E-Book, Deutsch, 187 Seiten
Kaminski Die Erkenntnisse des Busfahrers
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-347-78265-5
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 187 Seiten
ISBN: 978-3-347-78265-5
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Martin Kaminski, Jahrgang 1968, lebt und arbeitet als Pastor, Hofbesitzer, Liedermacher und Autor. Er ist mit Michaela verheiratet und Vater von vier Nachkommen. Drei sind inzwischen mehr oder weniger erwachsen. Mit Worten jongliert er ganz gerne, obwohl er manchmal, wie er von sich selbst sagt, voll daneben liegt. Gedruckt gibt es von ihm bisher drei Erzählungen und zwei Andachtsbücher. Mit seinem Freund Markus Giersch, den er für den begnadetsten Maler aller Zeiten hält, hat er vier Bilderbücher herausgegeben. Seit dreißig Jahren bespielt er Gitarren und Klaviere - immer mit dem Gefühl "es nicht gut genug zu können". Wer keine Ahnung von Musik hat, gewinnt - je später der Abend - das Gefühl, er treffe manchmal die richtigen Saiten und Tasten. Liedtexte schreibt er auch bereits seit seiner Jugend. Martin Kaminski tritt regelmäßig in Kirchen und auf kleinen Bühnen auf. So kam es, dass seine Jüngste eines Tages sagte, er sei "berühmt". Eine Zeitung behauptete gar einmal, Martin Kaminski sei durch seine zahlreichen Auftritte und fünf CD-Produktionen einem "breiten Publikum bekannt" ... - Aufgetreten ist er schon vor 12 Zuhörern und vor 1200 - beides hat seinen Reiz, meint er. Er möchte von Gott erzählen. So wie es für ihn stimmig ist. Mit manchem ist er dadurch gut ins Gespräch gekommen. Aus der Kirche gejagt wurde er bisher nicht. Jünger haben sich ihm allerdings bis heute auch nicht angeschlossen ... Martin Kaminski bewohnt mit seiner Familie einen uralten Gulfhof in Ostfriesland. Hunde mag er nicht besonders, obwohl er zwei hat. Aber er mag große Tiere, von denen er auch welche hat ... - unter anderem seine Esel Anton und Fritz, das Pony Zippie, das Pony Hermann, die Schafe Lotte und Liese, die Ziege Leni, die Schweine Hanne und Lore, sowie Hasen, Katzen, Schildkröten... In schweren Stunden flüstert er den Eseln zu: "Ihr seid die einzigen, die mich verstehen!"
Autoren/Hrsg.
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Schulbegleiter
An einem strahlend schönen Dezembermorgen stand Berti vor dem Haus und betrachtete die leere Zeitungsrolle, in die sonst um diese Zeit immer von einem engagierten Jugendlichen das Käseblatt gestopft worden war. Berti dachte dann an die Zeit, in der er mit Nina, Nils und dem kleinen Niklas mit dem Bollerwagen umhergezogen war und sie hunderte von Käseblättern in hunderte von Zeitungsrollen gestopft hatten. "Eigentlich sollen die beiden das alleine machen!" hatte Nele regelmäßig mit einem Hauch Vorwurf in der Stimme gesagt. Aber das Austragen und der auf den Zeitungen sitzende Niklas machte Berti einfach zu viel Freude, als dass er den ganzen Spaß seinen Kindern überlassen hätte. Hier ein Schwätzchen und dort eine Tafel Schokolade von der einsamen Frau Rohde, die jeden Mittwoch auf das Käseblatt wartete, weil sie sich keine andere Zeitung leisten konnte.
Nach dem Ausscheiden aus dem Fahrdienst war Berti erstmal zuhause geblieben. Der Betriebsrat hatte gesagt, das Arbeitslosengeld sei eine Versicherungsleistung und es sei Bertis gutes Recht, nun erstmal zu überlegen, was er machen wolle. "Sehr witzig", hatte Berti gedacht. Als ginge es nur darum, was er machen WOLLE. Irgendetwas MUSSTE er ja machen, denn zwei von vier Nachkommen waren damals noch in der Ausbildung, Hering wollte sein Futter und die Heizkosten wurden nicht günstiger. So studierte er nach ein paar Wochen regelmäßig besagtes Käseblatt. Das hieß natürlich anders, aber der Volksmund nennt nun einmal Anzeigenblätter so, damals im Rheinland und mitunter auch hier in Ostfriesland. Nora, seine Älteste, hatte ihm darüber mal einen kleinen Vortrag gehalten. "Man bekommt sie ungefragt und das Verhältnis Werbung zu journalistisch verantworteten Beiträgen ist drei zu eins. Bei Tageszeitungen ist es mindestens umgekehrt." Berti war wirklich stolz auf diese vier so unterschiedlichen Nachkommen.
