Kammerer | Wunderbare Mittsommernachtsgeschichten - | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Kammerer Wunderbare Mittsommernachtsgeschichten -

Maria Ernestam, Håkan Nesser, Anne B Ragde u.v.a.
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-641-09442-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Maria Ernestam, Håkan Nesser, Anne B Ragde u.v.a.

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-641-09442-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die besten Sommergeschichten aus dem Hohen Norden

Schlaflose Nächte und verträumte Tage: das ist es, was sich nicht nur Skandinavienreisende vom Urlaub wünschen. Aber nur im Hohen Norden wird im Sommer die Nacht zum Tag, geht die Sonne nie unter – Zeit für heimliche Morde und seltsame Gelüste, verborgene Triebe und mörderische Sehnsüchte. Hier sind sie, die besten Geschichten zu Mittsommer!
Kammerer Wunderbare Mittsommernachtsgeschichten - jetzt bestellen!

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Thomas Bannerhed


Der Flügel der Rohrdommel


Wir radelten nebeneinander, jeder von uns in seiner Reifenspur, wie ein richtiges Paar, aber es ergab sich längere Zeit nicht, dass wir etwas sagten. Vielleicht mussten wir auch nichts sagen, wenn um uns herum alles so still war. Die Bäume standen starr wie eine Ehrenformation am Wegesrand, die Melkmaschinen und Wasserpumpen surrten nicht mehr, und die Traktoren waren stehen geblieben. Hier und da lag Heu in Streifen und wartete darauf, zu Ballen geformt und eingefahren zu werden.

Es war die Zeit dafür.

»Riechst du das?«, sagte ich. »Das ist Geißblatt, es duftet nur abends.«

Wie leicht es trotz allem ging. Einfach etwas zu sagen.

»Tatsächlich?«

»Damit die Nachtfalter zu ihm finden. Die Schwärmer sind jetzt unterwegs. Sie sind die Einzigen, die mit ihren langen Saugrüsseln an den Nektar kommen.«

»Jetzt rieche ich es auch!«

»Man kann sich Höhlen bauen und in Geißblattbüschen wohnen.«

»Kann man?«

Das werden du und ich nämlich tun, hätte ich fast gesagt, aber ich hielt mich zurück. Es ist bestimmt der sicherste Weg, es am Anfang ruhig angehen zu lassen. Ein Teil von all dem, was drängte und hinauswollte, musste man sich schließlich für die Nacht aufsparen.

»Hast du eigentlich schon mal vom Sumpfrohrsänger gehört?«, fragte ich versuchsweise. »Er kann die Vögel nachahmen, mit denen er in Afrika zusammengelebt hat.«

Veronika bekam sich vor Lachen nicht mehr ein.

»Wie heißt der? Ich hab dir doch gesagt, dass ich von Vögeln keine Ahnung habe. Ich weiß ja kaum, wie eine Elster aussieht.«

»Ach ja, stimmt…«

Immer langsam mit den jungen Pferden. Eile mit Weile.

»Übrigens habe ich auch mal in Afrika gelebt«, sagte sie, als spielte es im Grunde keine Rolle. »Aber ich kann mich an kaum etwas erinnern. Das war, bevor ich in die Schule gekommen bin.«

»Du hast echt ganz schön viel erlebt«, schmeichelte ich ihr.

»Weiß nicht.«

Wurde sie nicht doch ein bisschen rot? Bekam ein wenig zusätzliche Farbe, weil ich das gesagt hatte?

»Dann gehst du nach den Ferien in unsere Schule?«, brachte ich heraus.

»Kann sein«, sagte sie unbeschwert. »Mal schauen. Ich würde viel lieber weiter in meine alte Klasse gehen.«

»Klar.«

»Ich hab hier doch gar keine Freunde.«

»Nein…«

Aber das lässt sich bestimmt schneller ändern als du denkst! Bald sitzen du und ich und kein anderer am Madsee, und ich zeige dir alles, was zu meinem Reich gehört.

