hand über die Stoppeln am Kinn und vertrieb die Gedanken, die sich in seinem Kopf drängten wie Ameisenheere. Gerade jenseits des Stromes, gar nicht weit, gab es alles, was er entbehren musste. Dort lag Kuwait. Dort würde alles, was bisher nur ein Traum war, Wirklichkeit. Ja, all das gab es dort, Häuser aus Stein, Erde, Wasser, Himmel, nicht so, wie seine müde Phantasie es ihm vorgaukelte. Sicherlich gab es Gassen dort, Strassen, Männer, Frauen, auch Kinder, die zwischen Bäumen umhersprangen … Nein, Bäume gibt es nicht in Kuwait! Sein Freund Saad, der dort als Fahrer gearbeitet hatte – er war mit Säcken voller Geld zurückgekommen –, hatte ihm ja erzählt, dass es dort keinen einzigen Baum gebe. Alles nur Hirngespinste deines alten, müden Kopfes, Abu Kais … Zehn knorrige Bäume hatten dort in...


Ghassan Kanafani, geboren 1936 in Akka (Palästina). Als Zwölfjähriger musste er mit seiner Familie 1948, während des ersten israelisch-arabischen Krieges, die Heimat verlassen. Als Flüchtling lebte er zunächst im Libanon, später in Damaskus und Kuweit. 1960 zog er nach Beirut, wo er als Journalist arbeitete. 1972 fiel Kanafani in Beirut einem Bombenattentat zum Opfer. Auf deutsch sind im Lenos Verlag erschienen: "Das Land der traurigen Orangen", "Bis wir zurückkehren", "Rückkehr nach Haifa", "Umm Saad" und "Was euch bleibt".



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