Eines Tages fand er seinerzeit eine Annonce, in der Schulbegleiter gesucht wurden. Es sei Fingerspitzengefühl gefragt und pädagogisches Geschick, allerdings keine weiteren Vorkenntnisse. "Das ist ja typisch", sagte Berti zu Nele. "Jeder Hanswurst wird heutzutage auf Kinder losgelassen." Nele runzelte die Stirn und sagte nur leise: "Manchmal ist ein Hanswurst der bessere Begleiter."
Berti fragte Nina, was sie davon hielte. Erst lachte sie: "Du? Echt jetzt? Ich kenne Deine Zeugnisse, Papa. Und alle Geschichten vom Um-Die-Schule-Laufen."
"So meinte ich das doch gar nicht", entgegnete Berti. "Nicht für mich. Ich frage für einen Freund." Nina wurde nachdenklich: "Wenn Dein Freund so drauf ist wie Du. Naja. Vielleicht wäre gerade dies ein Segen für manches Kind." Berti fand den Gedanken so abwegig, dass er sich selbst wunderte, wie dieser ihn gleichzeitig anzog. Nele, Nina und Berti recherchierten ausführlich, worum es bei der Schulbegleitung ging. Ein einzelnes Kind, welches intensive Betreuung brauchte, im Schulalltag begleiten. "Die Bezahlung ist genauso erbärmlich wie bei den Stadtwerken", sagte Nina. "Passt also zu Dir!"
Berti meldete sich bei einem Kurs für ungelernte Schulbegleiter bei einem öffentlich anerkannten Träger der Erwachsenenbildung an. Wieder so eine Bezeichnung, die bei Berti gleichzeitig Fremdheitsgefühle und Minderwertigkeitskomplexe auslöste. Er war damals vom Gymnasium geflogen, weil er dort nicht mehr um die Schule rennen durfte und es viele verschiedene Lehrer gab, deren Namen sich Berti nicht merken konnte. Es gab keine Schulbegleiter, wohl aber einen strengen Psychologen, der Berti irgendwelche Tropfen aufschreiben wollte, damit er besser stillsitzen kann. "Kommt nicht in Frage", hatte Bertis Vater gesagt. Der war zwar selten nüchtern, aber im Grunde kein schlechter Kerl. Er wollte keine Beruhigungsmittel für seinen Jungen. Vielleicht weil er selbst dem Beruhigungsmittel Alkohol so chancenlos ausgeliefert war. Berti kam auf die Hauptschule, schaffte irgendwie einen Abschluss und war Meister darin, den wenigen auf Krawall gebürsteten Mitschülern aus dem Weg zu gehen. Wohl aber lernte er die vielen Stillen kennen. Manchmal staunte er über zaghaft aufblitzende Talente in einer Projektwoche oder beim Vorlesen. Und er fragte sich schon damals, ob es richtig sei, dass Kinder schon in verschiedene Schulformen gesteckt werden, bevor sie 11 Jahre alt waren. Zwei seiner vier waren daher auf Gesamtschulen gegangen. Zwei seiner vier hatten Abitur gemacht. Zwei seiner vier waren ihren Weg auch ohne die Hochschulreife gegangen.
Meistens war Nele zu Elternabenden gegangen. Berti bekam in Schulgebäuden Beklemmungen. Und zum Erreichen der Schulabschlüsse hatte Berti seiner Meinung nach absolut nichts beigetragen. Das hatten die Nachkommen ganz alleine geschafft.
Die Dozentin im Kurs zur Schulbegleitung war noch sehr jung. Zuerst fragte sich Berti, ob sie nicht sogar ein wenig zu jung war. Nach den immerhin vier Wochen Unterricht von Montag bis Freitag war er dann aber anderer Meinung. Wie ein Mantra wiederholte sie jeden Tag und nach jeder Stunde drei Punkte:
Sehen Sie das Kind an.
Sehen Sie sich selbst an.
Fragen Sie: Was ist jetzt dran?
Und dann solle man das Mögliche prüfen. Und dann gegebenenfalls tun oder eben auch lassen. Und ganz oft einfach nur dabeibleiben und nicht aufgeben. Natürlich lernten sie auch viel über Regeln, Auffälligkeiten, Störungen, Rechte, Pflichten und das Schulsystem. Und ganz wichtig sei ein guter Draht zum Lehrkörper (wieder so ein Wort!).