Wir kamen an König Orres Eiche und der Abzweigung zu dem abseits gelegenen Häuschen des Wünschelrutengängers vorbei, bogen auf den alten Bahnwall, auf dem man die Schwellen entfernt hatte und ich hunderte Male mit dem Fernglas um den Hals und dem Vogelführer und einer Thermoskanne in der Schultertasche geradelt war.

Jetzt ist jetzt!, sprudelte es in mir. Gleich sind wir da, Veronika und ich sind unterwegs. Raus aus euren Nestern und Verstecken! Fliegt auf von euren Grassoden und Schlafzweigen und zeigt, was ihr könnt!

Fischadler tauche! – – –
Rotfußfalke rüttle! – – –
Bekassine wummere! – – –
Waldschnepfe pispere! – – –
Ziegenmelker schnurre! – – –
Großer Brachvogel flöte! – – –
Kleines Sumpfhuhn quecke! – – –
Waldkauz rufe! – – –
Wachtel balze! – – –
Nachtigall schluchze! – – –
Wasserralle quieke! – – –
Sumpfrohrsänger singe! – – –

Wir folgten der Feldmauer abwärts wie sonst auch, balancierten auf dem schmalen Steg durch die Sumpfwiese und nahmen Kurs auf den Birkenhügel, von wo aus man eine gute Aussicht hatte und auf dem man sitzen konnte, ohne nass zu werden. Die sinkende Sonne ließ die Fenster der Scheune am anderen Seeufer leuchten wie Kupfer.

Der Vogelturm war leer und das Ruderboot an Land gezogen. Kein Mensch zu sehen.

Ich breitete den Regenmantel über einem Stein aus und setzte mich. Die Böschung vor uns war schäumend weiß von Wiesenkerbel, die höckerigen Wiesen zum See hinunter übersät von gelben Schwertlilien. Ein paar schwärmende Eintagsfliegen fuhren auf und nieder durch die Luft, als hinge jede einzelne von ihnen an einer Schnur, mit der jemand spielte. Sie stiegen und sanken in einem fort, tanzten, so schnell sie nur konnten, um noch ein Weibchen anzulocken, ehe sie abwärts taumelten und zu Futter für andere wurden. Das Gegenteil der Kuckucke auf Erden: erschaffen, um sich fortzupflanzen und gefressen zu werden, nie selbst zu fressen.

Im selben Moment röhrte in dem Wäldchen ein Rehbock. Ein kräftiger, bellender Brunftschrei, der über das Seemurmeln hinaushallte.

»Fast wie ein Löwe«, zischte ich lockend.

»Findest du?«

Sie schaute gemessen zu den Schilfröhrichten in der Bucht Läviken und zum anderen Ufer hinüber und fragte sich wohl, ob dies alles war, ob hier möglicherweise auch wirklich etwas passieren würde. Ich versuchte tunlichst nicht zu der Stelle hinüberzuschielen, an der sie stand, aber das war leichter gesagt als getan. Ihre Augäpfel leuchteten im sanften Abendlicht wie Porzellan. Ihre Haare fielen in Wellen tief auf den Rücken hinab. Sie trug einen gestreiften Anorak mit Kapuze und die weißen Segelstiefel ihrer Mutter. An der Schläfe hatte sie sich eine Margerite mit einer ungeraden Zahl von Blütenblättern ins Haar gesteckt.

»Meinst du, dass wir hier bald auch mal was Spannendes erleben?«

Sie gähnte und setzte sich etwa dreißig Zentimeter entfernt hin. Zog die Knie an und lehnte sie x-beinig gegeneinander.

»Besser als heute könnte es jedenfalls nicht sein. Das Wetter ist perfekt, die Nachtsänger sind aus ihren Winterquartieren zurück, und Luft und See sind voller Futter.«

Und als hätte jemand mit den Fingern geschnippt, kamen die Stare zu ihrer allabendlichen Luftakrobatiknummer angeflogen, schlossen sich aus allen Richtungen herbeifliegend dem Haufen an, der sekündlich größer wurde. Schon wogte über dem See ein großer, flimmernder Schwarm hin und her, der dicht zusammenhielt, damit keiner herausfiel. Unablässig änderte er die Form – dehnte sich zu einem schmalen Band, zog sich zu einer Kugel zusammen und wurde wieder zu einem großen ovalen Ballon –, als wüsste jeder Star, wie er zu fliegen hatte, damit sie gemeinsam eine bestimmte Figur formten, oder als würden sie von einer unsichtbaren Kraft gelenkt. Dann war der richtige Augenblick gekommen, und der ganze Schwarm sauste kompakt herab über dem vergilbten Vorjahrsschilf, dicht herab und zusammen …

Irgendetwas stimmte nicht, war vielleicht eine Rohrweihe in Sicht?

Wieder zum Wald hinüber und zurück über den See, diesmal näher heran wie ein gigantischer Wimpel ohne Stange.

»Jetzt pass auf!«, flüsterte ich. »Pass auf!«

Spurlos im Schilf verschwunden. Nur zartes Rascheln, während sie die richtige Sitzstellung fanden – dann wurde es still. Nicht eine Rispe wankte. Tausend schlafende Stare.

»Als hätten sie es einstudiert«, sagte Veronika.

Ich nickte stolz.

»Und dabei waren es wahrscheinlich nur die Männchen«, setzte ich nach. »Was meinst du, was erst im September los sein wird.«

Weiter draußen, Richtung Gjusholmen, benannt nach den Fischadlern, wo die Sonne noch ihr Kupferglitzern auf dem See verbreitete, waren die Mauersegler unterwegs und kescherten mit aufgesperrten Schlünden Mücken und kurvten in einem rasenden Tempo, so dass einem schon schwindlig wurde, wenn man bloß mitzukommen versuchte. Ich reichte Veronika das Fernglas und deutete.

»In der Luft können sie einfach alles machen«, sagte ich, ohne dass sie gefragt hätte. »Sogar sich paaren und schlafen. Sie spannen die Flügel auf und gleiten wie im Halbschlaf dahin. In Australien haben sie noch nie einen Mauersegler auf dem Erdboden gesehen.«

Sie schloss ein Auge und versuchte, die Schärfe einzustellen.

»Ich sehe nichts«, sagte sie.

»Doch, doch!«

Als sich das Möwengeschrei gelegt hatte, kam endlich das wahre Nachtvogelorchester zur Geltung. Im Seggensumpf ging das kleinfleckige Sumpfhuhn und hielt den Takt, hinter uns saß die Nachtigall und flötete und schluchzte, dass es einem in den Ohren peitschte, der Schilfrohrsänger raspelte und schnarrte und pfiff, als hätte er sich in den Weidenbüschen vollends in Ekstase gesteigert. Die Bekassinen auf Freiersfüßen stürzten sich kopfüber aus dem Himmel und wummerten, was das Zeug hielt, die Haubentaucher gackerten, und die Kiebitze riefen schneidend und jammernd, irgendwo stand die Wasserralle und hämmerte ihren Takt hervor, ihr beharrliches kruieh, kruieh, kruieh, kruieh …

So ging es zu. Und hinzu kam alles andere, was fast wie ein bisschen nebenher geschah. Die Brachvögel, die ein paar trompetenden Kranichen weichen mussten, die in letzter Minute herangeflogen kamen, die Wühlmäuse im Tümpel, die schwammen, dass das Kielwasser hinter ihnen schäumte, getrieben von panischer Angst, dass die Wasserralle noch wach sein könnte, und hinter allem surrte das sanfte, eintönige Schnurren des Ziegenmelkers. Von Zeit zu Zeit erhob der Sumpfrohrsänger seine Stimme so, dass sich sogar die Nachtigall in ihrer Solistenrolle übertrumpft...



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