Und dann? Dann machte Berti das was seine Familie geraten hatte. Er probierte es aus. Keiner hatte gesagt "Musst Du selber wissen" oder "Wenn Du mich fragst" - einfach nur: "Probiere es aus."
Der erste Tag war zunächst der blanke Horror. Vor dem Gebäude bekam Berti eine Art Panikattacke. Er wurde zum Glück nicht sofort auf ein Kind losgelassen, sondern sollte vier Wochen hospitieren. Das klang zwar nach Krankenhaus, gemeint war aber einfach zuschauen. Berti wurde Lotte zugeordnet. Sie war nach der Kinderpause nicht mehr in den Beruf der Bürokauffrau zurückgekehrt, weil sie lieber "mit Menschen arbeiten" wollte. Im Büro arbeitete man offensichtlich mehr mit Bildschirmen. Lotte hatte Bock. Das sagte sie in jedem dritten Satz. Vielleicht war das ihr Mantra. Sie begleitete einen siebenjährigen Zappelphilipp, der Jonas hieß. Zappeljonas war ein unterhaltsamer Bursche. Er plapperte ständig dazwischen, hatte nur die Hälfte seiner Sachen dabei und machte sich etwa einmal pro Woche kurz vor der letzten Stunde in die Hose, weil er Angst vor der Schultoilette hatte. Lotte hatte eine Engelsgeduld mit ihm und manchmal hatte Berti den Eindruck, ihr Job bestünde vor allem darin, den sehr engagierten jungen Klassenlehrer von Jonas abzulenken, damit der Lehrkörper nicht ständig mitbekam, dass Jonas mit seinen Gedanken überall war, nur nicht im Klassenzimmer. Am Ende der letzten Stunde brachten Lotte und er Jonas zum Taxi. Im Bus mitfahren ging nicht, weil Jonas immer vergaß auszusteigen und bei zwei der vier gemeisterten Busfahrten nach 10 Minuten in eine Schlägerei verwickelt war. Beim letzten Mal hatte ihn ein sehr junger Busfahrer deshalb rausgeworfen. Vorher hatte er ihn mit den Worten "Bist Du behindert?" angeschrien. Diesen Ausruf kannte Berti aus seiner eigenen Zeit als Busfahrer, aus dem Schülerverkehr. Wenn alle, die das schon einmal gefragt worden sind, wirklich eine Behinderung hätten, gäbe es ein großes Inklusionsproblem. Inklusion war auch ein Stichwort, das Berti in seinem Kurs gelernt hatte. "Die redliche Absicht, sehr verschiedene Menschen unter einen Hut oder in ein Boot zu bringen." So hatte es die Dozentin erklärt.
Am zweiten Tag der vierwöchigen Hospitation war Lotte krank und Berti allein mit Jonas. Dieser Umstand traf ihn vollkommen unvorbereitet, aber er hatte ja sein Mantra:
Sehen Sie das Kind an.
Sehen Sie sich selbst an.
Fragen Sie: Was ist jetzt dran?
So schaute Berti in der ersten Stunde Jonas dabei zu, wie dieser versuchte, den Kopf nicht auf dem Tisch abzulegen. Er schien unglaublich müde zu sein. "Hast Du schlecht geschlafen", fragte Berti. "Nö", sagte Jonas. Und dann "Zwei Pillen." Später stellte sich heraus, dass Jonas in seiner Pflegefamilie schon mal einfach die doppelte Dosis des verordneten Medikaments bekam, wenn er abends keine Ruhe geben konnte. Dann war er morgens platt und lag auf dem Tisch. Nach der großen Pause war Jonas wieder der Alte. Er klopfte auf den Tisch, kippelte mit dem Stuhl und schaffte wieder die Aufgabe des Ausmalens von Zahlen ganz und gar nicht. Zählen war sowieso nicht seine Stärke. Berti sah Jonas an. Berti sah sich an und dachte an früher. Dann fragte er sich, was jetzt dran sei. In der kleinen Pause ging er zum Klassenlehrer und fragte: "Denken Sie, ich könnte mit Jonas eine Runde um den Block gehen? Ich könnte irgendetwas mit ihm zählen. Nur so ein Gedanke." Der Lehrer schaute Berti verwundert an. Dann sagte er: "Gute Idee, Berti, machen Sie das. Zahlenraum bis 50. Das mache ich dann so lange mit den anderen. Was dann geschah, war so eine Art Erfolgserlebnis. Berti rannte erstmal mit Jonas zehn Minuten kreuz und quer über den Schulhof. Dann zählten Sie Bänke, Papierkörbe, Kastenwagen, Zigarettenstummel...